Hans-Jürgen Kistner
Der „Kömsche Bleier“ – eine alte Kamener Symbolfigur
Etwa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gilt der „Kömsche Bleier“ als Kamener Symbolfigur, die neben dem Wahrzeichen „Schiefer Turm“ eine Kamener Besonderheit darstellt. Die genaue Entstehung und Bedeutung dieses Begriffes läßt sich nicht einwandfrei ermitteln, da volksmundliche Entwicklungen nicht aktenkundig werden. Der Begriff enthält zwei Elemente:
- Kömscher: volksmundliches Adjektiv-Attribut für „Kamenscher“ oder „Kamener“; im südlichen Münsterland (Werne etc.) wurde der Begriff „Kam´ske Bleiers“ (o.ä.) verwendet.
- Bleier: hiermit ist offenbar eine heimische Weißfisch-Art gemeint. Unter den heimischen Fischarten gibt es zwei, die dafür in Frage kommen: Brasse, Brachsen oder Blei (Abramis brama) bzw. Plötze oder Rotauge (Rutilus rutilus).Offenbar kann dabei nur die Brasse in Betracht kommen.
Die Frage nach der Fischart scheint jedoch nicht so erheblich zu sein, da der Name „Kömscher Bleier“ ein allein auf die Bewohner der Stadt Kamen angewandter Neck- oder Schimpfname ist. Dieser Name soll den Kamenern insbesondere von den Unnaern nachgerufen worden sein. Die Kamener dagegen nannten die Unnaer „Esel Unna“. Diese Necknamenbildung ist in zahlreichen Gebieten Deutschlands, vor allem in Süddeutschland, relativ häufig. Der Esel taucht dabei offenbar häufiger auf. Von einem Bleier ist bisher weiter nichts bekannt geworden, also liegt hier etwas sehr Eigentümliches für Kamen vor. In älteren Zeitungsartikeln wird der Name „Bleier“ auch mit verbleuen = verprügeln gleichgesetzt, da die Kamener in Unna oft verprügelt worden sein sollen. Eine weitere These zur Erklärung wird von „bläuen“ (= blaufärben) abgeleitet, da nahe der Seseke Wiesen vorhanden gewesen sind, auf denen die Leinwand gebleicht, aber auch nach dem Blaudruck getrocknet worden sein sollen. Die Herleitung des Namens von einem Fisch scheint angesichts des ehemals fischreichen Flusses Seseke jedoch einleuchtender. Außerdem hat die Stadt Unna kein besonderes Fließgewässer wie die Sesekestadt Kamen zu bieten. Otto Prein (1867-1945), der u. a. Pfarrer in Methler war, hatte sich intensiv mit den Flur-, Straßen- und anderen Namensbildungen befasst. In seinem bisher unveröffentlichten Manuskript „Lagen die ‚Langen Brücken’ des Cäcina vom Jahre 15 n. Chr. bei Kamen?“[1] geht er auch ausführlich auf den Kömschen Bleier und den Esel Unna ein. Prein vermutet die „pontes longi“ am Sesekeübergang bei Kamen, da dort das „Langebrüggentor“ mit einem Knüppeldamm über das Gewässer führte. Der Name der Stadt Kamen leitet sich nach Prein vom romanisch-keltisch-lateinischen Caminus (franz. Chemin) = Weg ab. Wenn man sich die alten Wegeverläufe anschaut, bildete Kamen in der Tat für lange Zeit den einzig passierbaren Flussübergang zwischen Unna und dem Hellweg im Süden und den märkischen Städten Hamm und Lünen im Norden. Lange vor der Stadtbildung waren Burg und Kirche nahe dem Sesekübergang an der wichtigen Nord-Süd-Verbindungstraße vorhanden gewesen. Doch lassen wir Preins Theorie selbst unverfälscht zu Wort kommen: „Weitere Aufschlüsse erhalten wir über die alten Straßen am Ort, wenn wir noch weiterhin die religiöse Volkskunde in Anspruch nehmen und auf das ihr so geläufige ‚Schwarz-Weiß-Verfahren’ eingehen. Es ist kein Zufall, das wir in Kamen eine ‚Dunkle’ und eine ‚Weiße’ Straße haben, deren Erklärung uns nicht etwa gegeben ist durch äußere Erscheinungen der Bodenfärbung. Ich wage es auch, hier die Frage anzureihen, ob etwa die zum Spottwort herabgesunkene Bezeichnung ‚Bleiern-Kamen’ oder ‚Kömsche Bleier’ zur Beleuchtung unserer Probleme mit herangezogen werden darf. Ich vermute, dass der Zusammenhang, in dem dieser Beiname Blei – auf Grund uralter Volksüberlieferung auftaucht, um sich bis heute darin zu erhalten, keineswegs dem Bedürfnis