Kamener Straßennamen: Bahnhofstraße

von Klaus Holzer

An sich ist klar, wo der Name herkommt: die Bahnhofstraße verbindet die Stadt mit dem Bahnhof. Und daher kann der Name auch noch nicht richtig alt sein, denn der erste reguläre Zug, damals die Eisenbahn, fuhr am 2. Mai 1847 durch Kamen. Und das Kamener Bahnhofsgebäude, übrigens nach einem Entwurf im Musterbuch des preußischen Oberbaumeisters Karl-Friedrich Schinkel gebaut, weswegen es auch unter Denkmalschutz steht, entstand erst in den 1850er Jahren, ganz klar ist das Jahr der Eröffnung nicht.

Abb. 1: Das Bahnhofsgebäude, Anfang der 1850er Jahre gebaut nach dem Entwurf in einem Musterbuch von Karl-Friedrich Schinkel

Wenn es uns heute so vorkommt, als ob Bahnhöfe (fast) immer in den Stadtzentren angelegt wurden, so täuscht der Eindruck. Anders als ihre Vorläufer, die Poststationen, wurden Bahnhöfe generell weit außerhalb der Städte angelegt, zum einen, weil Fernverbindungen möglichst ökonomische, daher gerade Strecken verlangen, zum anderen, weil die Grundstücke außerhalb billiger waren. Dann wuchsen die Städte auf die Bahnhöfe zu und schlossen sie ein.

Das obere Stück der Bahnhofstraße, vom Markt bis zur Maibrücke, hieß 1423 im Volksmund (amtliche Straßennamen gibt es erst seit 1885) Mühlenstraße, weil an ihrem Ende, an der Seseke und dem aus ihr gespeisten Mühlenkolk, die Kamener Mühle stand (der das Kamener Stadtwappen wahrscheinlich auch das Kammrad verdankt). Die südliche Fortsetzung hieß schon 1792 Mühlen-Steinweg (den Namen gibt es übrigens heute noch, auch wenn er in keinem Straßenverzeichnis auftaucht: es ist der kleine Weg an den GSW vorbei in Richtung auf das Dr.-Nüsken-Gelände), offenbar war er also zu dieser Zeit schon gepflastert. 1794 wurde die Weiterführung als Chaussee nach Unna gebaut.

Ursprünglich war die wichtigste Nord-Südverbindung in Kamen die über die Sesekefurt durch das Wünnen- oder Langebrüggentor, die aber im Laufe des 16./17. Jh. durch die Verbindung durch das Mühlentor ersetzt wurde. Diese hatte sich durchgesetzt, weil sie den direkten Zugang zum Hellweg bot, der damals wichtigsten Handelsstraße zwischen Brügge an der Nordsee und dem Baltikum. Zu Beginn war sie wohl, wie alle Wege, nur ein unbefestigter Weg mit zwei Spuren, von den Wagen ausgefahren, bei trockenem Wetter staubig, bei Regen matschig. Dennoch wurde sie so gut genutzt, daß die Stadt, um ein reibungsloses Ein– und Ausreisen der zahlreichen Kaufleute zu erreichen, dem Stadttor noch ein Homey angliederte, eine Art Vortor, um dort die sogenannte Akzisezu kassieren, eine Steuer auf Waren. Das Wünnentor wurde folgerichtig um 1660 abgebrochen oder zugemauert (der Stadtchronist Pröbsting ist sich da nicht ganz sicher). Und der rege Verkehr hatte auch noch einen zweiten Grund: die Kamener Wochenmärkte waren attraktiv. Hier konnte man Waren kaufen und verkaufen, die Kunden strömten herbei, Läden gab es nicht. Also wurde die Straße umgebaut, als erste in Kamen gepflastert. Pflasterung war etwas besonderes, das drückte sich im Namen aus: jetzt hieß sie Steinweg, das war kürzer als Mühlen-Steinweg, und die Pflasterung das Besondere.

Die Bedeutung des Steinwegs nahm weiter zu, als 1847 die Eisenbahn Kamen „einen Hafen an einem der bedeutsamsten Ströme Europas“ verschaffte (Pröbsting). Und das müssen auch die Kamener gespürt haben. Am Bahnhof begann die Industrialisierung Kamens. Schon 1865 wurde hier das Kamener Gaswerk gebaut, weitere Industrie siedelte sich hier an: Jellinghaus, Winter, Wönkhaus, Fischer, Vohwinkel, Klein & Söhne, die Schuhfabriken von der Heide und Henter. Und die Zeche wäre ohne die neue Transportmöglichkeit kaum so rasant gewachsen. Schließlich wurden am Bahnhof auch eine Molkerei (1891) und ein Schlachthof (1895) gebaut.

Und weil sich damit das Leben in der damals noch agrarisch geprägten Ackerbürgerstadt grundlegend veränderte – Wohnen und Arbeiten wurden getrennt; das rasante Wachstum der Bevölkerungszahl erlaubte es auch nicht mehr, alle Arbeiter direkt vor den Fabriktoren wohnen zu lassen – bedurfte es eines funktionierenden öffentlichen Personennahverkehrs.

Abb. 2: Blick von Photo Holzer in Richtung Maibrücke, vermutlich 1930er Jahre. Die Straßenbahn war vonAnfang elektrisch und fuhr bis Dezember 1950 zwischen Unna und Werne.

Ab 1909 fuhr die Kleinbahn UKW (Unna – Kamen – Werne) zunächst von Unna nach Bergkamen, ab 1911 über Rünthe weiter nach Werne, insgesamt 14 km. In Kamen fuhr die Straßenbahn,

Abb. 3: Die Glück-auf-Schranke Anfang der 1970er Jahre.

nachdem sie die Eisenbahn überquert hatte, den Bahnhof an, dann durch die Bahnhofstraße, deren Pflaster jetzt Bahnschienen erhielt, über den Markt, durch den „Geist”, scharf nach links in die Weststraße (so scharf, daß sie oft in der Kurve aus den Schienen sprang, gelegentlich auch bis ins Schaufenster der Drogerei Klinkmann dort auf der Ecke. Dann wurde sie unter großem Beifall mit Hilfe von Eisenstangen wieder in die Gleise gehievt), ganz hindurch bis zum Depot an der Lüner Straße, durch die Bambergstraße auf den Nordberg in Bergkamen, über die Werner Straße zum Bergkamener Bahnhof, danach durch Rünthe nach Werne.

Abb. 3a: Blick von der Maibrücke in Richtung auf den Markt, vermutlich 1950er Jahre; hier entstand Kamens erstes bürgerliches Steinhaus

Um 1880 erhielt die Bahnhofstraße ihren heutigen Namen. Und alle diejenigen, die das Hereinbrechen der neuen Zeit als Chance begriffen, auch für sich selber etwas Neues zu beginnen, bauten an der Bahnhofstraße neue, prächtige, große Villen . Hier lag die Zukunft, da wollte man dabei sein. Wie attraktiv diese Aussicht war, zeigt der Fall des damaligen Bürgermeisters Heinrich Weber, der ein Grundstück samt Baugenehmigung am Markt an die Familie Markus verkaufte und lieber an die Bahnhofstraße zog2.  Heute stehen zehn von ihnen unter Denkmalschutz. Hier entstand 1895/96 das neue Amtsgericht, nachdem sich das 2. OG im (alten) Rathaus, seit 1878 Amtsgericht, als zu klein erwiesen hatte. Hier errichtete die Reichspost ein neues Postgebäude (1901). In diesen Jahren gab es ein malerisches Nebeneinander von modernen Jugendstilvillen und dem einen oder anderen übriggebliebenen Ackerbürgerhaus, z.B. Haus Nr. 16.

Abb. 4: Das Ackerbürgerhaus links ist heute die Anwaltskanzlei Weskamp. Das Photo entstand um 1900.

Anfang April 1945 spielte die Bahnhofstraße wieder eine Rolle, als amerikanische Panzer in langer Kolonne, unter lautem Grollen ihrer Motoren und Rasseln ihrer Ketten, über die Bahnhofstraße in die Stadt rollten. Wir Kinder hockten auf den Fensterbänken, hinter den Gardinen, und beobachteten fasziniert, was vor sich ging, wohl ohne zu begreifen, was es bedeutete.

Abb. 5: Kaum noch vorstellbar: ein Schäfer treibt Anfang der 1960er Jahre seine Schafherde durch die Bahnhofstraße. Hier Ecke Bahnhof–, Koppel– und Schlachthofstraße, heute Westicker Straße.

Jahre später, als die nach dem Kriegsende zusammengebrochene Versorgung wieder funktionierte, kam täglich Herr Biermann aus Overberge mit seinem Pferdewagen durch die Bahnhofstraße. In einem Edelstahltank brachte er frische Milch aus der Kamener Molkerei. Und aus allen Häusern kamen die Kunden und ließen sich ihre Menge Milch abzapfen und in mitgebrachte Kannen füllen. Und wir Kinder wunderten uns, wieso ein Biermann Milch brachte.

Und die Gegenwart bringt erneut eine zeitgemäße Veränderung. Die autogerechte Stadt, das Ideal der Nachkriegsjahre, ist überholt. Der Mensch ist wieder in den Mittelpunkt der Gestaltung der Städte getreten, Anwohner– und Fußgängerbereiche werden ausgebaut. Die Bahnhofstraße wird wieder umgebaut, für den Durchgangs– und Lastwagenverkehr gesperrt. Das Rathaus wird an die Innenstadt angebunden, mit ihm auch der Bahnhof. Zur Erinnerung an die Straßenbahn wird eine Schiene im neuen Pflaster verlegt, die zweite durch die Pflasterung angedeutet, was von vielen Radlern als Radweg mißverstanden wird. Wir haben heute zwar fast alle Autos und können jedes Ziel erreichen, doch wird der öffentliche Personennahverkehr bald wieder die Rolle spielen, die er vor 100 Jahren hatte. Ein Rückschritt, der gleichzeitig ein Fortschritt ist, abzulesen an der Bahnhofstraße. Jede Zeit bewerkstelligt den für sie richtigen Umbau. Wie lange wird der jetzige halten?

Anmerkungen:

1 Das Stift Cappenberg konnte ursprünglich akzisefrei durch die Stadt zum Kappenberger Hof fahren. Als Gegenleistung erhielten die Kamener Baumstämme aus dem Cappenberger Forst, damit die Stadt die durch Hochwasser versumpften Straßen an der Mühlenstraße und zum Markt hin befestigen konnten. Die Reformation beendete diesen Brauch.

2 BM Heinrich Weber verkaufte Mitte der 1830er Jahre sein Grundstück samt Baugenehmigung am Markt an die Fam. Markus, die ein gutgehendes Aussteuergeschäft am Markt 10 betrieb und zog lieber zur Bahnhofstraße, wo er den Fortschritt sah. BM Weber ließ sich 1836 Kamens erstes bürgerliches Steinhaus bauen, das Haus Bahnhofstraße 55. Und weil es in Kamen niemanden gab, der ein Steinhaus bauen konnte, ließ er extra Facharbeiter aus Lothringen kommen.: er war eben „steinreich“.

Abbildungen:

Abb. 1: Photo: Klaus Holzer

Abb. 2, 3, 3a & 5: Archiv Klaus Holzer

Abb. 4: Ein Ackerbürgerhaus, ca. 1905, heute neben der Hochstraßenauffahrt; aus: Kamen in alten Ansichten, Zaltbommel, 1976

KH

Kamener Straßennamen: Am Geist

am-geistvon Klaus Holzer

Es gibt Leute, die meinen, daß es sich um ein kleines Stückchen Land handelt, etwas höher gelegen, wenn man vom Fluß in die Stadtmitte, auf den Markt ging, (es gab damals nur den einen, daher brauchte man das Attribut „alter“ nicht). Ein kleines Stück eher unfruchtbares Land, das von der Seseke nicht regelmäßig überflutet wurde und daher „Geest“ hieß (aus niederdeutsch gēst = trocken, unfruchtbar). Das soll der Ursprung des Straßennamens „Am Geist“ sein. Und als Beleg führen sie an, daß es gleich hinter der Seseke, ein wenig südöstlich, eine Straße namens „Mersch“, früher „In der Mersch“ gibt, eine Bezeichnung, die immer eine Niederung bedeutet, die regelmäßig vom Meer oder einem Fluß überschwemmt wird. (Marsch oder Mersch aus germ. *mariska = zum Meer (Wasser) gehörig, vgl.a. lat. mare = das Meer).

Vermutlich aber haben diejenigen recht, die eine ganz andere Deutung vorziehen. Ein Heilig-Geist-Hospital wurde in Kamen vor 1359 gegründet, das erste und jahrhundertelang einzige Armen– und Siechenhaus der Stadt. Arm und krank, das gehörte offenbar nicht nur im Mittelalter zusammen. Nach 1648, nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs, wurde es nicht mehr genutzt und verfiel vollständig. Erst 1717 wurden die Trümmerreste entfernt. Schon 1662 war das neue Hospital erbaut worden, 1865 gründlich renoviert. Das stand dann bis in die 1930er Jahre, als es baufällig war und dem Möbelhaus Reimer Platz machen mußte.

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Abb. 1: Das alte Heilig-Geist-Hospital, in den 1930er Jahren abgerissen

Im Laufe des 15. und 16. Jh. wurden dem Armenhaus zahlreiche Grundstücke und Renten, d.h., Stiftungen von Geld, überschrieben. Im Kamener Urkataster von 1827 heißt das Gelände zwischen dem Norden– oder Viehtor und Ostentor „Auf (auch: An) den Geistgärten“. Es umfaßt heute das Gebiet Gartenstadt und Kastanienallee etwa bis zur Friedhofstraße. Und die „Renten“ waren ausreichend für die Versorgung von durchschnittlich 16 Armen, in manchen Jahren, so z.B. 1729, blieben gar noch 40 Taler am Jahresende übrig.

Zur Zeit der Gründung dieses Spitals fingen Kamener Kaufleute an, sich mit anderen Kaufleuten zusammenzutun, wenn sie ihre Waren in anderen Städten und Ländern anbieten wollten und heuerten Bewaffnete zu ihrem Schutz an. Solch eine Gruppe nannte sich „Hanse“. Daraus entwickelte sich zuerst die Kaufmannshanse, die später, als Lübeck die Führung übernommen hatte, zu einem richtigen Bund, der Städtehanse wurde. Und auch Kamener Kaufleute bereisten weite Teile Europas, von London über Brügge und Bergen übers Baltikum bis nach Nowgorod. Doch wo sollten sie auf ihren weiten Reisen übernachten? Ein ausgebautes Hotelsystem gab es nicht. Da boten sich Armenhäuser und Hospitäler (aus lat. hospēs = Gastfreund, Wirt) geradezu an. Die Kaufleute verdienten gut und wollten für Dienstleistungen bezahlen. Die Armen und Kranken boten diese Dienstleistungen an, z.B. Tiere füttern, tränken, pflegen und verdienten sich so ein wenig Geld.

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Abb. 2: Das erste “Kamener Kreuz”

Das Kamener Heilig-Geist-Hospital lag verkehrsmäßig außerordentlich günstig, so wie Kamen heute noch, nämlich am ersten „Kamener Kreuz“: dort, wo (die heutige) Ost–, West– und Nordstraße zusammenlaufen und ein kleines Stück Straße zum Markt, über ihn hinweg in die Mühlenstraße durchs Mühlentor zum Hellweg führte, dem damals wichtigsten Handelsweg in unserer Region. Seit den 1240er Jahren war Kamen Stadt mit allen Rechten und konnte daher drei Wochen– und zwei Jahrmärkte abhalten. Zu diesen Märkten strömten Händler, Kaufleute und Bauern, eben alle, die etwas verkaufen wollten. Und nach der Einführung des ersten „ÖPNV“ – Kamen wurde schon im 18. Jh. von einem mehr oder weniger regelmäßigen Postkutschendienst angefahren – entstand in der Oststraße eine Pferdewechselstation, im Photo gleich hinter der Kurve, auf der linken Seite.

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Abb. 3: Blick in die Ostraße; hinter der Kurve stand die Pferdewechselstation, auf der linken Seite

Aber nicht nur wegen des Heilig-Geist-Hospitals ist „Am Geist“ bemerkenswert. Am Ausgang vom Markt in den „Geist“ standen bis etwa 1910 das Wohnhaus der Familie von Mulert, einer prominenten Kamener Familie, deren hohe Gruft noch auf dem alten Kamener Friedhof bewundert werden kann und das Verlagshaus Velting an der Ecke, wo heute die große Platane auf dem Parkplatz steht.

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Abb. 4: Blick von der Einmündung der Güldentröge in Richtung Markt

Diese Familie von Mulert stammte aus Holland und war recht begütert. Irgendwann kam sie nach Kamen und besaß auch hier viel Land, z.B. die o.e. „Geistgärten“ und weiteres Areal. Der Baron war sehr freigebig, aber auch sehr verschwenderisch. Er brachte fast das gesamte Vermögen der Familie durch. Seine zwei ihn überlebenden Schwestern, beide kinderlos und unverheiratet, vermachten dann das gesamte noch vorhandene Restvermögen der Stadt Kamen gegen eine lebenslange Rente. So hatte die Stadt genügend Land, um die Wohnbebauung im Osten, außerhalb der Stadtmauern fortzusetzen (vgl.a. den Artikel über Gustav Reich unter „Kamener Köpfe“).

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Abb. 5: Kamener Urkataster; die Geistgärten befinden sich im Nordosten

Nachtrag:

Das Haus Am Geist 6 erscheint heute eher ziemlich baufällig. Man ahnt aber noch, daß es einmal ein sehr schönes, altes Fachwerkhaus war, eines der Sorte „Kamener Ackerbürgerhaus“, das unter Denkmalschutz steht. Es stammt aus dem 17. Jahrhundert. Vor kurzem wurde es zusammen mit den beiden Häusern Nr. 4 & 5 von einem Investor erworben, der hier eine Neubebauung plant. Hoffen wir, daß Nr. 6 in erkennbarer Form stehenbleibt, denn es hat eine Geschichte, die eng mit den 1950er und 60er Jahren in Kamen verwoben ist.

