Mühlentorweg mit angrenzendem Bereich

von Klaus Holzer

Straßen ermöglichen Mobilität, müssen also Orientierung geben. Daher erhalten sie Namen. Innerorts führt die Kirchstraße zur Kirche, die Schulstraße zur Schule, die Schlachthofstraße zum Schlachthof usw. Straßen in die Nachbarorte heißen Westicker ~, Unnaer ~, Werner ~, Lünener ~ oder Hammer Straße usw. Und für die große Orientierung tun es auch Himmelsrichtungen: Ost~, Nord~ und Weststraße. Es fällt aber auf, daß Kamen keine Südstraße hat, keine Südenmauer, kein Südtor1 hatte. Hier war der Bezugspunkt immer die schon seit dem 13. Jh. belegte Mühle – Mühlen waren so wichtig, daß ihre Zerstörung die härteste Strafe nach sich zog, gleich nach der Kirchenschändung, wie Eike von Repgow im Sachsenspiegel (Anf. 13. Jh.) darlegt –, der Kamen wohl auch das Kammrad in seinem Stadtwappen verdankt: die Mühlenstraße (vom Markt bis zur Maibrücke) führte durchs Mühlentor1 zum Hellweg.

Das hätte doch gereicht, oder? Jedoch gibt es heute auch einen Mühlentorweg in Kamen. Wie verhält es sich damit? Auch hier muß man wieder ein wenig ausholen, den Mühlentorweg in den richtigen Zusammenhang bringen.

Mühlentorweg, das klingt alt, doch trägt er diesen Namen erst seit dem 14. Okt. 1975, vorher hieß er Mühlenweg, doch gibt es auch diesen erst seit den 1930er Jahren. Immerhin ist der Bezug auf das Mühlentor oder auch die Mühle völlig gerechtfertigt, beginnt dieser Weg doch direkt an der Mühle, die bis 1973 an dieser Stelle stand, und gleich daneben stand bis 1820/22 das Mühlentor, dort, wo heute Klosterstraße und Ostenmauer zusammentreffen. 

Abb. 1: Eine frühe Darstellung des Mühlentors

Wirft man einmal einen Blick auf alte Kamener Stadtpläne, z.B. den Urkatasterplan von 1827, wird schnell klar, warum dieses Sträßchen nicht sehr alt sein kann. Kamen war seit dem 13. Jh. eine sehr stark befestigte Stadt. Vor allem im Süden dürfte sie so gut wie uneinnehmbar gewesen sein. Wer sich ihr aus dieser Richtung näherte, hatte zunächst die Seseke vor sich, dahinter einen Wall mit Palisaden und einen Stadtgraben und die ganze Kombination gleich noch einmal, gefolgt von der 16 Fuß (ca. 5 m) hohen und 3 Fuß (gut 90 cm) breiten Stadtmauer, zwischen der Maibrücke und der heutigen Koppelstraße, dem ältesten Teil der Stadt, der schon auf das 11. Jh. zurückgeht. Hier hatte man die Seseke schon früh begradigt, hier stand das erste Stadttor, das Langebrüggentor. Hier hatte man möglicherweise auch mit dem Bau der Stadtmauer angefangen, und dann wahrscheinlich in westlicher und östlicher Richtung gleichzeitig gebaut2.

Abb. 2: Teilstück des Urkatasters von 1827

Da die Kamener Ackerbürger waren, jeder Bürger also sein eigenes kleines Stückchen Land vor der Stadtmauer zur Eigenbewirtschaftung hatte, jeder sehr sparsam war, wurden natürlich selbst  die Streifen Land auf den Wällen nicht verschenkt, auch sie wurden bewirtschaftet, lagen sie doch direkt im Schatten der Mauer und waren somit durchaus geschützt.

So legte man hier schon früh einen Weg an, der von den Gerbern benutzt wurde. Gerben war ein sehr langwieriger Prozeß. Die Gerber brauchten viel, am besten fließendes, Wasser, um ihre Felle zu reinigen, zu „schrubben“. Ihr Schrubbhagen lag damals allerdings an einem Stadtgraben, der an zwei Stellen weiter westlich über Verbindungskanäle von der Seseke mit Wasser versorgt wurde. Fleisch–, Fett– und Haarreste mußten mit dem Scherdegen auf dem Scherbaum abgeschabt werden. Das stank nach faulem Fleisch und saurer Lohe. Daher mußte immer wieder mit viel Wasser gespült werden. Ein alter Gerberspruch dazu lautete:

In des Leders Werdegang

ist die Hauptsach’ der Gestank.