neckischer Verspottung entstammt, sondern vielmehr auf sehr ernst zu nehmende historische Voraussetzungen zurückgeht. Die Aneinanderreihung der mit charakteristischen Beiworten versehenen Örtlichkeitsnamen in ihrer heutigen plattdeutschen Form lautet ‚Isel – Unna’ (Esel – Unna), ‚Bleiern – Komen’ (Bleier – Kamen), ‚Tauen – Meidel’ (Turm – Methler), ‚Hexen – Wesch’ (Hexen – Westick). Im Rahmen unserer Untersuchung kann ich bezüglich der übrigen Orte (außer Kamen) nur fragen: ist wirklich die Überlieferung Isel – Esel die ursprüngliche? Man hat in späteren Jahren, als in Königsborn die Salzgewinnung aufkam und bei den in bedauernswertem Zustand sich befindenden Zufuhrstraßen die Packesel mit den Salzsäcken Gegenstand des Mitleids wurden, jenen Stadtbeinamen auf diese Esel bezogen, damit aber einen Anachronismus begangen, weil der Name ‚Isel’ älter ist.“ Prein leitet dagegen „Isel“ von Eisen ab (vgl. Iserlohn[2]), dessen Erz sowie auch fertige Eisenprodukte schon in der spätrömischen Kaiserzeit aus dem Sauerland über Unna und Kamen zur Lippe verbracht wurden. Auch den „Bleier“ bringt Prein mit einem Metall, nämlich dem Blei, in Verbindung. Die Römer nannten das Blei plumbum nigrum, was auf einen schwarzen Farbton hinweise. Die Farbe Schwarz habe in der Vergangenheit im kirchlichen Sprachgebrauch die Bedeutung für Heiden gehabt, das Weiß für die Christen (die Farbe von Widukinds Westfalenross wandelte sich erst von schwarz in weiß, als er im Jahr 785 Christ wurde). Kurz gesagt, seien die dunklen und schwarzen Wege ein Hinweis auf die Wege der Heiden, hier also der Römer. In der Dunklen Straße in Kamen und dem Bleier sieht Prein also eine enge Verbindung mit den Römerwegen. Die Ableitung des Bleiers von einer Fischart schließt er damit aus. Auch im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm finden sich Hinweise, die man für die Erklärung des „Kömschen Bleiers“ näher betrachten kann. Danach benutzte die ältere Bergmannssprache das Wort „Bleier“ für das Metall Blei oder im Plural „die Bleie“.[3] Darüber hinaus wird „bleiern“ auch symbolisch für schwer und unbeweglich verwendet. Wie dem auch sei, selbst wenn wir die ursprüngliche Entstehung und Bedeutung des „Kömschen Bleiers“ heraus bekommen könnten, bleibt seine volkstümliche Deutung als Fisch heute eine andere. Das gilt auch für den „Esel Unna“. Es wäre auch schade, da sie doch so eher liebenswürdig erscheinen. In der schriftlichen Überlieferung taucht der „Kömsche Bleier“ offenbar erst 1886 auf. In diesem Jahr finden sich die „Fidelen Bleier“ und das Kamener „Fischvolk“ zu einer Karnevalssitzung ein.[4] Seit Beginn der 1950er Jahre führte das Kamener Gymnasium den Kömschen Bleier (aus einem „G“ stilisierter Fisch) auf dem Sporttrikot. Die Schülerzeitschrift nannte sich zeitweilig „Schuppe“, verbunden mit dem Fisch. Der Schützenverein Kamen verleiht seit 1973 verdienten Kamener Bürgerinnen und Bürgern den Kömschen Bleier als Orden. Der Kamener Shanti-Chor nennt sich seit einiger Zeit „Kömscher Bleier“. Künstlerisch wurde unser Fisch von Lothar Kampmann verarbeitet, als er Ende der 60er Jahre eine Stahlskulptur schuf, die den Kömschen Bleier darstellt. Sie stand lange Jahre am Postteich. Die Kamener Arche, eine historische Arbeitsgemeinschaft, die sich mit der Erforschung und Erhaltung der Kamener Geschichte und Tradition befaßt, hat dies zum Anlass genommen, das „Kömsche-Bleier-Essen“ 1995 ins Leben zu rufen, das nun alljährlich im Frühjahr als Fischessen angeboten wird. [1] „Neue Forschungen und Vermutungen von O. Prein“, Münster i. W. [ca. 1938; HJK].Unveröff. Manuskript im städt. Gustav-Lübke-Museum Hamm. [2] So auch das Iserlohn-Lexikon, Iserlohn 1987, S. 48 f. u. 55 f. [3] Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Göttingen 1854 ff.; Bd. 2, Sp. 88 f. [4] Märkische Zeitung v. 3.3. und 6.3.1886.