In den 1960er Jahren hatte Kamen überall im Ruhrgebiet (damals wohl eher noch der „Kohlenpott“) zu Recht den Beinamen „Die sündige Stadt“. An Wochenenden war die ganze Stadt voller Autos, darunter viele der gehobenen Klasse, mit Nummernschildern bis aus Köln und Düsseldorf. Damals war in diesem Haus eines der führenden Lokale der Kamener Nachtszene beheimatet, das „Haus Kajak“. Es war eines der wenigen Häuser, die nicht dem Kamener Kneipenkönig Willi Neff gehörten. Kajak Junior gefiel sich darin, in einem Mercedes 600 („Adenauer-Mercedes“) Cabriolet durch Kamen zu fahren, immer mit mindestens einem hübschen Mädchen neben sich.

Polizeistunde gab es hier nicht. Bis sechs Uhr morgens war regelmäßig Betrieb, die Bude rammelvoll, der Bierumsatz phänomenal. Besonderen Ruf erwarb „Kajak“ sich, als ein Pferd als Vehikel für Striptease eingesetzt wurde. Da zog sich dann eine junge Frau unter erheblichen Verrenkungen auf diesem Tier aus, das natürlich nicht immer ruhig hielt. Ständig war sie in Gefahr, herunterzufallen. Das ganze fand im ersten Stock statt! Und wenn man alten Kamenern zuhört, waren zumindest die Männer damals alle im Lokal, und sie grinsen heute noch wissend, wenn der Name fällt. „Die hatten damals ein Pferd dadrin.“ Und jeder schwört, dabei gewesen zu sein.

 

Abb. 1: Fred Kaspar, Kamen in alten Ansichten, Nr. 69

Abb. 2 & 5: nach Heinz Stoob, Westfälischer Städteatlas, Kamen, Dortmund 1975; Abb. 2: bearbeitet von Klaus Holzer

Abb. 3: Archiv Klaus Holzer

Abb. 4: Fred Kaspar, Kamen in alten Ansichten, Nr. 44

KH

Die Lutherkassette des KKK – ab sofort erhältlich

Bisher 12 erfolgreiche Zeitzeichen des KKK, oft volles Haus. Zum Lutherjahr glaubte man, sich auf dieses Thema stürzen zu müssen. Aber dann zeigte sich, daß jede Kirchengemeinde, die VHS, jeder Verein und jede andere Gruppierung dieselbe Idee hatte und schneller war, und es wurde klar, daß es nicht noch einen Vortrag zum Thema „Luther“ geben konnte. Alles war da: Luther, der Reformator. Der Übersetzer der Bibel. Ein, vielleicht der, Schöpfer der deutschen Sprache. Luther und die Obrigkeit. Luther und die Juden. Luther und die Türken. Luther und Hexen. Luther und …. Und natürlich Vorträge all derer, die ein Denkmal von seinem Sockel holen wollen.

Es sollte und es mußte also ein besonderer Beitrag zum Lutherjahr werden. Und es ist einer geworden. Einzigartig. Unverwechselbar.

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13 Künstlerinnen und Künstler haben sich mit Martin Luther beschäftigt, aber nicht mit der Person des Reformators usw., sondern jeder von ihnen hat eins der vielen Lutherzitate gewählt und seine ganz persönliche Interpretation  in künstlerischer Darstellung zum Ausdruck gebracht.  Und jeder von ihnen wendet seine eigene Technik an: Tuschezeichnung, Federzeichnung, Collage, Siebdruck, Gipsdruck, Acrylmalerei, Computerzeichnung, Photographik ….

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Neben den 13 graphischen Blättern umfaßt das Kompendium ein Vorwort, einen konzisen Artikel über Martin Luther und sein Wirken sowie das Impressum mit Angaben über die beteiligten Künstlerinnen und Künstler. Und das alles kommt in einer eigens für diese Graphikmappe maßgefertigten Holzkassette mit farbig bedrucktem Deckel.
Alle Beteiligten opferten den 2. Adventssonntag und kamen, manche von weit her, in der Druckerei Kemna in Kamen zusammen und signierten die Graphiken. Zum Schluß mußten fast 1000 Blätter sortiert und in der richtigen Reihenfolge in die Kassetten gelegt werden. Deckel drauf. Einpacken. Kennblatt aufkleben. Fertig.

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Ein großes Dankeschön geht auch an die Druckerei Kemna in Kamen, die den Druck besorgte und für die große Qualität zu loben ist. Und daß Sabine und Klaus Heckmann auch noch den ganzen Nachmittag in ihrer Firma verbrachten und den KKK tatkräftig unterstützten und alle Anwesenden mit Kaffee und Keksen versorgten, zeigt, daß sie auch persönlich Anteil am Erfolg der Aktion nehmen.

Jetzt hofft der KKK, die Auflage von 50 Stück zum Preis von € 150,00 pro Kassette zu verkaufen. Sie ist erhältlich bei:

Klaus und Thea Holzer vom Kultur Kreis Kamen, Bahnhofstr. 50, 59174 Kamen. Nach telefonischer Absprache: Tel. 02307-797419

 

Klaus Holzer

PS: In drei Wochen ist Weihnachten. Diese Kassette ist ein wunderbares Geschenk.

„Rotwein ist für alte Knaben eine von den besten Gaben.“ Das 12. Zeitzeichen des KKK.

von Klaus Holzer

1-guenter-trunz-beim-vortragAbb. 1: Günter Trunz beim Vortrag



Zum zweiten Mal in diesem Jahr landete der KKK einen Volltreffer. Schon das 11. Zeitzeichen im Frühjahr 2016 (Martin Litzinger über das KZ Schönhausen in Bergkamen) brachte ein volles Haus. Und beim 12. ZZ am 24.11.2016 wurde auch noch der letzte Stuhl aus dem Magazin geholt und im Vortragsraum des Museums aufgestellt. Und das Kommen lohnte sich.

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Abb. 2: Wilhelm Busch

Der Lüdinghausener Rezitator Günter Trunz zog sein Publikum gleich in die Welt des Wilhelm Busch. Durch seine lebendige Art des Vortrags, oft mit leichter Hand vorgetragen, Busch angemessen, unterhielt er es blendend. Er brachte es dazu, mitzumachen: „Dieses war der erste Streich …“, begann er, und das Publikum skandierte: „… und der zweite folgt sogleich.“ Und jeder kannte auch noch: „Und die Moral von der Geschicht: …“.So wurde jedem unmittelbar klar, wie einprägsam Buschs Sprache ist. Auch wenn wohl kaum jemand Buschs Verse in letzter Zeit gelesen hatte, was aus Kinderzeiten im Gedächtnis geblieben war, zeigte sich an den vielen Stellen, wo Mitsprechen verlangt war.

Psychologisch geschickt (Trunz ist u.a. studierter Psychologe) unterbrach sich der Rezitator bei längeren Geschichten immer wieder und streute Erklärungen ein: Woher kommt das lautmalerische „ricke racke“? (Von der Exzenterwelle, die den Einfülltrichter in der Mühle hin und her bewegt.) Warum spielen Rotwein und Tabak bei Busch eine so große Rolle? (Busch war beiden sehr zugetan, mußte sogar zweimal wegen Nikotinvergiftung im Krankenhaus behandelt werden. Sie waren also unmittelbarer Teil seiner Lebenswirklichkeit.) Und auf diese Weise wurde zum einen die lange Geschichte in überschaubare Blöcke aufgeteilt, und zum anderen deutlich, daß bestimmte Elemente der Handlung direkt auf Lebensumstände Buschs zurückzuführen sind. So wirkten die Pointen manchmal doppelt scharf, trafen umso härter. Dann gab es Lachen und Szenenapplaus.

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Abb. 3: aus „Hans Huckebein”

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Abb. 4: aus „Die fromme Helene”

„Hans Huckebein“ in seiner Boshaftigkeit und die „Fromme Helene“ in ihrer bigotten Frömmigkeit begeisterten keinen Deut weniger als „Max und Moritz“, sind in ihrer Treffsicherheit der Karikatur viel stärker an Erwachsene gerichtet. Und „Das Bad am Samstagabend“ wird allen Eltern von zwei fast gleichaltrigen Kindern aus eigener Erinnerung bekannt sein: „Und die Moral von der Geschicht/Bad zwei in einer Wanne nicht.“ Wie Busch mit ganz wenigen Strichen Gesichter zeichnet, wie ein richtig gesetzter Bogen den Ausdruck verändert, von schüchtern und fromm bis dreist und kühn, wie  die statische Zeichnung in der explodierenden Piepe reine Bewegung wird – es war ein Genuß, dieses großformatig auf der Leinwand zu sehen.

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Abb. 5: Originalblatt des Anfangs von „Max und Moritz”

Immer wieder gab es Abbildungen und Photographien, die die Bildergeschichten in einen äußeren Kontext stellten: ein Photo der Villa Kessler, die für Wilhelm Busch während seiner Frankfurter Zeit von Bedeutung war; eins der Mühle in Ebergötzen, in der der junge Wilhelm zeitweilig wohnte, und die dem Vater seines engsten Freundes Erich Bachmann gehörte. Diese Mühle mit dem drumherum liegenden Dorf war der Schauplatz, auf dem die beiden Buben ihre Streiche verübten, die zum Vorbild für „Max & Moritz“ wurden. Oder einige Abbildungen von Originalblättern zum „Max & Moritz“, die im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover zu bewundern sind.

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Abb. 6: Die letzte Szene aus „Das Bad am Samstagabend”

In einer kleinen begleitenden Ausstellung zeigte Trunz, wie sehr Wilhelm Busch auch ein Markenzeichen (geworden) ist, wie sehr er geehrt wird. Es gibt Münzen und Medaillen mit seinem Konterfei (z.B. eine 10,00 Euro-Münze in Deutschland), aber auch mit seinen bekanntesten Schöpfungen geschmückt; es gibt Briefmarken mit Wilhelm-Busch-Motiven der Deutschen Post, Wein, auf dessen Etikett Max und Moritz prangen. Da bleibt es auch nicht aus, daß Wilhelm Busch zu dem benutzt wurde (und wird), was man Merchandising nennt: Bettwäsche aus der DDR mit Max und Moritz und anderen Motiven; Bierkrüge, Krawatten u.a. Und ein Jurist hat sich scherzhaft-ernsthaft mit den Streichen der beiden Lausbuben beschäftigt: Was für Straftaten stellen ihre Streiche und die Reaktionen der anderen Beteiligten dar? Diebstahl? Raub? Körperverletzung? Mord?

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Abb. 7: Der junge Wilhelm Busch, Selbstprorträt

Eigentlich hatte Wilhelm Busch ein ernsthafter Maler werden wollen – er reiste extra nach Antwerpen, um die flämischen Maler des „Goldenen Zeitalters“ zu studieren – doch fand er nicht die Beachtung, die er verdient. Angesichts des Erfolgs seiner Bildergeschichten ist das erklärlich, erfand er doch hier ein ganz neues Genre, den Vorläufer des Zeichentrickfilms wie auch des Comics. Allerdings ist seine Sprache viel raffinierter als die der modernen Weiterentwicklungen. Doch liegt in dem Erfolg seiner Bildergeschichten auch die Tragik des Fast-Scheiterns als Maler.

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Abb. 8: „Herbstwald”

In den zwei Pausen bot der KKK, passend zum Motto des Abends, den Museumswein und Knabbereien an. Lang dauerte der Abend, und doch nicht lang genug. Stürmisch forderte das Publikum eine Zugabe. Und die gab es auch: „Max und Moritz“ in der Sprache des Ruhrgebiets, der künstlichen Jürgen von Mangers wie auch der echten, die tatsächlich gesprochen wird. Oder vielleicht gesprochen wurde? Alle lachten Tränen und wollten noch mehr. Aber soll man nicht aufhören, wenn’s am schönsten ist?

 

Bildquellen:

Abb. 1: Photo Klaus Holzer

Abb. 2 – 6 & 8: zeno.org

Abb. 7: aus Wilhelm Busch, Und die Moral von der Geschicht, Gütersloh, o.J.

KH

27. Oktober 1956 – 27. Oktober 2016 – 60 Jahre Kamener Kreuz – Eine Hommage

von Klaus Holzer

Der Mensch ist ein mobiles Wesen. Per pedes mußte er sich als Sammler und Jäger an einen neuen Ort aufmachen, wenn es am alten kein Wild und keine Beeren mehr gab. Er domestizierte das Pferd und wurde noch mobiler. Er brauchte kein ausgebautes Straßensystem, Mensch wie Pferd waren geländegängig. Flüsse wurden ebenfalls seit Jahrtausenden genutzt. Daß vor allem seefahrende Völker das Meer als Reise– und Transportroute nutzten, versteht sich von selbst.

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Abb. 1: Binnenschiffahrt, 1531

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Abb. 2: Phönikier mit seetüchtigem Boot

Der persische König Dareius d. Gr. war es, der als erster richtige Straßen bauen ließ, im 5. Jh v.Chr. Er hatte das persische Großreich aufgebaut und mußte es nun militärisch sichern, und seine Kriege gegen Griechenland hätte er ohne Straßen auch nicht führen können. Um seine Truppen mit ihren Streitwagen schnell in alle Ecken und Winkel seines Reichs verlegen zu können, brauchte er die entsprechende Infrastruktur. Er verband dabei gleich alle wichtigen Städte, Handelsniederlassungen und Häfen miteinander, und sein Reich blühte.

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Abb. 3: Die Seidenstraße

Nachfolger wurde im Osten die Seidenstraße, die nachweislich von 115 v.Chr. bis ins Mittelalter die wesentliche Landverbindung zwischen Mittelmeer, Mittelasien und Ostasien darstellte. Hier wurde besonders deutlich, daß Straßen immer auch mehr sind als nur gepflasterte Wege, die schnelles Vorankommen ermöglichen. Ja, es läßt sich durch sie leichter Krieg führen, zerstören und töten. Aber zugleich reisen auf ihnen auch Kaufleute und Gelehrte. Sie bringen mit sich Waren, fremde Kulturen, Ideen, z.B. Religionen. So konnten sich das Christentum und der Buddhismus im Osten ausbreiten.1 Und daß die Römer geniale Ingenieure waren, ist noch heute vielerorts zu bestaunen, Zentralheizung, Viadukte und Straßen, die gewölbt waren, damit das Regenwasser leicht abfließen konnte. Auf ihnen wurden Waren und Legionen transportiert. Und da Rom zentralistisch organisiert war, ist die Metapher durchaus auch wörtlich zu nehmen: Alle Wege führen nach Rom.

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Abb. 4: Straßennetz im römischen Reich

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Abb. 5: Alle Wege führen nach Rom

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Abb. 6: Die Via Appia, nach 2000 Jahren noch intakt

Nördlich der Alpen gab es außer den von den Römern angelegten Straßen bis ins Mittelalter hinein kaum befestigte Wege. Am 25. Dezember 800 AD ließ sich Karl d.Gr. zum Kaiser des ersten gesamteuropäischen Reichs krönen. Um sein Reich verwalten zu können, ließ er Pfalzen und Reichshöfe im Abstand von Tagesritten bauen, und er brauchte befestigte Wege, um sie zu erreichen.

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Abb. 7: Das mittelalterliche System der „via regia”

Damit sie passierbar blieben, verpflichtete er die Anrainer seiner Heerstraße (via regia, auch via regis2), sie in Breite und Höhe den Erfordernissen seiner bewaffneten Reiter anzupassen, sie „hell“ zu schneiden (vgl. „Hellweg“). Natürlich wurden diese Straßen von jedermann benutzt, erlaubten sie doch schnelles Reisen und Unterkunft in regelmäßigen Abständen. Hinzu kam, daß Karl überall christliche Kirchen errichten ließ, vorzugsweise auf ehemaligen heidnischen Opferstätten. Um diese herum siedelten sich Menschen an, eine Burg, die weitere Menschen, Handwerker vor allem, nach sich zog. Ohne Straßen also auch keine Städte.

In Kamen (und anderswo) kam noch etwas hinzu, das die Errichtung einer frühen Siedlung höchst attraktiv machte: die Sesekefurt, die eine „natürliche“ Nord-Südroute ermöglichte. An dieser Stelle entstand schnell eine kleine Ansiedlung, und da hier ein immer wichtiger werdender Weg entstand, der zudem Einnahmen verhieß, entstand hier schon vor 1100 die Grafenburg derer von der Mark, gleich danach die St. Severinskirche als ecclesia propria (Eigenkirche des Grafen), beide stark befestigt, die somit Schutz boten und weitere Menschen anzogen. Mit der Stadtwerdung etwa um 1240 konnte Kamen Wochen– und Jahrmärkte abhalten. Diese zogen natürlich Händler von überall her an, so daß als Ergänzung zur Nord-Südroute sich selbstverständlich eine Ost-Westroute entwickelte. Schon ganz früh entstand so das erste Kamener Kreuz, das heute noch stadtplanprägend ist: Nord–, Ost– und Weststraße stoßen aufeinander, nach Süden ergänzt durch „Am Geist“, diagonal über den Markt, durch die Bahnhofstraße aus der Altstadt hinaus zum Hellweg führend.

Da auch der Handel zwischen den verschiedenen Regionen zunahm – im 12. Jh. entstanden vermehrt Städte, die Märkte abhielten, in die mehr und mehr Menschen zogen, die wiederum Kaufleute anzogen, die Hanse entstand – brauchte man Wagen, von Pferden gezogen, um größere Mengen über weitere Strecken transportieren zu können. Aber Wagen blieben in unwegsamem Gelände stecken, die Hansekaufleute drangen auf Befestigung von Wegen, sonst hätten sie kaum Lieferungen planen können. Es entstand eine Infrastruktur, die den Beginn der Moderne ermöglichte: z.B. die Alte Salzstraße zwischen Lüneburg und Lübeck zu Lande, ergänzt durch den Stecknitz-Kanal3; die Hansestraße von Lübeck nach Lüneburg, von dort nach Magdeburg mit Anschluß an die Elbe (denn Wassertransport war sicherer und billiger, weil einfacher), Erfurt (sie kreuzte dort die via regia) und weiter nach Nürnberg, Augsburg, über die Alpen nach Italien; die Via imperii (Reichsstraße): eine Handelsstraße, die aus Italien über Franken/Schwaben (Nürnberg, Augsburg, Ulm) über Mitteldeutschland in die Mark Brandenburg und weiter in den Hanseraum/das Baltikum führte und in Leipzig4 die via regia kreuzte.