Kalk, Alaun, Mehl und Arsen 

machen’s gar recht weiß und schön. 

Eigelb, Pinkel, Hundeschiete 

geben ihm besond’re Güte.

Drum bleibt stets ein Hochgenuß 

auf den Handschuh zart ein Kuß.

Abb. 3: Ein Gerber bei der Arbeit

Das den Gerbern gehörende Lohhaus lag auf dem ersten stadtseitigen Wall, direkt hinter der Stadtmauer. Dort stand auch ein Brauhaus auf der Ecke Mühlenstraße/ Klosterstraße (wo heute das Gebäude der Volksbank an der Bahnhofstraße steht). Hoffentlich hatte dieses einen eigenen Brunnen mit sauberem Wasser!

Von der Maibrücke aus in östlicher Richtung gab es zwar zwischen der Seseke und der Stadtmauer nur einen Wall und einen Graben, doch war eine feindliche Eroberung auch hier ziemlich aussichtslos. Bis zum 30-jährigen Krieg blieb Kamen vermutlich unbehelligt, aber vielleicht war es inzwischen auch so arm geworden, daß niemand es erobern wollte.

Erst das 17. Jh. mit seinen neuartigen Kanonen ließ Mauer und Graben obsolet werden. Folglich litt die Stadt in diesem Krieg sehr unter Einquartierungen, Kontributionen und Plünderungen durch brandenburgische, hessische, pfalz-neuburgische, spanische und französische Truppen. Die Lage war so schlimm, daß die Stadt Kamen am Ende des Krieges fast kein Eigentum mehr besaß, weil alles verpfändet worden war, sonst wäre sie, weil sie keine Kontributionen zu zahlen in der Lage war, mit Sicherheit vollständig zerstört worden. Was dann allerdings ein großes Feuer im Jahre 1646 dennoch besorgte.

Abb. 4: Palisade

Es ist offenkundig, daß auf Stadtgräben und Wällen kein Weg, keine Straße verlaufen kann. Aber als diese Befestigungen nunmehr nutzlos geworden waren, verfielen sie. Die Gräben verschlammten, die Wälle verflachten, die Stadtmauer diente als stadtnaher Steinbruch. Also brach man ihre Reste zwischen 1820 und 1822 ab, „zur Verschönerung der Stadt“, wie der erste Kamener Stadtchronist, Friedrich Buschmann, 1841 schreibt, trug die Wälle ab und schüttete die Gräben zu, planierte den ganzen Streifen. So gewann man ein ansehnliches Stück Land hinzu, das man neu nutzen konnte. Nach einigen Jahren Ruhezeit, in denen die Verfüllungen sich setzen konnten (wer genau hinschaut, sieht noch heute, daß das Gelände außerhalb der Ostenmauer deutlich abfällt), begann man 1827 damit, es mit kleinen Handwerkerhäusern zu bebauen. Als Fundamente dienten die Stadtmauer und der dahinterliegende ehemalige Wall, so ließen sich nur traufenständige Häuser bauen, die genau dem Verlauf der ehemaligen Stadtmauer folgen.

Jetzt stand also auch der Platz für den neuen Weg zur Verfügung, wenngleich noch keine Notwendigkeit dafür gegeben war, war doch das Mersch, Überlaufgebiet des Flusses, völlig unbebaut. Hier legten nur die Leineweber ihr kostbares Produkt auf die Bleiche. Und die Seseke war ja hier nicht ein begradigter Flußlauf, sondern immer noch ein mäandrierender Flachlandfluß, der weite Gebiete regelmäßig mehrmals im Jahr überschwemmte. Erst als in den 1920er Jahren die Regulierung  und die damit einhergehende Begradigung der Seseke die Bändigung des Flusses verhießen, wurde auf dem Stück zwischen Mühle/Mühlenkolk im Westen und der südöstlichen Ecke der ehemaligen Stadtmauer bei der heutigen Ängelholmer Brücke Bauland ausgewiesen. Dort war bis Ende der 1920er Jahre eine Holzbrücke, dann bis 1969 eine Eisenbrücke mit Betonelementen, danach wurde die heutige Brücke errichtet, seit 2013 heißt sie Ängelholmer Brücke.