Der endgültige Schub, eine Verkehrs-Infrastruktur zu erschaffen, kam in Deutschland Mitte des 19. Jh. durch die Industrielle Revolution. Der Transport von immer größeren Mengen über immer weitere Strecken erzwang den Ausbau von Straßen, Flüsse wurden durch ein Kanalsystem ergänzt, z.T., vor allem in Westfalen durch die Preußen, auch ersetzt (z.B. die Lippe). Gerade vorher hatte der Eisenbahnbau eingesetzt, Deutschland wurde von einem immer dichter werdenden Netz von Schienen überzogen, anders als in Frankreich wegen der kleinteiligen politischen Struktur stark dezentralisiert (weswegen hierzulande auch heute noch keine so schnellen Zugverbindungen wie dort möglich sind). Die Schiffe wurden größer, die Erfindung des Automobils ermöglichte eine immer effektivere Nutzung dieser Straßen. Auto und Lastkraftwagen wurden größer, stärker und schneller, die riesigen Entfernungen im Deutschen Reich schmolzen, doch das Fahren auf Landstraßen blieb mühevoll und zeitraubend. Von Königsberg in der äußersten Nordostecke des Deutschen Reiches bis nach Aachen, Stuttgart oder München waren es knapp unter 1.500 km, eine Fahrt mit dem Lkw, der oft zwei, manchmal gar drei Anhänger hatte, dauerte dann drei bis vier Tage, unterbrochen von nur wenigen, und dann kurzen Pausen. Rasthäuser gab es nicht, geschlafen wurde im Fahrzeug, gegessen ebenfalls. Eine solche Fahrt war ein Abenteuer der härtesten Sorte, ein Achsbruch war jederzeit möglich, das Abrutschen in einen Graben ebenfalls. Und der örtliche Verkehr mit Pferd und Wagen sorgte für weitere Probleme. Und was hieß das: befestigte Straße? Im besten Fall „Katzenköpfe“, rutschig und holprig.

Da gründete sich am 6. November 1926 ein privater Verein, die HaFraBa: Hansestädte-Frankfurt-Basel. Die Gründungsidee: eine reine Autoverbindung von den norddeutschen Hansestädten für die 880 km bis nach Basel zu bauen.

Ein Modell gab es schon: die Avus in Berlin. „Avus“ stand für Automobil-Verkehrs-Uebungsstraße. Sie wurde 1913 geplant, nach längerer Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg erst 1921 als gebührenpflichtige Straße für den Autoverkehr freigegeben. Da nur wenige Leute, Reiche, überhaupt ein Automobil besaßen und überdies eine Gebühr verlangt wurde, war die Avus grundsätzlich ein Projekt für die Reichen, Modernen und Eleganten, den Jetset der 1920er Jahre. Hier konnten sie sich austoben, ihrer Leidenschaft für das Automobil, die neueste Errungenschaft der Technik, frönen. Und da diese Straße ohne Ampeln und Kreuzungen auskam, wurde sie schnell zur ersten Rennstrecke Deutschlands.

Die HaFraBa gab ab 1928 eine Zeitschrift heraus, „Die Autobahn“, analog zu „Eisenbahn“, und schuf für die neue Art von Straßen damit auch gleich die Bezeichnung, die sich durchsetzen sollte. Damit ist deutlich, daß die Nationalsozialisten auch in dieser Sache mit Lug und Trug operierten, die Autobahn ist eben keine Erfindung Hitlers, wie sie behaupteten. Übrigens auch keine deutsche: die erste reine Autostraße verband Mailand mit den lombardischen Seen. Die erste deutsche Autobahn war die  zwischen Bonn und Köln, die heutige A 555. Die Planungen begannen Mitte der 1920er Jahre, während der Zeit der Weimarer Republik, gebaut wurde von 1929 bis 1932, die Streckenlänge betrug 20 km. Der damalige Kölner Oberbürger-meister und spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer weihte sie am 6. August 1932 zusammen mit seinem Bonner Kollegen Franz Wilhelm Lürken ein. Ende 1935 gab es insgesamt 108 km Autobahnen in Deutschland, Ende 1943, also unter den Nationalsozialisten, immerhin schon 3.896 km . Eine beachtliche Leistung, besonders auch unter Berücksichtigung der damaligen technischen Möglichkeiten, mußte doch vieles noch durch Handarbeit erledigt werden, mit Hacke und Schaufel. Doch selbst, wo Maschinen hätten eingesetzt werden können, wurde das untersagt. Und trotzdem konnten die Nationalsozialisten ihr Versprechen, die Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen, nicht halten. Es gelang nicht, 10.000 km Autobahn zu bauen und alle Deutschen in Arbeit und Lohn zu bringen. Dennoch wurde die Maßnahme von den Deutschen freudig begrüßt, signalisierte sie doch den Einzug der Moderne.

Ein zweite Behauptung ist nicht unumstritten, daß nämlich die Autobahnen vor allem schon im Hinblick auf den anzuzettelnden Zweiten Weltkrieg als Aufmarschstraßen geplant waren. Die Wehrmacht war in die Planungen einbezogen, zog jedoch die Eisenbahn für ihre Planungen vor, da sie als zuverlässiger und leistungsfähiger eingestuft wurde.

Unbestritten hingegen ist, daß der Bau dieser modernen Straßen Hitler anregte, den KdF-Wagen (Kraft-durch-Freude) bauen zu lassen, heute besser als Volkswagen bekannt. Gab es Straßen, brauchte es Automobile. Nahm die Zahl der Automobile zu, wurden mehr Straßen gebraucht. Diese Wechselwirkung ist belegt. Noch heute wird dieser Streit unter den Befürwortern und Gegnern von (Umgehungs)Straßen(bau) ausgetragen.

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Abb. 8: Deutsches Autobahnnetz, Stand der Planung 1933

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Abb. 9: Deutsches Autobannetz, Bestand und Planung 1935

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Abb. 10: Deutsches Autobahnnetz, Stand 1950

Da die Absicht bestand – anders hätte das auch keinen Sinn ergeben – das Deutsche Reich mit einem möglichst dichten Netz von Autobahnen zu überziehen, entstand für die Fahrer bei Richtungswechseln automatisch das Problem von Kreuzungen. Lösungen konnten hier sein: Stoppschilder, Ampeln, Kreisverkehr. Alle drei waren unpraktisch, verzögerten das Reisen, schufen neue Gefahren. Also mußten ganz neue Ideen her, um Richtungswechsel kreuzungsfrei machen zu können. Der erste, der ein solches System erdachte, war der Amerikaner Arthur Hale, der am 29. Februar 1916, also vor genau 100 Jahren, das Patent auf ein Autobahnkreuz erhielt, das Richtungswechsel ohne Kreuzungsverkehr erlaubte, allerdings führte er die Straßen dazu auf zwei Ebenen.

Die für das Kamener Kreuz gewählte Form kommt aus Europa, aus der Schweiz. Als die HaFraBa im Jahre 1927 eine Ausstellung ihres Projektes in Basel veranstaltete, war einer der Besucher dieser Ausstellung der Schweizer Schlosserlehrling (!) Willy Sarbach, der von der Idee der Autobahn besessen war und sich nachher zu Hause an den Tisch der elterlichen Wohnung setzte und zu zeichnen begann. Er tüftelte: Wie kann ich zwei Straßen mit vier Richtungen kreuzungsfrei gestalten? Und zwar so, daß Abbiegen nach links möglich ist, ohne durch den Gegenverkehr zu müssen? Daß Wenden möglich ist, ohne den Gegenverkehr zu behindern? Die Lösung fand er in der Natur: das Kleeblatt!

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Abb. 11: Das alte Kamener Kreuz 

Bei der HaFraBa war man von der Idee begeistert, so begeistert, daß der junge Mann einen Preis für seinen Genieblitz erhielt: einen Satz Reißzeug (das ist ein Zirkelkasten mit einer zusätzlichen Feder zum Ausziehen von Linien mit Tusche)! Die HaFraBa war es übrigens auch, die alle später verwendeten technischen Einzelheiten bereits schriftlich festgelegt hatte: Bauuntergrund, Dicke der einzelnen Schichten, Kurvenwinkel und –neigung, höchstmögliche Steigung bzw. Gefälle auf gebirgigen Strecken usw.

Daß die Strecke Köln – Bonn als Pilotstrecke ausgewählt wurde, war kein Zufall, war die Rheinschiene doch extrem wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung der rheinischen Großregion. Es ging um die Verbindung von Industrie-, Handels- und Verwaltungsstädten. Noch in den 1930er Jahren wurde die Planung der A2 von Köln über Hannover nach Berlin begonnen, die Einweihung des Abschnitts Recklinghausen – Bielefeld nahm Reichsarbeitsdienstleiter Dr. Fritz Todt am 12. November 1938 vor. Hatte Kamen schon im MA an einem ersten Straßenkreuz gelegen (vgl.o.), war der Bau dieser Ost-West-Magistrale der entscheidende Schritt zum Bau des Kamener Kreuzes in Kleeblattform. Die Einweihung erfolgte am 27. Oktober 1956. Sie wurde in den beiden Kamener Hotels, dem Hotel Preußischer Hof (Biermann) und dem Hotel König von Preußen (Bergheim), gebührend gefeiert. Und man war so stolz auf diesen Akt, daß man gemeinsam eine Ansichtskarte mit Erinnerungsdruck anläßlich dieses Ereignisses herausgab,

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Abb. 12: Postkarte der beiden Kamener Hotels

auch wenn es nur das zweite in Deutschland war, nach dem Kreuz Schkeuditz bei Leipzig, wo sich die A9 und die A14 kreuzen. Das Schkeuditzer Kreuz wurde am 21. November 1936 in Betrieb genommen, aber erst am 5. November 1938 fertiggestellt. Es war das erste Autobahnkreuz in Europa. Die ursprüngliche Bauform war ein vollständiges Kleeblatt mit deutlich kleineren Dimensionen.


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Abb. 13: Das Ende der A1 vor dem Ausbau bis Münster

Zunächst endete die A1 hier in Kamen, erst 1965 kam der Abschnitt bis Münster hinzu. Bevor dieser Abschnitt offiziell in Betrieb genommen wurde, machten sich einige Kamener auf, sie zu Fuß inoffiziell einzuweihen. Sie beluden einen Bollerwagen mit ein paar Kisten Bier und wanderten die ganze Strecke bis nach Münster auf der leeren Autobahn. Und je weiter sie kamen, umso leichter war der Bollerwagen zu ziehen.

Im Zuge dieser Bauarbeiten entstand für ein paar Jahre eine Behelfs– oder Notausfahrt zur Hammer Straße, der B61, gegenüber der Einmündung der Hansastraße,  die vom 27. Oktober 1956 bis zum 1. Juli 1965 existierte, als das Teilstück bis Münster dem Verkehr übergeben wurde. 1968 dann folgte die Verlängerung bis nach Bremen. Die Leistungsfähigkeit des Kamener Kreuzes wurde ab 1. Januar 1973 auf die Probe gestellt, als die A45, die Sauerlandlinie, fertiggestellt und angeschlossen wurde, und zwei Jahre später, im Juli 1975, auch die A44 nach Kassel mit Anschluß Richtung Osten.

War dieses Kreuz schon von Anfang an eines der meistbefahrenen in Deutschland, gab es noch einmal eine Zunahme an Verkehr nach 1990, als die damalige DDR dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland beitrat, so daß Maßnahmen ergriffen werden mußten, um den drohenden Kollaps des Kamener Kreuzes zu vermeiden. Heute ist es eines der wichtigsten Kreuze im deutschen Autobahnnetz, es passieren täglich mehr als 170.000 Fahrzeuge diesen Bereich. Und um die berüchtigte Verkehrsmeldung „Stau am Kamener Kreuz“ Vergangenheit werden zu lassen, wurde das Kleeblatt ab 2004 verändert – mit einer Bauunterbrechung 2006 wegen der Fußball-WM in Deutschland, später das „Sommermärchen“ genannt – und in der neuen Form am 25. August 2009 eingeweiht. Zwei entscheidende Veränderungen machen es viel leistungsfähiger: da ist zum einen der allgemeine Ausbau auf drei Fahrbahnen und, ganz entscheidend, die neue Streckenführung innerhalb des Kreuzes: es wurde eine neue Spur für die Autofahrer gebaut, die auf der A2 aus Richtung Hannover im Bogen um drei Kleeblätter herum auf die A1 in Richtung Köln fahren, wozu es zwei neue Brückenbauwerke brauchte, für die Überquerung der A2 westlich des Kreuzungspunktes und die Unterquerung der A1 nördlich des Kreuzungspunktes. Die neue Streckenführung ist kürzer und schneller, damit halten sich Fahrzeuge nicht mehr so lange im Kreuz auf, der Verkehr fließt also schneller ab. Für die entgegengesetzte Fahrtrichtung blieb alles beim alten, jedoch wurde die Tangente baulich auf zwei Fahrspuren aufgerüstet. So wurde die Kapazität praktisch verdoppelt, wenn die Autofahrer beide Spuren benutzen. Alle übrigen Verbindungen sind deutlich schwächer belastet und blieben unverändert.

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 Abb. 14: Das Kamener Kreuz vor und nach dem Umbau

In dieser neuen Form bedeckt das Kamener Kreuz nunmehr eine Fläche von 18 ha und umfaßt inklusive der Verbindungstangenten eine Strecke von 11 km! In seiner neuen Form kann es viel mehr Verkehr aufnehmen. Derzeit sind es etwa 185.000 pro Tag!

Baugeschichte:

Daß bei einer solchen Unternehmung Bauingenieure das Sagen haben, ist klar, doch gingen die damaligen Planer einen Schritt weiter und taten etwas, das selbst uns heute noch sehr modern anmutet. Die neuen Autobahnen sollten sich „weich in das Landschaftsbild einfügen“, daher bekam jede Bauabteilung einen Landschaftsbauingenieur. Der Sitz des Dienstgebäudes der Reichsautobahnen, Bauabteilung Kamen, war die ehemalige Fabrik von Wilhelm Wienpahl an der Hammer Straße (vgl. hierzu den Artikel über Wilhelm Wienpahl unter „Kamener Köpfe“ auf www.kulturkreiskamen.de). Immerhin hatte das Amt bereits zwei Dienstfahrzeuge.  Ab 1946 hieß es „Bundesautobahn“ statt „Reichsautobahn“, und da die Zuständigkeit für Straßen grundsätzlich in die Hoheit der neu geschaffenen Länder gegeben wurde, hieß die zuständige Behörde jetzt „Landesstraßenbauamt Autobahnen Kamen“ und es blieb vom 1. April 1946 bis zum 31. März 1956 in unserer Stadt. Zum 1. April 1956 zog die Behörde nach Hamm um, weil in Kamen keine Räume für die größer gewordene Dienststelle gefunden werden konnten.

Die Fahrbahnen wurden mit 12 m langen, 22 cm starken Betonteilen belegt, die bis 1963 Standard waren. Alle Anschlußstellen und Parkplätze wurden mit Kleinpflaster, meist Grauwackepflaster, seltener auch mit dem rutschigen Blaubasalt, belegt, damit die autobahnunerfahrenen Automobilisten merkten, wann sie wo waren. Diese Pflasterung wurde erst 1961 beseitigt.

Im Zuge des Baues der Autobahnen wurden bei Hamm-Ost Urnen aus der ausgehenden Bronzezeit (um 800 v.Chr.) ausgegraben und dem Provinzial-Museum Münster übergeben.

Am Ende des Krieges sprengte die Wehrmacht sämtliche Brücken westlich des Kamener Kreuzes, östlich weniger, um das Vorrücken der alliierten Armeen zu behindern. Nur eine Brücke blieb hier bestehen, die Feldwegüberführung des Hofes Frielinghaus in Dortmund, dessen Wirtschaftsland beidseits der Autobahn lag. Als die Wehrmachtsoldaten anrückten, um auch diesen Überweg zu sprengen, bot die Bäuerin, Hulda Frielinghaus, ihnen ein fettes Schwein an – damals waren Schweine noch fett, je fetter, desto beliebter – wenn die Brücke erhalten bliebe. Bei einem solchen Angebot konnten die Männer nicht nein sagen, und die Brücke bekam den Namen „Schweinebrücke“. Erst im Zuge des Ausbaus der A2 auf sechs Spuren wurde sie 2003 entfernt.

Die gesprengten Brücken wurden in der direkten Nachkriegszeit durch sogenannte Baileybrücken5 ersetzt, damit der allgemeine Verkehr wieder in Gang gebracht werden konnte. In Kamener Zuständigkeit lag die Unterhaltung von 283,7 km Streckenabschnitt mit den Autobahnmeistereien Brackwede, Oelde und Recklinghausen. Bei den Autobahnmeistereien waren Tischler– und Malerwerkstätten untergebracht, die die gesamte Beschilderung von Hand aus Holz anfertigten. Die erste Schilderbrücke mit Aluminium-Schildern am Kamener Kreuz wurde 1962 aufgestellt.  Bis 1952 wurden alle Fahrbahnmarkierungen mit Hilfe von Schablonen von Hand aufgetragen, erst seit 1952 maschinell. Die erste westfälische Rast– und Tankstätte wurde in Rhynern gebaut, in beiden Fahrrichtungen, Rhynern-Süd und Rhynern-Nord. Die beiden Raststätten sollten durch eine Unterführung miteinander verbunden werden. Dazu kam es aber wegen des Krieges nicht mehr. War sie im Frühjahr 1939 zunächst in Baracken untergebracht, wurde mit Kriegsbeginn der Rohbau bezogen. Stellplätze gab es für 250 Pkw und 120 Lkw! Heute stehen beide Gebäudekomplexe unter Denkmalschutz.

Zur Geschichte der Polizeikaserne an der heutigen Dortmunder Allee in Kamen

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Abb. 15: Die Plozeikaserne an der Dortmunder Allee, 1938

Anfang der 1930er Jahre nahm der Verkehr auf Deutschlands Straßen beträchtlich zu. Es gab immer mehr Unfälle, immer öfter wurde die Polizei hinzugerufen, um Sachverhalte zu klären, die Unfälle aufzunehmen, rechtliche Verfahren zu ermöglichen. Generell erschien es erforderlich, daß „der Verkehrsraum, die Verkehrsteilnehmer und die Verkehrsmittel“ konzentrierter überwacht wurden. Dazu wurden 1930 im Reichsgebiet 16 motorisierte Bereitschaften gegründet, davon eine in Kamen, weil Kamen, anders als Unna, günstiges Baugelände für das notwendige Dienstgebäude bereitstellte und die Lage am Kamener Kreuz leichten Zugang zu allen Autobahnen ermöglichte. Diese Dienststelle umfaßte 72 Mann mit 19 Kraftfahrzeugen.

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Abb. 16a – f: Motorisierte Gendarmerie 1938 – 1945 in ihrer Unterkunft in der Polizeikaserne Kamen 

Dieses Dienstgebäude, das, was unter dem Namen Polizeikaserne in Kamen bekannt ist, wurde in den Jahren 1937/38 gebaut und im Juni 1938 bezogen. Bestandteil der Anlage waren eine Kraftfahrzeugwerkstatt (man führte leichtere Reparaturen und Services an den Autos selber durch), Garagen und sonstige Einrichtungen.

1945, als große Kriegsschäden in der Innenstadt den Betrieb des Krankenhauses unmöglich machten, diente die Kaserne als Notkrankenhaus mit 90 Patientenbetten. Alle anderen zur Anlage gehörenden Gebäude wurden von den Alliierten genutzt.

Nach den organisatorischen Veränderungen, die die Niederlage im Krieg mit sich gebracht hatte, wurden die Gebäude im April 1954 an den RP Arnsberg übergeben. Als nun die neuen Verkehrsüber-wachungskommandos eingerichtet wurden, war das auch die Geburtsstunde der „Weißen Mäuse“.

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Abb. 17: „Weiße Mäuse” im Käfer.  

Die Autos wurden schneller, der Überwachungszug mußte schneller werden, um seiner Aufgabe noch gerecht werden zu können.

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Abb. 18: Ein Porsche der „Weißen Mäuse”

Deshalb wurde 1961 ein Porschezug der „Weißen Mäuse“ gegründet, eine besonders schnelle Einheit, die weiß gekleidet war – weiße Jacke zu grüner Hose, weißes Koppel, weiße Mütze, weißer Mantel, auf dessen Ärmelschleifen der Schriftzug „Polizei“ verdeutlichte, um wen es sich handelte  – und weiße Porsche-Cabrios fuhr, zunächst 14 an der Zahl, an denen man kleinere Dienste

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Abb.19: Die „Weißen Mäuse” im Einsatz

wie Ölwechsel selber vornahm. Für größere Reparaturen mußten die Beamten in eine Spezialwerkstatt nach Dortmund fahren, so daß dieser Zug schon ziemlich teuer wurde. Hermann Böhne argwöhnt noch heute, daß die Kamener Weißen Mäuse so etwas wie Versuchsfahrer für Porsche waren. Der weiße Mantel war besonders wichtig, da eine Dienstvorschrift besagte, daß die Besatzung der Wagen bis zu einer Temperatur von 3° offen fahren mußte! Der Name „Weiße Mäuse“ wurde übrigens voller Bewunderung verwendet und mit Freude aufgenommen. In den weißen Porsches waren sie durchaus Gegenstand von Bewunderung. Wer konnte schon solch ein Auto fahren? James Dean ja, Otto Normalverbraucher doch nicht!  Am 15.3.1961 zog der Porschezug der Autobahnpolizei Kamen hier ein. Er nahm seinen Streifendienst am 20.3.1961 auf und war für 248 km Autobahn A1/A2 zuständig. Zum Zug gehörten 20 weiße Porsche-Cabrios, ein hellgrauer Zivilwagen und ein VW-Bulli als „Semmelwagen“. Es wurden 12-Stunden-Schichten gefahren. Im ersten Jahr wurden 2140 Verkehrs– und 67 Kontrollstreifen gefahren, 820.000 km zurückgelegt.

Es waren jetzt hier stationiert: „82 Beamte mit 43 Kraftwagen und 23 Krädern“ (Krafträdern).

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Abb. 20 & 20a: Kräder

Sie hatten 50 km Autobahn von Uentrop bis Henrichenburg zu überwachen und die Bundesstraßen der Kreise Soest, Unna, Arnsberg und Ennepetal. Am 16.3.1964 wurde dieser Zug schon wieder aufgelöst, zum größten Bedauern aller Beteiligten. Böhne weiß nicht genau, warum, doch scheinen zum einen die Kosten zu hoch geworden zu sein, zum anderen wurde damals eine neue Art der Verkehrsüberwachung eingeführt. Und es griff eine neue Arbeitszeitverordnung, wonach die 12-Stundenschichten der Weißen Mäuse nicht mehr zeitgemäß waren. Das endgültige Ende der „Weißen Mäuse“ kam dann 1974.

Etwas, das man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann, betraf das Unfallkommando der Verkehrsüberwachung Nordbögge: es war seit 1955 in einer Holzbaracke untergebracht, die so dicht an der Fahrbahn stand, daß ein aus dem Fenster gehaltener Arm in Gefahr war, abgerissen zu werden. Und es gab keinen Funk und kein richtiges Telephon, nur ein Wachhäuschen  an der Fahrbahn. Von dort ertönte ein Signal, wenn die Leitstelle „anrief“. Dann mußte der wachhabende Beamte hinausgehen, die Meldung empfangen („Unfall auf der A2 bei …“), zurückeilen in seine Baracke und per Funk einen Streifenwagen alarmieren, der dann zur Unfallstelle fuhr. Und was noch schlimmer war, es gab in der Baracke keinen Strom, kein Wasser, keine Toilette. Wer „mal mußte“, mußte mit dem Streifenwagen zur nächstgelegenen Wache fahren oder, wenn es eilig war, das nächstgelegene Gebüsch aufsuchen. Später gab es dann sogar ein „Herzhäuschen“. Was für ein Luxus! Und Kaffeewasser holte man sich von der Raststelle Rhynern.

Vor der Einführung der Funkgeräte mußten die Dienstwagen auf Streifenfahrt an jeder Dienststelle, an der sie vorbeikamen, anhalten und sich nach dem neuesten Stand der Dinge erkundigen. Für den Fall von Fahrten auf den Autobahnen, wo es keine Dienstgebäude gab, führten sie Telephonhörer mit Klinkensteckern mit sich. Diese konnten sie in Säulen auf dem Mittelstreifen (!) der Autobahn einstöpseln und eine Verbindung herstellen.

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Abb. 21 & 21a: Das „ Autobahn- Benimmbuch”

Autobahnfahren war nichts, das in der Fahrschule gelehrt wurde7, der durchschnittliche Autofahrer fuhr kaum jemals auf der Autobahn, entsprechend unerfahren war er. Im Bereich des Kamener Kreuzes wuchsen Blumen an den Böschungen, Margeriten und Lupinen und andere. Da kam es am Sonntagnachmittag nicht selten vor, daß ein Wagen anhielt, eine Familie ausstieg und Blumen für den Besuch pflückte, für den Besuch, den man ansteuerte. Lt. Böhne waren das meistens Autos mit den Kennzeichen SO, MK und EN.6 Klar, daß das gefährlich war. Da verfaßte der Polizeihauptkomissar (PHK) und Bereitschaftsführer Paschedag im Auftrag der Verkehrsüberwachungsbereitschaft im Landespolizeibezirk Arnsberg einen Leitfaden „Wie verhalte ich mich auf Autobahnen?“, der am 15. März 1957 herauskam und allen Autofahrern die Benutzung des ein halbes Jahr vorher eröffneten Kamener Kreuzes erklärte. Dabei ging es um Grundsätzliches: Autobahnen sind Einbahnstraßen, abbiegen und wenden müssen bestimmten Regeln folgen und gehen nur über die Blätter des Kleeblattes. Und jedes Thema wurde anhand einer Zeichnung illustriert.

Zu den vielen Anekdoten, die der ehemalige PHK Hermann Böhne erzählen kann, gehört auch die des Handwerkers, der in den späten 1970er Jahren mit seinem defekten Wagen an der Kamener Polizeiwache strandete, die damals mitten im Kreuz lag,

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Abb. 22: Die Polizeiwache im Kamener Kreuz

und die Polizisten bat, seine Frau anzurufen – von Handys noch jahrzehntelang keine Spur –  die ihn abholen sollte. Und so stand man gemeinsam, Polizei und Handwerker, an der Wachbaracke und paßte auf, wann die Frau auftauchen würde. Als sie endlich gesichtet wurde, war sie gerade dabei, an der Wache vorbeizufahren, da sie die richtige Abfahrt nicht gefunden hatte. Also drehte sie die Runde – und fand sie wieder nicht. Das geschah mehrmals, immer wieder rauschte sie an den Wartenden vorbei. Schließlich hatte Böhne genug davon und schickte einen Streifenwagen hinterher, der sie „einfing“ und zur Wache geleitete.

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Abb. 23: Stau am Kamener Kreuz 

Nicht nur diese Frau hielt sich länger an „unserem“ Kreuz auf, als sie wollte, das passierte vielen. Das alte Kamener Kreuz war deutschlandweit ein Begriff, und auch im europäischen Ausland machte es sich einen Namen. Wer kennt nicht die Geschichten, die Urlauber zu erzählen haben, darunter die, daß sie im Urlaub gefragt wurden, wo sie denn herkommen. Da sie annahmen, daß sowieso kein Mensch Kamen kennt, gaben sie als ihren Heimatort das Kamener Kreuz an. Und immer hieß es dann: Ach so! Da haben wir auch schon im Stau gestanden! Für seine Staus war es jahrzehntelang bekannt und berüchtigt. Im Verkehrsfunk war eine der häufigsten Meldungen: Stau am Kamener Kreuz. Bitte weiträumig umfahren! Die Kamener selber mußten auch immer wieder darunter leiden, wenn das Kreuz wieder einmal „dicht“ war und lange Autoschlangen sich über die Werner und die Lüner Straße wälzten und den Ortsverkehr zum Erliegen brachten.

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Abb. 24: November 1973, einer der vier autofreien Sonntage (Autobahn bei Rottum)

Wenn man Hermann Böhne fragt, was er noch alles vorn „seinem“ Kamener Kreuz zu erzählen weiß, sprudelt es nur so aus ihm heraus. Und immer wieder ist er persönlich daran beteiligt. Junge Leute wollten in der Zeit des Wirtschaftswunders reisen und wie immer bei ihnen mußte es billig sein. Da gab es zwei Möglichkeiten: Interrail oder, noch billiger, per Anhalter. Mit letzteren hatte Böhne es am Kamener Kreuz zu tun.

Aus den Erinnerungen Hermann Böhnes:

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Abb. 25: Anhalter im Kamener Kreuz

Anhalter

Die 1960er/70er Jahre waren die hohe Zeit der Anhalterei. Junge Leute aus ganz Europa reisten durch den ganzen alten Kontinent, der damals für alle der neue Kontinent war. Überall waren Grenzen, überall gab es einen Stempel in den Paß, bei allen begehrt, weil sie zeigten, daß man weitgereist war. Hermann Böhne erinnert sich an einen besonders schlimmen Tag an einem besonders heißen Sommertag: 18 Anhalter standen an verschiedenen Stellen im Kamener Kreuz herum und reckten ihre Daumen in die Höhe. Und das nicht etwa auf den Parkplätzen, sondern direkt auf den Randstreifen. Immer wieder hielten aufnahmewillige Fahrer einfach an und ließen Mitfahrer einsteigen. Nicht auszudenken, was da passieren konnte! Und einen Platzverweis auszusprechen, kam ebenfalls bei 18 weit verteilten Leuten nicht in Frage. Was tun? Böhne rief einen 24-sitzigen Opel-Unfallaufnahmewagen heran, sammelte alle Anhalter ein und fuhr sie zur Raststätte Rhynern, wo er sie zur Weiterreise wieder hinausließ. Während der Fahrt nach Rhynern war es ein lustiges Singen in allen möglichen europäischen Sprachen, es herrschte beste Stimmung. Wer so reiste, hatte keinen Fahrplan, nahm alles, wie es kam, die Laune ließ man sich bestimmt nicht verderben.

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Abb. 26: Opelbus der Polizei

Hier könnte die Geschichte zu Ende sein, und es wäre eine schöne Geschichte. Es gibt aber eine Fortsetzung.

1985 machte Böhne mit seiner Frau Urlaub auf Teneriffa in Santa Bela Cruz. Am Sonntag gingen sie in die Fischerkirche St. Elmo, wo ein spanischer Pfarrer einen Gottesdienst auf Deutsch abhielt. Während die Gemeinde die drei Strophen des Schlußlieds sang, ging der Pfarrer zur Tür, um die Gottesdienstbesucher zu verabschieden. Mit vielen wechselte er noch ein Wort. Böhnes fragte er nach ihrer Herkunft. „Aus der Nähe von Dortmund“, gab es zur Auskunft. „Wo da genau?“ „Aus Kamen.“ „Ach,“ meinte der Pfarrer, „da bin ich als Anhalter mal gestrandet. Es war heiß und wir wußten nicht, wie wir weiterkommen sollten. Da hat die Polizei uns zu einem Rasthaus gefahren, von wo wir dann alle wegkamen.“ Da gab Hermann Böhne sich zu erkennen und die beiden freuten sich über die kuriose Geschichte.

„Republikflüchtlinge“

1985 geschah noch eine merkwürdige Sache, wie sie nur im geteilten Deutschland passieren konnte. Ein Berliner Ehepaar machte auf der Fahrt nach Westdeutschland Rast auf einem Parkplatz an der Transitstrecke, wollte sich eigentlich nur ein Päckchen Zigaretten kaufen, entfernte sich also nur für wenige Minuten von seinem Mercedes 220. Anschließend ging’s weiter Richtung Westen. Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Dann plötzlich, kurz vor der Raststätte Rhynern, hörte die beiden Geräusche aus dem hinteren Teil des Autos. Ein Defekt? Ein loses Teil? Als Rhynern in Sicht kam, fuhr der Fahrer auf den Parkplatz und schaute im Kofferraum nach, ob da etwas zu sehen sei. Als ihm beim Öffnen der Klappe  zwei Jugendliche entgegenkamen, war er arg erstaunt. Natürlich folgte eine Runde Fragen: Wer seid ihr? Wie kommt ihr in meinen Kofferraum? Was ist hier überhaupt los? Kurz und gut: es handelte sich um zwei Jugendliche aus Magdeburg, die an dem Rastplatz an der Transitstrecke gewartet hatten, einfach um mal zu sehen, was da so los war. Und als sich die Möglichkeit bot, in den Mercedes der beiden Berliner zu klettern, überstiegen sie den Zaun, der alle Rastplätze auf den Transitstrecken zwischen der DDR und Westdeutschland umgab, „sicherte“, wie es im Osten hieß, und versteckten sich dort. Für die Führung der DDR war das „Republikflucht“. Die wurde mit Zuchthaus bestraft, und die beiden Westberliner wären bei einer weiteren Kontrolle als „Fluchthelfer“ ebenfalls ins Gefängnis gekommen. Von Rhynern aus wurde sofort die Polizei verständigt, die die beiden Flüchtlinge abholte und in die Wache nach Kamen brachte.

Das war nun wegen der politischen Implikationen eine heikle Sache , was durch Telephonate mit vorgesetzten Behörden bestätigt wurde. Zunächst einmal wurde absolutes Stillschweigen angeordnet, bis man zu einem Entschluß über das weitere Vorgehen gekommen wäre. Da fiel Böhne die für seine Wache eleganteste Lösung ein. Die beiden waren doch in Rhynern gefunden worden? Und Rhynern gehörte doch zu Hamm! Also wurden die beiden flugs an das Jugendamt Hamm übergeben. Sollten die sich doch mit dem Fall beschäftigen. Nach einigem Hin und Her wollten die beiden Jugendlichen dann doch zurück in die DDR. Ein Mitarbeiter der „Ständigen Vertretung“ (so hieß die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Deutschen Demokratischen Republik: man wollte dort vertreten sein, aber damit sollte keine Anerkennung verbunden sein) holte sie ab und übergab sie den DDR-Behörden. Was dann aus ihnen wurde, ist nicht bekannt.

„Landebahn“

Daß ein langes, gerades Stück Autobahn sich auch für noch ganz andere Dinge eignet, erlebte Böhne zusammen mit seinem Kollegen Keller im Frühjahr 1961. Zwischen der Anschlußstelle (AS) Kamen-Süd und der AS Unna-Massen gab es die Notlandung einer einmotorigen Cessna 172. Ich lasse Hermann Böhne selber zu Wort kommen:

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Abb. 27: Ein Flugzeug auf der Autobahn

„Es herrschte richtig mieses Wetter. Regenträchtige Wolken lagen tief auf, die von einem steifen Nordwest getrieben wurden. Hin und wieder gab es einen kräftigen Guß. Es stand reichlich Wasser auf den Fahrbahnen, und die Kraftfahrzeuge zogen Wasserfahnen hinter sich her.

Mit meinem Streifenkollegen Hilger Keller […] befuhren wir die A2 in Richtung Oberhausen. Wir hatten soeben den Brunsberg passiert, als wir Motorengeräusche über uns wahrnahmen. Und das sehr deutlich. Alsbald tauchte das Flugzeug im Blickfeld vor uns auf. In niedriger Höhe schien es das Betonband der Autobahn als Orientierungshilfe zu benutzen. Was hat der Pilot eigentlich vor?Will er etwa auf der Autobahn notlanden? Diese und weitere Fragen stellten wir uns, ohne jedoch eine Antwort zu bekommen. Dann und wann zog der Pilot eine Schleife, so daß der Blickkontakt zu uns eigentlich nie abriß. Über dem Kamener Kreuz zog der Pilot abermals eine Schleife, um dann in Richtung Unna zu fliegen. Wir hatten uns entschlossen, dem Piloten irgendwie die Landung zu ermöglichen. Eine Kontaktaufnahme per Funk scheiterte. Ein zweiter Streifenwagen wurde herbeigerufen (Polizeimeister (PM) Tobias / PM Senz), um den auflaufenden Verkehr abzusichern. Wir fuhren inzwischen mitten auf der Fahrbahn, verlangsamten den Verkehr und ließen uns nicht überholen. Die Flughöhe der Cessna war nun beängstigend niedrig. In Höhe Kamen-Zentrum überquerte eine Hochspannungsleitung die BAB. Diese sah der Pilot wohl erst im letzten Augenblick. Mit einem „Steilsprung“ – uns blieb fast das Herz stehen – schaffte er das Hindernis in letzter Sekunde.