Dieses Bauland gehörte in die vom 1925 nach Kamen gekommenen Stadtbaurat Gustav Reich vorgenommene Überplanung der alten Stadt Kamen. Die ersten hier entstandenen Häuser waren das damalige Bürgermeisterhaus Hindenburgdamm2 Nr. 10, sowie die Häuser Hindenburgdamm Nr. 9 und Hindenburgdamm Nr. 7. Erst danach wurde auch der Mühlenweg bebaut. Das Haus Mühlenweg 1 entstand 1936. Der Zahnarzt Dr. Elger, der bisher in den Räumen des Hauses Bahnhofstraße 49 neben dem Photoladen Ernst Braß’ praktiziert hatte, ließ sich von Gustav Reich überzeugen, daß hier der ideale Bauplatz für sein Haus war. Wenige Jahre zuvor war die Seseke-Regulierung abgeschlossen worden, Hochwasser war damit nach damaligem Kenntnisstand nicht mehr zu erwarten. Dann entwickelte sich die Bebauung in Richtung Osten. Erst Mitte der 1950er Jahre entstanden die letzten Häuser am östlichen Ende, noch später die Fortsetzung des Mühlentorwegs über die Ostenallee hinaus3.

Abb. 5: Die alte Seseke mit der neuen Synagoge im Hintergrund (zwischen den Pappeln), 1937

Direkt nach der Begradigung pflanzte man am Sesekedamm die Ahornbäume, deren sechs durch den Sturm Friederike am 18. Januar 2018 irreparabel beschädigt und am 21. März 2018 gefällt wurden. Am Mühlenweg sieht man die Handschrift von Gustav Reich: an vielen Stellen, so auch hier, wurden schnellwachsende Pappeln gepflanzt (vgl. Abb. 5), die nach dem Krieg durch Buchen ersetzt wurden, und man muß sagen, die Bäume sind prächtig anzusehen, doch wissen die Anwohner auch ein anderes Lied zu singen. Zum einen werfen sie eine Menge Laub ab, was aber gravierender ist, ist der Licht– und Sonnenmangel ausgerechnet in den Sommermonaten, da die Baumreihe die ganze Südseite abdeckt. Doch läßt sich das vielleicht jetzt besser ertragen, da der Fluß revitalisiert ist. Er enthält nur noch Reinwasser statt stark durch Fäkalien verunreinigtes Schmutzwasser, das während sommerlicher Trockenperioden nicht mehr bestialisch stinkt. Seitdem hat die Wohnqualität deutlich zugenommen: ruhig, grün, stadtnah.

Abb. 6: Heutiger Baumbestand

KH

Bildquellen: Abb. 1 & 5: Stadtarchiv Kamen; Abb. 2: Archiv Klaus Holzer; Abb. 3: Balthasar-Behem-Kodex,  Krakau 1505; Abb. 4: Museumsdorf Düppel; Berlin-Zehlendorf; Abb. 6: Photo Klaus Holzer

Fußnoten:

1  Allerdings wird als Lagebeschreibung beim Verkauf einer Rente aus Ländereien am 2. Sept. 1395 ein Stück „landes … gelegen syn suden vor der porten voer Camene“ angegeben, also gewissermaßen vor dem „Südtor“. Das Mühlentor wird hingegen schon zum ersten Mal am 4. Dez. 1368 erwähnt. Die beiden dürften also identisch sein.

Alle Burgmannshöfe waren von Abgaben befreit, mußten dafür aber bestimmte Dienste erbringen. Das Mühlentor wurde vom Hanenhof, nach der Eigentümerfamilie von Hane genannt, geschützt, an den heute noch der Hanenpatt erinnert. Sein Burglehen in Kamen war „vor der mollenporten gelegen“, wie es 1499 in einer Urkunde heißt.

2 Heute Sesekedamm

3  Bis Ende der 1920er Jahre Holzbrücke, dann bis 1969 Eisenbrücke mit Betonelementen, danach die heutige Brücke, seit 2013 Ängelholmer Brücke.

Die heutige Ostenallee war damals ein unbefestigter Weg, hatte auf einer Seite einen ehemaligen Stadtgraben, auf der anderen wild wachsende Weißdornbüsche, mehrere Meter hoch. Wenn sie im Winter vom Schnee beladen heruntergedrückt wurden, erschien dieser Weg als Hohlweg. Er hatte keinen Namen, wurde aber inoffiziell von vielen Schwarzer Weg genannt.

Laut Ratsbeschluß vom 22.3.1956 wurde ein Verbindungsweg gebaut zwischen Ostenmauer, der Fußgängerbrücke über die Seseke (heute: Beeskower Brücke) und dem Sesekedamm zur Mozartstraße.