Der vor uns befindliche Verkehr war inzwischen so weit abgelaufen, daß genügend Freiraum für eine Landung vorhanden war. Das erkannte auch der Pilot, der nun nach einer weiteren Schleife zur Landung ansetzte. Die Autobahn bestand zu dieser Zeit aus zwei Fahrstreifen und einem Seitenstreifen. Die Landung klappte dann ohne weitere Komplikationen.“

Anschließend wurde die Cessna auf dem fertiggestellten, aber noch nicht freigegebenen Stück des Kreuzes Dortmund/Unna geparkt, bis, bei besseren Wetterverhältnissen, das Autobahnamt Hamm die Starterlaubnis erteilte. Der Pilot und seine drei Passagiere bedankten sich herzlich und landeten kurze Zeit später in Dortmund-Wickede.

Lakonisch schließt Hermann Böhne: „So war das damals. Mit einem Vermerk auf dem Streifenbefehl war diese Aktion auch für uns erledigt.“

Auf einer Autobahn mit soviel Verkehr kam es zwangsläufig zu vielen Unfällen. Dann Hilfe herbeizurufen, ohne alle heutigen technischen Hilfsmittel, war nicht einfach. Z.B. stellte sich der „Gelbe Engel“ (damals noch auf dem Motorrad) mit einem Schild an den Straßenrand und hoffte darauf, daß ein Arzt vorbeikam.

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Abb. 28:  Hilferuf

Neben den Todesfällen gab es aber auch eine Geburt.

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Abb. 29: Eine Geburt auf der A1 bei Holzwickede (WR, 23.1.1999)

Einmal war auch ein Tippelbruder mit seinem Gespann auf der Schnellstraße unterwegs. Den zu retten, bedurfte es einiger Überredungskunst seitens der Beamten. Der war so störrisch wie sein Esel: das sei doch eine wunderbare Strecke, immer geradeaus.


tippelbruder

Abb. 30: Tippelbruder auf der A1

Und am 12.9.1965 berichtete die Bildzeitung, daß die Kamener Autobahnpolizisten und ein Kamener Taxifahrer das Münsteraner Konzert der Rolling Stones retteten. Der Leihwagen des Gitarristen Bill Wyman war am Kamener Kreuz liegen geblieben, und das, wo doch das Konzert schon angefangen hatte! Ein Taxi mit Polizeieskorte in Höchstgeschwindigkeit auf der A1!

rolling-stone

Abb. 31: Auch die Rolling Stones mußten durchs Kreuz

Anmerkungen:

1 Es ist eine durchaus berechtigte Frage, ob sich Gutenbergs epochale Erfindung, der Buchdruck, so schnell verbreitet hätte, wenn sein Ausgangspunkt nicht Mainz gewesen wäre, in der Nähe großer Flüsse und Straßen, mit Frankfurt als einem bedeutenden Messeplatz mit kaiserlichem Privileg seit 1240 gleich nebenan.

2 Zunächst allgemeine Bezeichnung für Königsstraßen (also durch den König/Kaiser angelegte und bewachte und durch seine Truppen benutzte Straßen), später der Name einer Pilger–, Haupt– bzw. „Hohen“ Straße quer durch Mitteldeutschland (1252 erstmals als „strata regia“ erwähnt, noch heute im Verlauf einiger Bundesstraßen in Thüringen und Sachsen erhalten)

3 Der Stecknitzkanal (alte Bezeichnung: Stecknitzfahrt) wurde in den Jahren 1392 bis 1398 zwischen Lübeck und Lauenburg gebaut.

4 Messestadt mit landesherrlichem Privileg seit 1156, mit kaiserlichem Privileg seit 1497.

5 Die Bailey-Brücke ist eine transportable, aus vormontierten Einzelbauteilen zusammensetzbare, Not- oder Behelfsbrücke. Sie ist leicht aufzubauen, kann aber schwerste Lasten tragen.

Am 1.10.1906 wurde das erste deutschlandweit einheitliche Kennzeichen eingeführt. Direkt nach der Kapitulation Deutschlands erhielten deutsche Autos Militärkennzeichen, anschließend bis zum 5.5.1955 Nummernschilder der Militärverwaltung der jeweiligen Besatzungszone.1956 wurde das heutige System der Kennzeichen eingeführt.

7 Fahrstunden auf der Autobahn als verpflichtenden Teil der Ausbildung gibt es erst seit den 1970er Jahren. Es mußten fünf Stunden sein, die ans Ende der Ausbildungszeit gelegt wurden, damit die Grundfahrkenntnisse schon gefestigt waren.

Quellen:

Ammoser, Hendrik, Das Buch vom Verkehr, Die faszinierende Welt von Mobilität und Logistik, Darmstadt 2014

Bundesminister für Verkehr, Abt. Straßenbau, Hrsg., HAFRABA, Bundesautobahn Hansestädte – Frankfurt – Basel, Rückblick auf 30 Jahre Autobahnbau, Wiesbaden – Berlin 1962

Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Ministerium für Bauen und Verkehr des Landes NRW, Hrsg., Um– und Ausbau des Kamener Kreuzes (A1/A2), o.O. & o.J.

Ebbrecht, Theodor, Landesoberbauamtsrat a.D., Vom Autobahnbau zum Autobahnbetrieb, Geschichtliche Entwicklung des Autobahnamtes Hamm 1934 bis 1975, o.O. & o.J.

Paschedag, Polizei-Hauptkommissar und Bereitschaftsführer, Das Kamener Kreuz, o.O., 1957

Regierungspräsident Arnsberg, Hrsg., 25 Jahre Dienst am Bürger, Arnsberg 1989

Mein besonderer Dank gilt Hermann Böhne, Polizei-Hauptkommissar a.D., der mir als der in Kamen beste Kenner der Geschichte des Kamener Kreuzes in vielerlei Hinsicht Hilfestellung leistete, vor allem als Auskunftei auf zwei Beinen. Und er kennt alle Geschichten um das Kamener Kreuz. Im Kamener Haus der Stadtgeschichte hat er ein kleines Museum zum Kamener Kreuz und zur Autobahnpolizei eingerichtet. Dort gibt es auch das Archiv der Kamener Autobahnpolizei. Zusätzlich besteht noch eine von ihm zusammengetragene und betreute Sammlung von Ausrüstungsgegenständen der Polizei aus vielen Jahrzehnten im neuen Gebäude der Autobahnpolizei Kamen auf der Funckenburg.

Dank auch an das Kamener Stadtarchiv, das über umfangreiches Bildmaterial verfügt und dieses zur Verfügung stellte.

Bildnachweis:

Abb. 1. Binnenschiff vom Typ Oberländer aus dem Köln-Prospekt des Anton Woensam 1531 (aus: Detlef Sender, Häfen, Schiffe, Wasserwege. Zur Schifffahrt des Mittelalters)

Abb. 2 – 7: Wikipedia

Abb. 8 – 10: Autobahnkarten / Autobahnnetz historisch ab 1926. Quelle: Landkarten & Stadtplan Index – Michael Ritz – Mönchengladbach

Abb. 11 – 13, 17, 19, 22 – 25, 28 – 30: Stadtarchiv Kamen

Abb. 14: Wikimedia.org

Abb. 15, 16a – f, 18, 20 – 20a, 26, 27: Hermann Böhne, Archiv der Kamener Autobahnpolizei

Die Fünfbogenbrücke in Kamen

von Klaus Holzer

Fünf-Bogen-Brücke HA

Die Fünfbogenbrücke im Sommer 2013

Die Kamener Hochstraße ist gerade einmal 40 Jahre alt und bedarf bereits der Sanierung. Wer viel auf Autobahnen fährt, weiß längst, daß auch dort viele Brücken marode sind. Brücken die erst 40 oder 50 Jahre alt sind: die langen Bauwerke auf der 1973 in Betrieb gegangenen Sauerlandlinie, die Rheinbrücke bei Leverkusen und viele andere mehr. Viele von ihnen können saniert werden, manche müssen erneuert werden. Brücken, aus dem Ewigkeitsbaustoff Beton errichtet, nach kaum einem Menschenalter. Nicht so die Fünfbogenbrücke in Kamen.

Die Fünfbogenbrücke liegt an der Köln-Mindener Eisenbahn, deren Gesellschaft am 18.12.1843 gegründet wurde. Eigentümer waren Privatleute und der preußische Staat, der mit ca. 43% Mehrheitsaktionär war. Im Jahre 1845 wurde die endgültige Streckenführung festgelegt und mit den Bauarbeiten begonnen, und zwar von West nach Ost. Am 18.10.1845 fand der erste Spatenstich auf Kamener Gebiet statt. Der Bau der Fünfbogenbrücke begann schon im Herbst 1844. Dazu schreibt der erste Ortschronist Kamens, Pfarrer  Friedrich Buschmann: „Mit der größten Thätigkeit wurde unausgesetzt an der Cöln-Mindener Eisenbahn gearbeitet und im Sommer die ausgezeichnet schöne Brücke im Mersch, welche wohl gegen 80.000 Thaler gekostet hat, vollendet. Der ganze Bau ward so rasch gefördert, daß schon die Strecke zwischen Hamm und Camen und Dortmund am 13. December mit Pferden befahren werden konnte.“ Der Preis war sehr hoch, vor allem, weil die Seseke damals von einem breiten Sumpfstreifen gesäumt war, in den sehr viele Eichenstämme als Fundament getrieben werden mußten, damit sie nicht versank. Und eine solche Pfahlgründung war und ist eben sehr teuer. Wie gut gearbeitet wurde, läßt sich unschwer daran erkennen, daß diese Brücke seit nunmehr 170 Jahren in ihrer Konstruktion unverändert steht und damit eine der ältesten Eisenbahnbrücken Deutschlands ist.

Bei dieser Seseke-Brücke handelt es sich um eine Brücke aus Werkstein in einfacher, klassizistischer Form. Sie hat fünf auf Pfeilern sitzende Gewölbe, welche die Form eines Kreissegmentbogens haben. Es handelt sich dabei um drei Strompfeiler und zwei Vorfluter. Die Pfeiler zeigen halbrunde Vorlagen, die mit einem Wulstprofil aus anderem Steinmaterial abgeschlossen sind. Die ursprüngliche Brücke ist fast unverändert erhalten geblieben.

Am 19.8.1846 schrieb der HA: „ Der Sesekebrücke hierselbst, in fünf Bogen kolossal und wunderschön erbaut, wurde heute der Schlußstein eingefügt, zu welcher Feier sich die Herren Beamten der Bahn von Hamm, Dortmund und Camen hier eingefunden. Nach der Feier, wobei einige passende und erhebende Ansprachen gehalten,, zog der Festzug mit klingendem Spiel durch die Stadt zum Grevelschen Gasthof (Anm. KH: den älteren Kamenern als „Hotel Bergheim“ Am Geist bekannt) und zur Witwe Möllenhoff (Anm. KH: eine damals bekannte Gaststätte mit Saal in der Bahnhofstraße, an der Ecke Klosterstraße), wo man sich eine Zeitlang heiter und hoffnungsvoll über die glückliche Zukunft unterhielt, die uns die baldige Eröffnung unserer großartigen Eisenbahn bringen wird. Ein Ball bei Herrn Menne am Ziegenmarkt (Anm. KH: heute Teil der Schulstraße) beschloß die Feier.“

Am 24.4.1847 fuhr die erste Lokomotive über Kamen, am 2. Mai der erste Personenzug bis Hamm, am 8. Mai war die erste Regierungsprobefahrt, am 15. Mai waren die offiziellen Bahnhofseinweihungen in Kamen und Hamm (das heute denkmalgeschützte Bahnhofsgebäude in Kamen entstand erst Anfang der 1850er Jahre).

Noch einmal Friedrich Buschmann: „Wenn es auch unmöglich ist, die späteren muthmaßlichen Folgen der hier vorbeigehenden Eisenbahn auf den Wohlstand der Bürgerschaft anzudeuten, so läßt es sich doch unmöglich verkennen, daß die hiesige Stadt jetzt gleichsam in dem Bahnhofe einen Hafen an einem der bedeutsamsten Ströme Europas besitzt, dadurch in die directeste und schnellste Berührung mit den Städten im Nordosten und Nordwesten Deutschlands gebracht ist und es jetzt leicht sein muß, Quellen der Betriebsamkeit aufzufinden. Wahrscheinlich wird in späteren Tagen um den Bahnhof ein neues Camen entstehen.“

Daß sich die im HA und bei Buschmann ausgedrückten großen Hoffnungen für die Entwicklung der Stadt Kamen nicht recht erfüllten, steht auf einem anderen Blatt. Die Fünfbogenbrücke ist Zeugnis großartiger Planung und Brückenbaukunst, zu recht unter Denkmalschutz gestellt. Sie hat 1847 die erste Dampflok erlebt, die D-Züge, die den Fernverkehr immer schneller machten, Exoten, wie den Schienen-Zepp, der am 28.6.1931 auf einer Werbefahrt durch Deutschland auch durch Kamen fuhr. Er war eine Propellerlokomotive, die einen Weltrekord von 240 kmh aufstellte. Erst 24 Jahre später wurde dieser Rekord übertroffen. Und schon 1930 schaffte er die Strecke von Hamburg nach Berlin in 98 Minuten, heute ist der ICE 2 Minuten (!) schneller. Jeder Typ Eisenbahn fuhr über die Fünfbogenbrücke, seit 170 Jahren.

Und diese Brücke spielte in den 50er Jahren auch eine erhebliche Rolle für frisch Verliebte vorzugsweise zwischen 15 und 20 Jahren. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen, aber zu jener Zeit gab es im Mersch nur die heute alte, damals neue Post und die Villen am Sesekedamm. Sonst stand dort kein Haus. Alles Wiesen, Kühe darauf, in den Bächen und Gräben Molche, Stichlinge und Karauschen, außer natürlich in der Seseke. Einsamkeit, lauschige Plätzchen, das richtige für Verliebte. Dort ging man hin zum Poussieren, wie das damals hieß. Deswegen war es dort manchmal auch nicht so einsam, wie es sich alle gewünscht hätten.

Nichts konnte die Fünfbogenbrücke erschüttern. Bis der moderne Lärmschutz kam.

Heute ist das Denkmal zerstört.

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Die Fünfbogenbrücke im Sommer 2014

KH

Publikationen des KKK

Der Kultur Kreis Kamen bringt seit dem Frühjahr 2016 eine Reihe mit „Beiträgen zur Kamener Geschichte“ heraus. Ziel ist es, unter dem Titel „Kamener Köpfe“ Persönlichkeiten darzustellen, die für Kamen und seine Geschichte eine gewisse Bedeutung erlangt haben. Natürlich wird es auch Beiträge geben, die sich mit anderen für unsere Stadt relevanten Themen beschäftigen werden. Dazu gehören z.B. Straßennamen und das Kamener Kreuz.

Alle Publikationen sind im Haus der Stadtgeschichte Kamen (Museum), Bahnhofstraße 21,  erhältlich. Tel.: 02307 / 79 74 19

Die ersten Hefte widmen sich folgenden Persönlichkeiten:

Titel Original Kopie

Heft 1  Johannes Buxtorf – Ein Basler aus Kamen

Beschreibt das Leben und Wirken des großen mittelalterlichen Hebraisten

 16 Seiten     von Klaus Holzer

Titel 1 Hamelmann 21 Original Kopie

Heft 2  Hermann Hamelmann – Kamens erster Reformator

Er war der erste, der in Kamen nach der Lehre Luthers predigte

12 Seiten     von Klaus Holzer

Praetorius 1

Heft 3  Antonius Praetorius – Kämpfer gegen Hexenverbrennungen

Der erste, der gegen Hexenverfolgungen und –verbrennungen schriftlich und praktisch zu Felde zog

32 Seiten     von Klaus Holzer

Titel Reich Original Kopie

Heft 4  Gustav Reich – Stadtplaner aus Leidenschaft

Er war ein Vierteljahrhundert lang Kamener Stadtbaurat, nach dessen Plänen der Umbau Kamens zu einer modernen Stadt eingeleitet wurde     (z.Zt. vergriffen)

32 Seiten     von Klaus Holzer

Titel Original Kopie 2

Heft 5 erscheint später, vorgesehen: Bernhard Heymann – Chemiker aus Berufung

Unter seiner Leitung wurde das Germanin entwickelt und die Schlafkrankheit besiegt

von Klaus Holzer

Wienpahl T neu

Heft 6 Wilhelm Wienpahl – Kamener Erfinder und Unternehmer

Ein Kamener Erfinder und Unternehmer der Gründerzeit, der heute vergessen ist

16 Seiten     von Klaus Holzer

Preis je Heft: € 2,50

 

Geplante  Veröffentlichungen:

  1. Christian Zucchi – ein Maler in Kamen
  2. 60 Jahre Kamener Kreuz
  3. Die „Gruppe Schieferturm“
  4. Helmut Meschonat
  5. Ulrich Kett
  6. Lothar Kampmann
  7. Fritz Heitsch
  8. Gerhard Donsbach
  9. Patenschaft Bloomfield

 

Eine Publikation außerhalb dieser Reihe, ebenfalls im Frühjahr 2016 erschienen, ist

Ohne Titel 1

Kartoffelglück – eine Schrift, die sich mit der Kartoffel in allen ihren Facetten befaßt. In alphabetischer Reihenfolge und bunt bebildert schickt uns diese 70-seitige Broschüre auf die Reise zu allem Wissenswerten rund um die Knolle. Mit dabei sind auch viele leckere Kartoffelrezepte, Anekdoten und Humoriges. Für Kamener besonders interessant: Die Seiten „Hier holt man sich gerne mal einen Korb“ und „UNsere Wahl regional“ beziehen sich auf den Kartoffelanbau und –verkauf in Kamen und Umgebung.

von Thea Holzer

Preis: € 7,50

Christian Zucchi – ein Maler in Kamen

von Klaus Holzer

Abb. 1 CZ Kopie

Abb. 1: Christian Philipp Zucchi, 8. Februar 1811 in Mainz – 19.September1889 in Leipzig

Wie der Name vermuten läßt, stammt die Familie aus Italien, genauer: aus Venedig, wenngleich auch in dieser Beziehung vieles im

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Abb. 2: Das Wappen der Familie Zucchi

Dunkeln ist. Die Familie wandert aus und läßt sich in Mainz nieder, wo Sohn Christian Philipp (CZ) am 8. Februar 1811 geboren wird1.

Seine Jugend fällt in eine äußerst unruhige Zeit. Die Französische Revolution liegt erst 22 Jahre zurück; Napoleon hatte Deutschland erobert und wieder verloren; die deutschen Länder fühlten sich befreit und gleichzeitig durch den Franzosen inspiriert. Ein Virus hatte die Deutschen befallen und ließ sich nicht vertreiben, und Mainz war besonders stark infiziert: die Idee der Republik faszinierte die Bevölkerung.

Schon am 17. März 1793 hatte der Mainzer Jakobinerklub  die Mainzer Republik ausgerufen.

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Abb. 3: Das Wappen des Mainzer Jakobinerklubs

Ihr maßgeblicher Mann war Johann Georg Forster2

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Abb. 4: Johann Georg Forster,

27. November 1754 – 10. Januar 1794

 der seine Republik an Frankreich anschließen wollte. Während er in Paris war, um die Bedingungen zu verhandeln, eroberten Preußen und Österreich das abtrünnige Territorium zurück, doch ließ das Virus des Republikanismus die an sich revolutionsfeindlichen Deutschen nicht mehr los.

In mehr und mehr deutschen Staaten rumorte es, bis der Vormärz in der Frankfurter Paulskirche gipfelte. Gleichzeitig entwickelte sich ein Wunschbild bürgerlicher Behaglichkeit, das Biedermeier,3            

Abb. 5 Zimmerbild_96

Abb. 5: Zimmer im Biedermeier-Stil

 das sich den von Frankreich ausgehenden Empire-Stil anverwandelte und sich einerseits durch Geradlinigkeit, Feierlichkeit, nüchterne Strenge und sachliche Zweckmäßigkeit auszeichnete, andererseits aber auf Repräsentation und Dekoration, auf die damals modische Vorstellung von wohnlicher Gemütlichkeit hinzielte.

In diesem Spannungsfeld wuchs CZ auf. Aber ebenso wenig, wie er politischer Revolutionär wurde, modernisierte er die Malerei, blieb stattdessen den Konventionen verhaftet 4. Sein Talent zu zeichnen verhieß ihm eine Karriere als Porträtmaler, zumal die großbürgerlichen Familien großen Wert auf repräsentative Familiengemälde legten, Gemälde, die den wirtschaftlichen und privaten Erfolg unterstrichen. Hier wollte man sich zeigen, zugleich aber wollte man auch den Schmuck fürs großbürgerliche Heim.

Abb. 5a: Der junge Cristian Zucchi, gemalt von seinem Lehrer Friedrich Fleischmann

Es ist nicht bekannt, wo CZ gelernt hat. Man darf annehmen, daß er das machte, was damals fast alle machten, die Maler werden wollten: er ging zu einem Meister in die Lehre, schließlich galt Malerei grundsätzlich noch als Handwerk. Um 1830 jedenfalls ist er beim Nürnberger Kupferstecher Friedrich Fleischmann und eignet sich dessen Fertigkeiten an. Nach frühen Wanderjahren nach Süden – Italien war immer die Sehnsucht der Deutschen, und das war der gebürtige Mainzer ja – etwa an den Chiemsee, nach Obermais, Ittensee, Tegernsee, zum Südtiroler Rosengarten bis nach Bozen. Am 30. April heiratet er zum ersten Mal, Anna Maria Becker. Offenbar ist er immer noch in Süddeutschland, da ihr Sohn Carl Georg am 2. Februar 1840 in Freising geboren wird.

Im Jahre 1848 kommt CZ nach Kamen. Es ist unbekannt, wieso er ausgerechnet hierher kam, war Kamen doch ein kleines, verträumtes Landstädtchen, dessen Bürger Handwerker und Ackerbürger waren, ein Städtchen, das nicht durch Reichtum auffiel. Janna Westerholz vermutet, er könne vom Kirchenneubau gehört und einen Auftrag erhofft haben. Viel Auswahl an Gasthäusern wird es nicht gegeben haben, CZ quartiert sich im Hotel „Preußischer Hof“ (so genannt seit 1822) ein. Der Wirt Heinrich Wilhelm Grevel hat eine hübsche Tochter namens Sybilla Elisabeth (6.4.1825 – 29.7.1910), in die Zucchi sich sofort verliebt, obwohl er zu dieser Zeit noch verheiratet ist (seine erste Frau stirbt am 20. September 1850 in Mainz). Diese Liebe wird erwidert und so heiraten die beiden am 3. Oktober 1851 und werden von Pfarrer Overbeck „zuhause“, d.h., im Gasthaus Grevel, getraut.

Abb. 6 Ehepaar CZ Kopie

Abb. 6: Christian Philipp und Sybilla Elisabeth Grevel

Hier präsentiert sich ein gutbürgerliches Ehepaar. Sybilla Elisabeth nach der letzten Mode der Zeit gekleidet: der Körper wird durch das wiederentdeckte Mieder stark betont, der untere Teil des Kleides ist durch mehrere (das konnten bis zu 6 sein!), teils durch Roßhaar verstärkte Unterröcke extrem stark ausgestellt. Hier paßt kein Mantel mehr, daher trägt die Frau stattdessen die pelerinenartige Rotonde.

Christian entzieht sich dem dernier cri. Er zieht den bequemeren (einreihigen) Gehrock dem Frack bzw. der Redingote vor, die ihn wegen ihrer Körperbetontheit zwänge, einen Schnürgürtel zu tragen, und statt des modischen Vatermörders trägt er einen normalen Kragen mit Plastron. Und seine Frisur ist definitiv zweite Hälfte 19. Jh.: er mag wohl keine Koteletten, Favoris genannt.

Der Eintrag im Kamener Kirchenbuch lautet: Der Witwer Christian Philipp Zucky (Schreibweise eingedeutscht, Duden gab es noch nicht), 40 Jahre alt, katholisch, Einwilligung zur Ehe durch die Mutter schriftlich und Fräulein Elise Grevel, 26 Jahre alt, evangelisch, Einwilligung zur Ehe durch den Vater mündlich.

Das erste Kind des Paares wurde wohl 1852 geboren und auf den Namen Caroline Gertrude Dorothea getauft.

Natürlich bleibt der Maler nun erst einmal in Kamen und malt eine Reihe von Kamener Motiven, Personen und markanten Stellen im Straßenbild. Rolf Fritz erwähnt auf S. 223 a.a.O. auch „eine Ansicht der Zeche Grillo, die damals noch in weiten Kornfeldern lag“. Leider trifft auf dieses Gemälde wohl zu, was er anderer Stelle sagt, daß nämlich CZs Werke „nach seinem Tode in einem Inventar zusammengefaßt, für wenig Geld verkauft  wurden und heute verschollen sind“.

Abb. 7 Am Geist Zucchi Kopie

Abb. 7: Straßenszene „Am Geist” in Kamen, 1850er Jahre

Ein einfaches Bild einer Kamener Straßenszene Am Geist, vor dem Gasthaus seiner Schwiegereltern. Der Gastwirt Grevel steht in der Haustür und verabschiedet Besuch. Seine Frau steht neben der Kutsche und spricht letzte Worte mit den Abreisenden, das Pferd trabt an, ein Hund läuft bellend auf das Gespann zu. Es ist nicht ganz klar, ob die Szene am späten Abend anzusiedeln ist – die Sonne steht schon tief im Westen – oder spät in der Nacht und das Licht vom Mond herrührt. Der Himmel ist zu hellblau für Mondlicht, jedoch die Straße zu leer für den späten Nachmittag oder frühen Abend. Die Straße Am Geist führt nach Süden und öffnet sich in westlicher Richtung auf den Markt. Soweit erkennbar, tragen die Personen Gesellschaftskleidung. Vielleicht reist der Sonntagsbesuch gerade ab, oder Reisende, die im Gasthaus übernachtet haben.

Es ist klar, daß CZ hier eine romantische Kleinstadtszene darstellt, die Häuser wiedergibt, wie sie dort standen. Der Kamener erkennt das Gasthaus noch heute wieder, das ehemalige Hotel König von Preußen, das Hotel Bergheim. CZ beobachtet genau, gibt alles detailgetreu wieder. Die Farbgebung ist zurückhaltend. Der blaue Himmel ist überwiegend von Schleierwolken bedeckt, das Licht scheint von Südwesten oder Westen zu kommen. Das Haus am rechten Bildrand ist dementsprechend in Dunkel gehüllt, steht es doch auf der Westseite der Straße. Auch hier zeigt sich wieder, daß CZ nicht selten ein Problem mit der perspektivgerechten Darstellung hat, doch beweist es gleichzeitig, wie atmosphärisch dicht er malen konnte.

Janna Westerholz berichtet, daß die Familie Bergheim zu erzählen wußte, daß es sich bei der Kutsche um die Hausdroschke handelt, die Hotelgäste über die damals noch unbefestigten Straßen zum Bahnhof fuhr. Das konnte sich nur das erste Haus am Platze, eben der „König von Preußen“, Besitzer Heinrich Wilhelm Grevel, leisten. Mit der Bahn zu reisen, war die modernste Art des Reisens, und Kamen hatte seit dem 2. Mai 1847 einen Bahnhof an der Köln-Mindener Strecke, auch wenn das nach Schinkel gestaltete Bahnhofsgebäude wohl erst später errichtet wurde.

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Abb. 8: Die Vorhalle des Hotels „König von Preußen” im 19. Jh.

Viele seiner Gemälde hingen früher im Hotel „König von Preußen“ der Familie Bergheim an den Wänden der Gaststube. Bergheims erbten als Verwandte der Familien Grevel/Zucchi nach deren Aussterben den gesamten Nachlaß. Am besten bekannt sein dürfte CZ in Kamen für das Altarbild, das er für die damalige „Kirche der größeren evangelischen Gemeinde“, heute Pauluskirche, malte.

Gerade, am 29. März 1849, hatte der Generalsuperintendent D. Franz Friedrich Graeber aus Münster die Kirche feierlich eingeweiht. Am 24. Juni 1849 stellte die Repräsentation der größeren ev. Gemeinde zu Camen dann folgendes fest: „Zur Verschönerung der neuen Kirche ist ein Bild des Malers Zucchi, darstellend die Tröstung des Heilandes am Ölberge, im Werte von 200 Talern als Altarbild aufgestellt. Durch die Gaben hiesiger Bürger ist über die Hälfte des Kostenwertes gedeckt und es wird von den Mitgliedern der Landgemeinden auch noch ein namhafter Betrag erwartet. Repräsentation beschließt die Übernahme des bleibenden Kaufschillingrestes auf die Einnahmen des Klingelbeutels zur allmählichen Tilgung.“ (zit. nach W. Wieschhoff, a.a.O.) Das Gemälde hat die Maße 2,85 m x 2 m. Es ist mit seinem Rahmen in zwei Pilaster eingesetzt, die einen Palmettenaufsatz tragen (ein Dekorelement, das typisch ist für den Klassizismus; Motiv: Hand mit gespreizten Fingern bzw. Fächer aus Blättern).

Abb. 8 Altarbild Pauluskirche Kopie

Abb. 9: Jesus auf dem Ölberge. Altargemälde in der Pauluskirche in Kamen. Gesamtansicht

Der biblische Hintergrund für dieses Altarbild findet sich in Lukas 22, ab Vers 41. Jesus weiß: Es muß an mir vollendet werden, was geschrieben steht. Er ging zum Ölberg, „41kniete nieder, betete 42und sprach: Vater, willst Du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe! 43Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn“.

Das Gemälde bezieht sich auf genau diesen Vers. Links am Bildrand kniet der Engel (Zucchis Braut, Sybille Elisabeth Grevel, soll hier Modell gestanden haben), etwas erhöht, im Licht, das aus dem Himmel auf die Szene herunterscheint, seine linke Hand zum Himmel aufzeigend, bestätigend, wohin Jesus sein Weg führen wird. Die Anatomie dieses Armes ist Zucchi arg daneben geraten. Der Winkel, in dem er gehalten wird, stimmt nicht; der Unterarm ist zu lang geworden; er ist aus der Perspektive gefallen, besonders auch Zeigefinger und Daumen der himmelwärts zeigenden Hand. In der Rechten hält er einen Pokal, der die Stärkung enthält. Der Blick des Engels, aus einem neutralen Gesicht, scheint nicht auf Jesus gerichtet, sondern eher auf seinen Körper in Höhe der Ellbogen. Jesus, noch Mensch, kniet davor auf dem Boden, richtet seinen Blick nach oben. Jesus’ Kopf entspricht der nazarenischen Tradition 5: langes, schmales, eher süßliches Gesicht, langes, dunkles Haar. Die Hände wirken weniger wie zum Gebet gefaltet, sondern wie aus Pein gewrungen. Sein Gesicht sieht glatt aus, hier erkennt der Betrachter keine Pein, keinen inneren Kampf zwischen der Hoffnung des Menschen Jesus und der Ergebung Jesus’ in sein Schicksal als Erlöser. Es ist nicht zu sehen, was Lukas in Vers 44 beschreibt: „Und er rang mit dem Tode und betete heftiger. Und sein Schweiß wurde wie Blutstropfen, die auf die Erde fielen.“ Dieser Jesus ringt nicht mit dem Tode, kein Schweiß fällt wie Blutstropfen auf die Erde.

Abb. 9 Altarbild Pauluskirche Kopie

Abb. 10: Das Altargemälde

In dieser Szene ist Jesus zusammen mit seinen Jüngern. Auf dem Gemälde verschwinden sie fast im Dunkel, obgleich sie eine gewichtige Rolle in Jesus’ letzten Momenten zu spielen haben. Die großen Flächen sind überwiegend dunkel, kaum gestaltet. Und den Falten der Gewänder fehlt räumliche Tiefe, man sieht, daß sie eher flächig gemalt sind. Deutlicher und stimmungsvoll sind die soldatischen Häscher im Hintergrund rechts zu erkennen. Der Dortmunder Kunsthistoriker Dr. Rolf Fritz urteilt: „ … deutlich, daß Zucchi sich hier offenbar übernommen hatte, und zwar sowohl im Thema wie im Format. Beides ging über seine Kräfte.“

Dennoch muß anerkannt werden, daß die farbliche Gestaltung das Gemälde deutlich gliedert, damit der inhaltlichen Ausgestaltung der Szene gerecht wird: himmlisches Licht mit dem weißgekleideten Engel auf der linken Seite, die Verheißung; Düsternis mit dem rotgekleideten Jesus auf der rechten Seite, die noch unerlöste irdische Welt, jedoch erreicht das himmlische Licht schon Jesus’ Gesicht.

Zucchi nahm, soweit bekannt ist, nie wieder einen solchen Auftrag an, sondern malte das, was er am besten konnte: Porträts. Das war ein Gebiet, auf dem er seine Qualitäten als Maler zeigen konnte.

CZ hatte jetzt eine Familie zu ernähren. Das hieß wohl, daß er sich nach einer festen Beschäftigung umsehen mußte. 1853 ist er in Bielefeld, wo er als privater Zeichenlehrer arbeitete. Es gibt im Stadtarchiv Kamen die Kopie einer Zeitungsannonce vom 18. Oktober 1853, in der CZ ankündigt, „wieder (!) eine Zeichenschule“ einzurichten und Familien um Anmeldung zu seinen Malstunden bittet. Und da es immer schon schwer war, sein Leben als freischaffender Künstler zu finanzieren, malt er alles, was an Aufträgen zu ergattern ist. Für den Bielefelder Sammler Westermann z.B. malt er eine um 1850 bei Halle in Westfalen ausgegrabene germanische Urne, die der Sammler später dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg schenkte.

Da es ein Gemälde von ihm gibt, das Dortmund von Norden zeigt und auf 1854 datiert ist, muß er mindestens noch einmal für kurze Zeit zurückgekommen sein.

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Abb. 11: Dortmund von Norden

Diesem Gemälde wird übrigens vom Dortmunder Kunsthistoriker Dr. Rolf Fritz einige Bedeutung zugesprochen. Es ist historisch interessant, weil es  „ein genaues Porträt der Stadt in dem Stadium ihres Wachstums zur vorstadtumgebenen Industriestadt [gibt], in der die ersten Fabrikanlagen und Werkhallen sichtbar werden und zum ersten Mal Schornsteine neben den mittelalterlichen Kirchtürmen emporragen und die vierhundertjährige Silhouette der Stadt verändern.“ Darüber hinaus aber sei es auch künstlerisch von Wert, weil „das gewiß nicht sehr anziehende Motiv […] durch geschickte Komposition, vor allem aber durch flotte malerische Behandlung, die eine gute Handschrift verrät, weit aus der Menge der üblichen Ansichten herausgehoben“ sei.

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Abb. 12: Dortmund von Norden, farbig, am rechten Rand beschnitten

Hier scheint Zucchi, neben der Porträtmalerei, in seinem Element gewesen zu sein. Nichts an diesem Bild wirkt gekünstelt, gewollt. CZ malt, was sich seinem Auge darbietet, nicht, was in seinem Kopf damit geschieht, wie es nur 20 Jahre später Claude Monet in seinem namengebenden Gemälde „Impression, Soleil Levant“ von 1872 tun sollte. Seine Darstellung wirkt realistisch, mit deutlich romantischen Zügen. Die Stimmung ergibt sich aus der Szenerie. CZ wählt eine sehr glückliche Ansicht, die bestimmenden Linien strukturieren das Gemälde. Alles wirkt „richtig“, an seinem Platz. Der helle Streifen am grauen Himmel auf der rechten Seite bildet eine gekonnte Ergänzung der hier eher eingeschränkten Bebauung.

Stellt man dieses Gemälde neben die Ansicht aus Kamen (vgl. Abb. Am Geist) wird deutlich, daß CZ ein viel besserer Maler ist, als es uns das Kamener Altarbild zeigt. Hier stimmt alles: Motivwahl, Anordnung der Landschaft und Häuser, Strukturierung der Bildfläche, Schaffung einer Stimmung, Vermittlung einer Lebenswirklichkeit, selbst (fast) ohne menschliche Gestalten.

Abb. 10a CZ voll Kopie

Abb. 13: Christian Philipp Zucchi in Leipzig

Ein Vergleich mit Monet zeigt aber auch, daß CZ kein Erneuerer der Malerei war.

Bielefeld scheint kein auskömmliches Leben geboten zu haben. 1856 taucht die Familie Zucchi in Leipzig auf, einer lebendigen Großstadt, bekannt durch die größte Messe der Zeit, damals so etwas wie eine Verbindung von Stadt und Welt. Trotz aller Provinzialität – hier spürte man schon so etwas wie eine frühe Globalisierung. Da CZ immer noch Hesse war, mußte er sich wohl, um hier dauerhaft arbeiten zu können, einbürgern lassen. Hier bekamen die Zucchis eine weitere Tochter, Elisabeth Henriette Karoline, die selber Malerin wurde, und einen Sohn, Hermann, der aber schon am 6.6.1869 starb.

In den 1860er Jahren malt CZ eine (die Leipziger?) Familie (Graff?) im Stil des Biedermeier, eine Familienidylle vor einem alten Baum in realistisch-romantischer Hügellandschaft. Das dürfte in etwa die Art Gemälde darstellen, die die reichen Leipziger sich für ihre Wohnung leisteten. Die Motivwahl und die Durchführung sind typisch für CZ in dem Sinne, daß es eben kein Avantgardist war. Heute schmückt es das Wohnzimmer einer Kamener Familie, die auch diese Reproduktion genehmigte. Abb. 12 Zucchi:Graff Kopie

Abb. 14: Die  Familie Graff (?)

Es ist typisches Biedermeier, wenngleich zeitlich verspätet, indem hier eine klare Rollenverteilung vorgenommen wird. Die ältere Schwester (sie trägt keinen Ehering, geringer Altersunterschied) wird umrahmt von den beiden jüngeren, Bruder und Schwester. Die Farben ihrer Kleidung sind von hoher Symbolik: die Farbe ihres Kleides ist blau, die Farbe der Treue, die Himmlisches und Irdisches verbindet, das kostbare Blau des Mantels Marias, ein sehr fein ausgearbeiteter weißer Spitzenbesatz, die sogenannte Berthe, die Farbe der Unschuld, krönt den Ausschnitt. In den Händen hält sie ein weißes Tuch. Ihre Finger zeigen, daß sie mit einer Näh– oder Stickarbeit beschäftigt ist, alle Utensilien liegen griffbereit auf dem Tischchen vor ihr: Nähkästchen, Schere, Stichel. Ihr inniger Blick schweift in die Ferne, bleibt im Bildkontext.

Hinter ihr, ganz in weiß gekleidet, in vollkommener Reinheit und Unschuld, sitzt ihre jüngere Schwester, die rechte Hand in die Armbeuge der älteren gelegt, die linke auf ihrer  Schulter ruhend. Sie schaut sanft und lieb den Maler an, stellt die Verbindung zur Außenwelt, zur Zukunft her. Ihr ist keine Tätigkeit zugeordnet, sie ist passives, liebes Kind. Überhaupt wird den Kinderporträts CZs nachgesagt, sie stellten Kinder immer als „lieb, gefällig, brav, sittsam, anständig, bürgerlich“ dar.

Ganz anders der schwarzweiß gekleidete Bruder, das Schwarz des gelehrten Talars, gepaart mit dem Weiß der Unschuld. Er sitzt vor seiner Schwester, hält ein Buch in seiner Rechten, hat den Zeigefinger zwischen die aktuellen Seiten gelegt, anscheinend vom Maler bei der Lektüre unterbrochen. Seine linke Hand ruht auf dem Kopf eines großen braunen Hundes, wohl des Familienhundes. Auch er blickt den Maler an, jedoch selbstbewußt, entschlossen. Ihm ist eine Karriere abseits von zu Hause gewiß.

Auf dem Tisch vor der Gruppe steht, neben den bereits erwähnten Dingen, eine Vase mit Blumen, eine Blüte scheint herausgefallen zu sein.

Das Gemälde weist eine klare Komposition auf, die von senkrechten Linien dominiert wird, nur der Horizont hält die Waagrechte. Die Frauengesichter wirken bläßlich, vielleicht sogar wächsern, das des Jungen mit seinen roten Wangen deutlich lebhafter. Das Gemälde reiht sich in eine Vielzahl ähnlicher Darstellungen aus dieser Zeit ein, vereint Innigkeit und Repräsentation, weist jedoch eine deutliche idealistisch-romantische Überhöhung auf, weit weg von jedem Realismus. 

Ohne Titel 2

Abb. 15: Die Signatur CZs unter dem Gemälde „Die Familie Graff”, elegant wie der Maler selber

CZ war in den 1840er Jahren in Süddeutschland, 1848 nachweislich bereits in Kamen. Dieses Gemälde ist signiert und datiert: Chr. Zucchi, Juni 1846. Es ist also vorstellbar, daß CZ sich, als er dieses Bild malte, auf dem Weg aus Süddeutschland nach Kamen befand. Dann könnte es sich bei der Mittelgebirgslandschaft im Hintergrund um das Wittgensteiner –, Sieger– oder Sauerland handeln. Das Haus am Bach im Talgrund könnte, entsprechend den Gepflogenheiten der Zeit, das Stammhaus der abgebildeten Personen sein, ein Gutshof, dem sozialen Stand der Familie angemessen.  

Schade, daß so wenig über CZ bekannt ist. Vielleicht schlummert noch manches in irgendwelchen Archiven, doch wird es nur ein (unwahrscheinlicher) Zufall zutage befördern können. Und ob es dann seinen Weg nach Kamen findet?

Ab 1856 ist CZ fest in Leipzig etabliert. Dennoch zieht ihn und seine Familie die verwandtschaftliche Bindung immer wieder nach Kamen. Im Stadtarchiv gibt es das Protokollbuch des Schützenbataillons, das unter dem Datum 25. September 1866 einen Eintrag zeigt, daß Zucchi  „zu Beschaffung eines neuen Transparentes 20 Thlr erhält“. Es geht nicht daraus hervor, ob das Transparent (wohl für das Festzelt) für das vorhergehende Fest (1865) angefertigt wurde oder erst noch angefertigt werden sollte. (Dank an Wolfgang Freese für diesen Hinweis.)

Abb. 12a CZ 1870er Kopie

Abb. 16: Christian Philipp Zucchi in den 1870er Jahren

Während der Leipziger Zeit wird eine weitere Tochter geboren, Elisabeth Henriette Karoline (13./14. 9.1860 – 21.7.1928), die ebenfalls Malerin wird. Die Metropole bot dem Porträtmaler CZ viel Arbeit, da es genug vermögende Bürger gab, die ihre Wohnzimmer schmücken wollten. Und CZ wird in Leipzig anerkannt, er ist beliebt. Aber auch für den Restaurator CZ gab es Arbeit. In der reichen Messestadt besaßen die Bildungsbürger, die reichen Kaufleute und Händler, viele Gemälde, die er auffrischen konnte. Und als es ihm gelang, als Zeichenlehrer an der Städtischen Höheren Mädchenschule angestellt zu werden, war ihm ein regelmäßiges Einkommen gesichert.

Bilder, auf denen CZ seine Familie darstellt, spiegeln eine gutsituierte bürgerliche Familie wieder. Stolz ist ihnen in die Figur geschrieben, die Kleidung ist nach der Mode geschneidert, wirkt teuer, die Wohnungseinrichtung ist solide-bürgerlich.

Am 19.9.1889 stirbt CZ im Alter von 78 Jahren in Leipzig, wo er auch begraben ist.

Rolf Fritz urteilt über CZ abschließend: „Gewiß keine überragende Begabung, keine Entdeckung für die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts, ist er doch ein liebenswertes Talent, ein solider Porträtist, der gelegentlich durchaus eigene Wege geht und in seiner Ansicht von Dortmund und der Zeche Grillo sich Motiven zuwendet, die kaum einer seiner Zeitgenossen gesehen hat.

Westfalen ist in der Mitte des vorigen Jahrhunderts (Anm.d.Verf: d.h., des 19.Jh.) nicht gerade reich an malerischen Begabungen. Insbesondere im Ruhrgebiet fehlen sie fast vollständig. Neben wenigen guten Porträtisten, etwa in Hagen und Mühlheim, steht jetzt die Gestalt des Malers Christian Zucchi. Wenn er auch, wie der Westfale Theodor von Oer, später sein Brot in Sachsen suchte, so ist er doch zeitlebens mit Westfalen verbunden geblieben. In diesem Sinn dürfen wir wohl Christian Zucchi einen Maler in Kamen nennen.“

Und die familiäre Bindung der Familie nach Kamen zeigte sich auch darin, daß seine Tochter Elisabeth, obgleich in Erfurt geboren, immer wieder Kamen besuchte. Es gibt eine Reihe Photographien dieser Besuche. Idyllisch wird die Familie im Garten aufgestellt.

Abb. 13. EZ in Kamen Kopie

Abb. 17: Elisabeth Zucchi (Mitte) zu Besuch in Kamen im Garten des Hotels „König von Preußen, um 1900

Anmerkungen:

1 Andere Quellen geben seine Geburt mit Ende 1810/Anfang 1811 an und die Taufe am 8. Januar 1811.

2 Georg Forster war vor allem Naturforscher, Ethnologe, Reiseschriftsteller, Übersetzer, Journalist und Essayist.

3 Die Bezeichnung „Biedermeier“ war ursprünglich ein Pseudonym, unter dem L. Eichrodt und A. Kußmaul in den „Fliegenden Blättern“ 1855 -1857 literarische Parodien als „Gedichte des schwäbischen Schullehrers Gottlieb Biedermeier“ veröffentlichten, wurde dann auf die Zeit von 1815 – 1848 übertragen, die man als ein Wunschbild bürgerlicher Behaglichkeit sah.

4 Als CZ junger Maler war, schuf Turner in England bereits Gemälde wie „Licht und Schatten“ (1843), die kaum noch Formen erkennen lassen. Und Monet gab mit seinem Gemälde „Impression. Soleil Levant“ von 1872 einer ganz neuen Stilrichtung ihren Namen, dem Impressionismus.

5 Ursprünglich ein Spottname für eine Gruppe deutscher Maler, die in Rom eine Erneuerung der Kunst auf religiöser Grundlage anstrebten. Eine Grundlage war die Rückbesinnung auf die altdeutsche Malerei (Dürer) und die italienische Malerei ) Perugino, Raffael)

Quellen:

Fritz, Rolf, Christian Zucchi, Maler in Kamen um 1850, in: WESTFALEN. HEFTE FÜR GESCHICHTE KUNST UND VOLKSKUNDE. 40. Band, 1962, Heft 1-3, S. 219 ff

Westerholz, Janna, Christian und Elisabeth Zucchi, Streiflichter aus der Kunstgeschichte Kamens, 1997

Wieschhoff, Wilhelm, Das Altarbild in der Pauluskirche, im Gemeindeblatt Der Schiefe Turm, Oktober 1995

Stefan Milk photographierte das Altarbild in der Pauluskirche, „Christus auf dem Ölberg“.

Abbildungen 2 – 4 aus Wikipedia

Abb. 5a: Das Original dieses Gemäldes befindet sich im Besitz des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig, InventarNr. XXV/3; Photographie von Helga Schulze-Brinkop; zur Verfügung gestellt von Rolf Dieter Helgers, Kamen

Alle weiteren Abbildungen entstammen dem Stadtarchiv Kamen.

Das Gemälde „Dortmund von der Nordseite“ von Christian Zucchi befindet sich im Bestand des Museums für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund (Inv. Nr. C 7985), hier reproduziert nach einer Schwarz-Weiß-Photographie, vom Museum zur Verfügung gestellt. Erst später stieß ich dank einem Hinweis von Wolfgang Freese im Stadtarchiv Kamen auf eine farbige Wiedergabe, die allerdings am rechten Rand beschnitten ist, hier aber wegen der Farbgebung trotzdem reproduziert wird.

Dank gebührt dem Stadtarchiv Kamen, das bereitwillig Archivalien und Hilfsmittel zur Verfügung stellte.

KH

Bernhard Heymann – Chemiker aus Berufung

von Klaus Holzer
Photo Heymann

Abb. 1: Bernhard Heymann, 23. April 1861 – 10. Juni 1933

In der Serie des KKK „Kamener Köpfe“ sind bisher so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Buxtorf, Praetorius und Hamelmann erschienen, bedeutende Figuren am Beginn der Neuzeit nicht nur der Kamener, sondern auch der deutschen Geschichte; Männer wie Wienpahl, Reich und Donsbach, die als Industrieller, Stadtplaner und Pfarrer Spuren in Kamen hinterlassen haben; Meschonat, Kett und ihre Gruppe „Schieferturm“, die als Künstler nationale Bedeutung erlangten und deren Werke heute in vielen öffentlichen Gebäuden zu finden sind.

Noch gar nicht vertreten ist die Naturwissenschaft, dabei hat Kamen auch auf diesem Gebiet große Namen aufzuweisen. Als erster soll hier jemand vorgestellt werden, dessen Name wohl keinem Kamener mehr etwas bedeutet: Bernhard Heymann. Er war einer der Chemiker, die Deutschland einmal den Beinamen „Apotheke der Welt“ eingetragen haben.

Abb. 1a J. Heymann

Abb. 2: Das elterliche Geschäft in der Weststraße 20 (lks.)

BH  war der Sohn des Kamener Kaufmanns Isaak Heymann und seiner Frau Sarah Levy, die ihr Geschäft für „Manufakturwaren, Konfektion, Betten, Möbel“ in der Weststraße 20 hatten. Der Familientradition folgend absolvierte Sohn Bernhard, das fünfte ihrer neun Kinder, zunächst eine kaufmännische Lehre, doch befriedigte ihn die damit verbundene Tätigkeit nicht. Also entschloß er sich, das Abitur nachzuholen (in Soest) und zum Studium der Chemie nach München zu gehen. An der dortigen Ludwig-Maximilians-Universität promovierte er bei Wilhelm Koenigs, einem damals bekannten Chemiker, nach dem die Koenigs-Knorr-Methode benannt ist, die eine der bekanntesten Reaktionen der Kohlenhydratchemie ist, und der dem jungen Heymann wohl die ersten Impulse für seine spätere Arbeit gab.

Ohne Titel

Abb. 3: F. Bayer & Co’s in Elberfeld, wo Bernhard Heymann seine erste Stelle hatte

Schon 1889 trat er seine erste Stellung im wissenschaftlichen Laboratorium der Farbenfabriken, vormals Bayer, in Elberfeld (heute Wuppertal-Elberfeld) an. Und nur sechs Jahre später, als er gerade einmal 36 Jahre alt war, wurde ihm die Leitung dieses Forschungslabors anvertraut, von niemand geringerem als Carl Duisberg, dem allerdings heute in mancher Hinsicht umstrittenen Motor hinter der Gründung der IG Farben. Unter Heymanns Führung errang das Institut bald internationales Renommee. Als, auf Betreiben Carl Duisbergs, das Labor nach Leverkusen verlegt wurde (heute als Bayer Leverkusen bekannt, zu dem auch seit 2006 das Bergkamener Schering-Werk gehört), war es Heymann, der im wesentlichen die wissenschaftliche Einrichtung gestaltete, nach den damals modernsten Erkenntnissen, die die großen Erfolge ermöglichten.

Zentrales Arbeitsgebiet war die weitere Erforschung der damals noch jungen Teerfarbenindustrie (damals Anilinfarben genannt; heute faßt man alle künstlich hergestellten organischen Farbstoffe darunter), der organischen Farbstoffe, d.h., der Farbstoffe, die Kohlenstoff enthalten. Die wichtigsten unter seiner Leitung entstandenen Ergebnisse betrafen chemisch-technische Prozesse wie Textilhilfsmittel (zum Färben und zum Veredeln von Textilien, z.B., um sie wasserdicht zu machen), Pflanzenschutz, Kautschukhilfsmittel (um ihm die gewünschten Eigenschaften zu geben wie z.B. Haltbarkeit, Elastizität, Biegsamkeit, Dichtigkeit usw.) und die chemische Katalyse (hier wird die chemische Reaktion mit Hilfe eines Katalysators in Gang gebracht, beschleunigt oder gelenkt).

Schon seit 1913 arbeitete Bernhard Heymann auch persönlich an der chemotherapeutischen Synthese. Unter seiner Leitung gelang Richard Kothe und Oscar Dressel ein Präparat, das gegen den Erreger der Schlafkrankheit wirksam ist. Wilhelm Roehl führte dieses Medikament zur Marktreife. Und Friedrich-Karl Kleine vom Königlich-Preußischen Institut für Infektionskrankheiten führte 1921 in Afrika die Feldversuche durch, mit durchschlagendem Erfolg. Die Weltpresse verglich das Ergebnis mit „biblischen Heilungen“.

1912 wurde Heymann stellvertretendes, 1926 ordentliches Vorstandsmitglied des Bayer-Konzerns.

Abb. 3 Tsetsemeyers1880

Abb. 4: Die Tsetsefliege

Die Schlafkrankheit wird von der Tsetsefliege übertragen und führt nach einem Verlauf in drei Stadien zum Tode. Im Endstadium verfällt der Infizierte in einen schläfrigen Dämmerzustand, woher sich der Name ableitet. Das Medikament wurde zunächst als Bayer 205 eingesetzt und später „Germanin“ genannt. Für diese Entdeckung bzw. Entwicklung erhielt Bernhard Heymann hohe wissenschaftliche Auszeichnungen, u.a. die Ehrendoktorwürde der Universitäten Bonn und  Dresden. Und von Frankreich, damals noch Kolonialmacht, stark in Afrika engagiert, wurde diese Erfindung so bewertet (lt. Brief seines Schwiegersohnes W.E. Brenner vom 14.4.1931): „Sie ist mehr wert als alle Reparationsleistungen.“ Das bezog sich auf die 132 Milliarden Goldmark, damals etwa 47.000 Tonnen Gold, die Deutschland an Reparationen nach dem I. Weltkrieg zu zahlen hatte, zuzüglich 26% des Wertes seiner Ausfuhren!

Der damalige Kamener Bürgermeister, Gustav Adolf Berensmann, gratulierte Bernhard Heymann zu seinem 70. Geburtstag. Er schrieb: „Dem bekannten Wissenschaftler und bedeutenden Sohn unserer Stadt sendet zu seinem 70. Geburtstage die herzlichsten Glückwünsche der Magistrat der Stadt Kamen. gez. Berensmann, Bürgermeister.

Hier die Antwort Heymanns (für alle, die sich an der alten Schrift versuchen wollen, folgen Kopien der Schreiben Heymanns am Ende des Artikels):

Herrn Bürgermeister Berensmann

Kamen i. Westfalen

Sehr geehrter Herr Bürgermeister!

Mit verbindlichem Dank bestätige ich den Empfang Ihres frdl. Schreibens vom 4. ds., sowie Ihrer Verwaltungsberichte für die Jahre 1924-1929. Ich habe die Berichte mit großem Interesse durchgesehen und mich darüber gefreut, daß meine Heimatstadt, die ich als unbedeutendes Landstädtchen in Erinnerung habe, inzwischen sich zu einer mit allen möglichen anderen Einrichtungen ausgestatteten Mittelstadt von ungefähr 12000 Einwohnern entwickelt hat. Ich hoffe, daß die schweren Zeiten, die heute schwer auf uns allen lasten und sicherlich auch Kamen nicht unberührt lassen, die Weiterentwicklung der Stadt nicht auf längere Zeit hemmen werden. Für die frdl. Uebersendung der Zeitungen, die Artikel über mich brachten, spreche ich ihnen meinen besonderen Dank aus.

Sie haben mir, sehr geehrter Herr Bürgermeister, mit Ihrer Aufmerksamkeit eine große Freude bereitet.

Mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung verbleibe

ich Ihr sehr ergebener

B. Heymann

Aus der ZwischenablageAus der Zwischenablage 1

Abb. 5 & 6: Der Dankesbrief Bernhard Heymanns an Bürgermeister Berensmann

 Bernhard Heymann war Vorstandsmitglied der IG Farben. Zusammen mit seiner Frau Johanna liegt er auf dem Friedhof Manfort in Leverkusen begraben.

K H

Textquellen:

Petersen, Siegfried, „Heymann, Bernhard” in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 87 f. [Onlinefassung]

Hermann-Ehlers-Gesamtschule Kamen, Spuren jüdischen Lebens in Kamen von 1900 – 1945, Werne 1998

Dank an den Bergkamener Stadtarchivar Martin Litzinger, der den Dankesbrief Bernhard Heymanns „übersetzte”.

 

Bildquellen:

Stadtarchiv: Nr. 1, 5 & 6

Archiv Klaus Holzer: Nr. 2

Milestones, The Bayer Story 1863 – 1988, Leverkusen 1988: Nr. 3

Wikipedia, Brockhaus 1880: Nr. 4

Hermann Hamelmann – Kamens erster Reformator


Hermann Hamelmann

geb. 1526 in Osnabrück, gest. 26.6.1595 in Oldenburg

von Klaus Holzer
Aus der Zwischenablage

Abb. 1: Frontispiz der Ausgabe der Hamelmannschen Geschichtlichen Werke, Münster 1913

40 theologische, 29 historische und über 100 kleinere Schriften sind die Summe seines langen Schaffens, lokalgeschichtliche und genealogische Arbeiten, solche zur Geschichte des Humanismus und seines Schulwesens, aber auch für die niederrheinisch-westfälische Reformationsgeschichte wichtige Werke, die eine Fülle wertvollen kulturgeschichtlichen Materials enthalten, vieles davon aus mündlicher Überlieferung, das er somit vor dem Vergessenwerden bewahrte.

De sacerdotium coniugio, Dortmund 1554; De autoritate synodorum, Wittenberg 1554; De traditionibus apostolicis veris ac falsis, Frankfurt 1555; De traditionibus apostolicis et tacitis, Basel 1568; De Paedobaptismo, 1572; Illustrium Westphaliae virorum libri, 1564/65; Historia ecclesiastica renati evangelii per inferiiorem Saxoniam et Westphaliam, 1586/87; Hermanni Hamelmanni opera genealogica-historica de Westphalia et Saxonica, ed. E. C. Wasserbach, Lemgo 1711

Abb. 2 Hamelmann Titel

Abb. 2: Hermann Hamelmann, Reformationsgeschichte Westfalens, Münster 1913

Wer heute diese Titel liest, kann wohl nur als Fachgelehrter – Theologe, Historiker, Genealoge – in Aufregung geraten. Der Normalsterbliche steht davor wie der Ochs vorm Scheunentor und wird kaum darauf kommen, daß sie von einem der wichtigsten Reformatoren Westfalens, Niedersachsens, des Niederrheins und Teilen der Niederlande stammen. Und obwohl er kein Kamener ist, hat er für Kamen doch eine ganz besondere Bedeutung, weil er es war, der in unserer Stadt die Reformation einführte. Er war der erste, der das Evangelium nach Luther in Kamen predigte.

Wer war Hermann Hamelmann (HH), und wo kam er her?

Wie das so mit vielen auch der berühmtesten Personen des Mittelalters ist – über ihre Anfänge wissen wir oft wenig bis gar nichts. Schon über das Geburtsjahrs HHs sagten die Quellen lange Unterschiedliches aus, 1525 oder 1526 in Osnabrück geboren. Inzwischen ist 1526 festgestellt. Das genaue Geburtsdatum jedoch ist nicht bekannt. Da sein Vater bei seiner Geburt Canonicus (Chorherr) war, vom Notar umgeschult, wird er wohl dem jungen HH den ersten Unterricht gegeben haben, wie das damals in gebildeten Familien, vor der Einführung der Schulpflicht, üblich war. Anschließend erhielt er Unterricht auf dem Johannisstift in Osnabrück, 1538 – 1540 ist er auf dem humanistischen Gymnasium in Münster, setzt anschließend seine Schulbildung in Emmerich unter dem damals bekannten Matthias Bredenbach fort und findet sich Mitte der 1540er Jahre in der Freien Reichsstadt Dortmund auf der gerade gegründeten, aber bereits bekannten dortigen Humanistenschule. Schon hier wird offenbar der Keim gelegt für seine späteren Wanderjahre, sein ruheloser Geist läßt ihn nirgends lange verweilen. Und weil er nach 1553 unbeugsam die Lehre Luthers verficht, läßt man ihn auch selten lange wirken, zu stark waren noch die Kräfte der Beharrung.

1549 ist er an der Universität Köln immatrikuliert, wo er auch um 1550 zum (katholischen) Priester geweiht wird. Seine erste Stelle erhält er an der St. Servatiuskirche in Münster. Hier fällt er zum ersten Mal durch Kritik am kirchlichen Zölibat auf. Von dort kommt er vermutlich im Frühjahr 1552 nach Kamen und wird 2. Pfarrer an der St. Severinskirche (heute Pauluskirche). Erster (noch katholischer!) Pfarrer war Johannes Buxtorf, der Vater des berühmten Hebraisten, der später wesentlichen Anteil daran haben sollte, daß die Reformation sich in Kamen durchsetzte.


Ohne Titel

Abb. 3: St. Severinskirche, heute Pauluskirche

Er berichtet in seiner von ihm selber 1586 herausgegebenen Reformationsgeschichte: „In der Stadt Kamen lehrte Hamelmann, und da er dort einmal göttlich erleuchtet wurde, bekannte er offen, am Tage Trinitatis im Jahr des Herrn 15521 die wahre Lehre und widerlegte die päpstlichen Irrtümer. Damals war dort der Marschall jener Grafschaft der Edelmann Theodor Reck, der mit den Bürgermeistern und dem Rat, da sie die Rede Hamelmanns gehört hatten, in Verfolgung des Rechtes bestimmte, daß Hamelmann entlassen wurde, da der Landesherr jenes Ortes noch nicht öffentlich irgendeine andere Lehre als die päpstliche zugelassen hatte. So, entlassen der Wahrheit wegen, schied Hamelmann ruhig.“ (Anm. des Verf.: Er predigte über Johannes, Kap. 2, Vers 1 – 17: Über die Herrlichkeit der Gotteskindschaft) Immerhin hatte er es gewagt, in einer Zeit des großen religiösen Umbruchs, einer Reformation, die einer Revolution gleichkam, die bei seiner Predigt Anwesenden zur Annahme der lutherischen Lehre aufzufordern. Wer aber nicht dem „rechten“ Glauben anhing, setzte damals sein Leben aufs Spiel.

HodieHodie Forts.In H und W

Abb. 4: Die Stelle, an der Hamelmann sich über seinen Weggang aus Kamen äußert

Frau Schulze Berge, die Südkamener Ortsheimatpflegerin, Besitzerin des uralten Hofes Schulze Berge, deren Familie schon seit 1486 auf diesem Hof sitzt, erzählt gern folgende Anekdote, die seit Jahrhunderten durch die Generationen der Familie erzählt wird und die sich wahrscheinlich auf HH bezieht: HH war kaum in Kamen angekommen, als er seine erste Prozession den Hilligensteg entlang durch Südkamen führte. Alles nahm seinen gewohnten Gang. HH trug die Monstranz, in der sich eine konsekrierte Hostie befand, vorweg, geschützt unter dem „Himmel“, die Gemeinde folgte ihm. Man betete und sang fromme Lieder. Doch plötzlich stockte Hamelmann, erstarrte. Die ganze Prozession kam zum Stillstand. Plötzlich warf HH die Monstranz weg und rannte davon. Später erzählte er, er habe den Teufel gesehen. Da habe er gewußt, daß er die neue Lehre würde predigen müssen. Wie HH es selber formulierte: „ … da er dort einmal göttlich erleuchtet wurde …“.

Der Erfolg der Reformation war um die Mitte des 16. Jahrhunderts in Kamen zunächst recht gering, sie beeinflußte das friedliche Leben der Bewohner wenig. Die Stadt war für die neue Lehre noch nicht reif, vielleicht ist es auch richtiger, zu sagen, daß das Leben in dieser kleinen Ackerbürgerstadt wesentlich durch gutes Miteinander, gute Nachbarschaft bestimmt war. Die Katholiken hatten nach wie vor Zutritt zur Pfarrkirche, der Severinskirche. Damals scheint noch lange, nämlich bis 1612, als der letzte katholische Vikar aus der alten Zeit starb, katholischer und evangelischer Gottesdienst in der Kirche parallel stattgefunden zu haben.

Es gibt übrigens eine weitere Verbindung zu einem anderen großen Kamener, Johannes Buxtorf, Vater des späterhin so bedeutenden Johannes Buxtorf. „Hamelmann hat 1553 dem Buxtorf die Lebensbeschreibung der Kirchenväter geschenkt und diese Worte hineingeschrieben: Sunt Vitae Patrum et alia, collata D. Johanni Buxtorp Pastori in Camen suo amico et Domino honorando ab Hermanno Hamelman Osnabrugensi, aput Camenses olim Divini verbi ministri 1553“. (Dies sind die Biographien der (Kirchen–)Väter und andere Dinge, zusammengestellt  für Dr. Johannes Buxtorf, Pastor in Kamen, seinem verehrungswürdigen Freund und kirchlichen Würdenträger (wörtlich: im Herrn geehrt), von Hermann Hamelmann aus Osnabrück, einst Diener des Wortes Gottes (=Pfarrer) in Kamen, 1553.“

Buxtorf der Vater

Abb. 5: Die Widmung Hamelmanns für Johannes Buxtorf

Doch HH gab den Anstoß, Luthers Lehre siegte. Der Keim war gelegt, die Saat mußte aufgehen. Nur die Schwestern des Klosters auf der Marienouwe, einige wenige Vicare und ein geringer Bruchteil Laien blieb bei der alten Kirche. Wieder Hamelmann selber in seiner „Reformationsgeschichte Westfalens“: „Inzwischen legte es jener gute Marschall Theodor Reck (der bald völlig umkehrte, um das Jahr des Herrn 1567) den Pastoren dort, Johann Buxtorp und Johann Merkator Schomburg, von Dortmund gebürtig, nahe, daß sie frohgemut anfingen, die Lehre des Evangeliums auszubreiten, die Sakramente gemäß der Lehre Christi in deutscher Sprache zu verwalten und deutsche Lieder zu singen. Ihr frommer Helfer war Johann Wegener, ein gelehrter und ernster Mann“.

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Abb. 6: Hamelmann über die Einführung der Reformation in Kamen

HH ging, erzwungen durch seine Auseinandersetzungen mit den kirchlichen Autoritäten um die Reformation, auf ein Wanderleben, immer auf der „Suche nach der einen Wahrheit“. Seine nächsten Stationen waren Ostfriesland, Braunschweig, Wittenberg, wo er sich mit Melanchthon traf und mit diesem über die Verabreichung und die Einnahme des Abendmahls disputierte, und seine Geburtsstadt Osnabrück. 1554 wurde er Pfarrer an der Neustädter Marienkirche in Bielefeld.

Ohne Titel

Abb. 7: Die Neustädter Marienkirche, Bielefeld

Dort tritt er am Fronleichnamstag 1555 in einer Predigt „über den wahren Gebrauch des Sakraments und seine Einsetzung“ gegen das Herumtragen des Brotes in altgläubigen Prozessionen ein. Es kommt zum Konflikt mit den Stiftsherren und der klevisch-ravensbergischen Regierung. Am 14. August 1555 kam es zur Disputation am klevischen Hof in Düsseldorf mit dem Hofprediger Bomgard und dem Kanzler Vlatten vor seinen Bielefelder Gegnern. Da der herzoglich-klevische Hof der Reformation abgeneigt war, stattdessen an der erasmischen Reform festhielt (Anm. d. Verf.: Erasmus von Rotterdam nahm eine vermittelnde Stellung zu den verschiedenen reformatorischen Bestrebungen ein, lehnte aber Luthers Reform nach dessen Bruch mit der Kirche ab) verlor HH erneut sein Amt.

Er ging im selben Jahr als Pfarrer nach Lemgo, wurde von der Regierung wieder beurlaubt, reiste weiter nach Rostock, um den Licentiatengrad (Anm. d. Verf.: entspricht dem D. theol.) zu erwerben, kehrte nach Lemgo zurück, wo er sich endlich niederlassen konnte. Hier wirkt er bis 1568, gelegentlich unterbrochen, weil er zwischendurch nach Waldeck und Brabant gerufen wird, um dort die Reformation voranzubringen. Schließlich wird er Generalsuperintendent in Gandersheim und endlich Hauptpastor an der Lambertikirche und Generalsuperintendent in Oldenburg, wo er bis zu seinem Tode wirkt. Hier gilt Hamelmann durch den Erlass der ersten oldenburgischen Kirchenordnung, zugleich auch Schulordnung, von 1573 als einer der Vordenker und Begründer des Volksschulwesens. Und seine Oldenburger Chronik („Oldenburgisch Chronicon”) gilt als Standardwerk ihrer Art, und er war der erste, der einen Versuch unternahm, die Bedeutung der Externsteine zu untersuchen.

Während all dieser Jahre war er ein ungemein fruchtbarer Schriftsteller, der über enorme historische Kenntnisse verfügte. Für seine theologischen Polemiken zog er die Kirchenväter heran, auf sie stützte er seine Streitschriften gegen Katholiken, Reformierte und Wiedertäufer. Er kannte sich so gut in der Geschichte der Territorien und der Dynastengeschlechter Westfalens aus, daß er zur wichtigsten, in vielen Bereichen einzigen, Quelle zur Geschichte Westfalens wurde. Seine zwei wichtigsten Werke hierzu sind seine Illustrium Westphaliae virorum libri I – VI (Verzeichnis der namhaften Männer Westfalens, Buch 1 – 6) von 1564/65 und die Historia ecclesiastica renati evangelii per inferiorem Saxoniam et Westphaliam (Reformationsgeschichte Westfalens und Niedersachsens) von 1586/87.

In Kamen ist sein Name heute unbekannt. Lediglich bei Kirchenführungen fällt sein Name als desjenigen, der Kamen zu einer protestantischen Stadt machte, und bei Besteigungen des Schiefen Turms, wo man im ersten Turmboden eine kleine Ausstellung mit erklärenden Worten zum Schaffen Hermann Hamelmanns findet. Auch wenn Kamen nur eine kurze Episode in seinem Leben darstellt, der bedeutendere Teil seines Wirkens sich in Lemgo und vor allem Oldenburg abspielte – er hatte den Mut, sich als erster in Kamen zur Reformation zu bekennen und hat damit die Geschichte dieser Stadt wesentlich beeinflußt. Er hat mehr Aufmerksamkeit verdient.

Klaus Holzer

im Februar 2016

Folgende Quellen liegen dieser Darstellung zugrunde:

Pröbsting, Friedrich, Geschichte der Stadt Camen und der Kirchspielsgemeinden von Camen, Hamm 1901

Thiemann, Egbert, „Hamelmann, Hermann” in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 585

Simon,Theo, Fast 800 Jahre Pfarre Kamen, Westfalenpost 2. 7. 1959

Zuhorn, Wilhelm, Geschichte des Klosters und der Katholischen Gemeinde zu Camen, Camen 1902

Löffler, Dr. Klemens, (Hrsg.) Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke. Kritische Neuausgabe, Bd. II, Münster 1913 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Westfalen), Stadtarchiv Kamen

1 Hier weist Löffler auch nach, daß Hamelmann sich in seiner Darstellung, wann er zum ersten Mal die Reformation gepredigt hat, irrte und gibt den Sonntag Trinitatis (28. Mai) 1553 dafür an.

Bildquellen:

Löffler, Dr. Klemens, (Hrsg.) Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke. Kritische Neuausgabe, Bd. II, Münster 1913 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Westfalen), daraus auch die Faksimiles aller Textpassagen, Stadtarchiv Kamen

Neustädter Marienkirche, Wikipedia

Pauluskirche mit Küsterhaus, Stadtarchiv Kamen

KH