Archiv der Kategorie: Zeitzeichen

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: 70 Jahre gelebte Freiheit und Demokratie.

Bei der folgenden Zusammenfassung handelt es sich um Teil IV des 15. ZZ des KKK, verfaßt und vorgetragen von Dr. Heinrich-Wilhelm Drexhage

Am 23. Mai 1949 wurde in Bonn vom Parlamentarischen Rat das Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland verkündet. Dieses Datum markiert den Beginn der längsten Periode von Frieden, Freiheit und Demokratie in der Geschichte Deutschlands.

Abb. 1: Der Parlamentarische Rat

Dieses GG ist auf den schrecklichen Erfahrungen der deutschen Geschichte aufgebaut: wie die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, zwischen den extremen rechten und linken Parteien zerrieben wurde, zu ihrem Spielball wurde, obgleich, oder auch weil, sie in ihrer Verfassung eine besonders freiheitliche Grundordnung aufwies. So scheiterte sie wegen ihrer großen Liberalität und ging schließlich im Wüten der Nationalsozialisten unter. Damit gab es keine Freiheit mehr. 

Erst nach der Zerstörung Deutschlands besannen sich die Männer und Frauen des Parlamentarischen Rates auf die Ideen der Denker früherer Jahrhunderte und verfaßten ein GG, das allgemeine Gültigkeit beanspruchte. Daher lautet der erste, so einfache, aber folgenschwere Satz des GG:  Art. 1(1) „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Damit ist der Grundton vorgegeben: der einzelne Mensch steht im Mittelpunkt alles staatlichen Handelns. Ein Satz mit einer Tragweite, der sich in keiner anderen Verfassung in der Welt findet. Die Menschenwürde ist als „vorstaatlich“ gegeben, als von Natur aus vorhanden.

Weitere grundlegende Artikel: Art. 2 (1) „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“

Art. 4(1) „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“

Art. 5: (Meinungs-, Informations-, Presse-, Rundfunk-, Film-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit)

(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugängigen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Diese Grundrechte bilden den Prüfstein für ein funktionierendes Staatswesen und eine freie pluralistische Gesellschaft. Da das Bunderverfassungsgericht festgestellt hat, daß das „Kommunikationsrecht zu den vornehmsten Menschenrechten überhaupt“ gehöre, werden die Grenzen hier sehr weit gezogen. Es gibt nur sehr wenig, was in Deutschland nicht gesagt werden darf, das wichtigste: Leugnung des Holocausts und Verherrlichung des Nationalsozialismus sind unter Strafe gestellt, Ergebnis historischer Erfahrung.

(Zusammenfassung von Klaus Holzer)

Bildquelle: Abb. 1: Bundesarchiv

Freiheit: ein kurzer kultur– und ideengeschichtlicher Überblick

Bei der folgenden Zusammenfassung handelt es sich um Teil III des 15. ZZ des KKK, verfaßt und vorgetragen von Dr. Heinrich-Wilhelm Drexhage

Der Begriff der Freiheit: Kurzer kultur- und ideengeschichtlicher Überblick

Im zweiten Teil des Abends gab Dr. Drexhage einen Überblick über die Entwicklung des Begriffs der Freiheit in den letzten zweieinhalbtausend Jahren, beginnend mit Perikles (um 500 – 429 v.Chr.) in der klassischen griechischen Antike. Er erläuterte ausführlich das Verständnis von Freiheit dieses bedeutenden Staatsmannes und wie sich dieser Begriff im Alltag Athens darstellte: die griechische Polis ist der Schlüssel zum Verständnis der griechischen Antike und ihrer politischen Kultur. In ihr gab es zum ersten Mal eine freiheitliche demokratische Grundordnung, die alle Männer, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und gesellschaftlichen Stellung, in die politischen Entscheidungsprozesse einbezog.

Abb. 1: Perikles & die Akropolis

Im römischen Reich hat es hingegen niemals eine demokratische Verfassung gegeben, allenfalls eine gewisse Unabhängigkeit der „coloniae“, der Städte, in Deutschland Köln, Xanten und Trier. Immerhin stellten Marc Aurel und Seneca, die die um 300 v.Chr. gegründete griechische Philosophenschule der Stoa für Rom adaptierten, fest, daß es für den Menschen keine äußere Freiheit geben könne, da er ihre Voraussetzungen nicht kontrollieren könne, weswegen seine innere Freiheit entscheidend sei. 

Abb. 2: Seneca & Marc Aurel

Im Hochmittelalter herrschte eine streng gegliederte Ständeordnung, die kaum Freiheit ließ. 90% der Bevölkerung waren Bauern und damit „Unfreie, Leibeigene, Hörige“. Erste Ansätze gab es in England, wo 1215 die „Magna Charta Libertatum“ („Große Urkunde der Freiheiten“) dem Adel grundlegende politische Freiheiten gegenüber dem König verbriefte.

In Deutschland verfaßte zwischen 1220 und 1235 der Ritter und Rechtskundige Eike von Repgow das Rechtsbuch „Sachsenspiegel“, in dem er feststellte: „Als man zum ersten Male Recht setzte, da gab es noch keinen Dienstmann und waren alle Menschen freie Leute […]. Ich kann es auch mit meinem Verstande nicht für Wahrheit halten, daß jemand das Eigentum eines anderen Menschen sein soll.“

Abb. 3: Eike von Repgow

Und als im 12. Jh. in Deutschland mehr und mehr Städte, und damit Bürger, entstanden, gab es auch immer mehr Freiheit: „Stadtluft macht frei.“

Im Spätmittelalter begannen die Menschen zunehmend, ihre Unfreiheit als bedrückend, als Belastung zu empfinden, was in den Bauernkriegen 1525 kulminierte. Die Aufstände wurden jedoch von den Fürsten brutal unterdrückt, die Feudalordnung hatte weiter Bestand.

Abb. 4: John Locke

Erst die Aufklärung bringt deutlichen Fortschritt. Ein früher Aufklärer, der Engländer John Locke (1632 – 1704) beschrieb die Grundvoraussetzungen für eine gedeihliches Staatswesen: dieses habe nur den Zweck, Freiheit, Eigentum, Leben und körperliche Unversehrtheit seiner Bürger zu schützen. Und er formulierte as erster, alle Gewalt im Staate müsse vom Volk ausgeübt werden.

In Frankreich war es vor allem Montesquieu (1689 – 1755) der die Grundlagen für den modernen Verfassungsstaat legte. Sein Landsmann Voltaire (1694 – 1778) kämpfte zeitlebens für Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz.

Abb. 5: Immanuel Kant

In Deutschland war es vor allem Immanuel Kant (1724 – 1804), für den Freiheit, Vernunft bzw. Verstand zentrale Begriffe seiner Philosophie waren: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Daher gelte: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Und weiter: „Zu dieser Aufklärung wird aber nichts mehr gefordert als Freiheit […], nämlich die, von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Der öffentliche Gebrauch der Vernunft muß jederzeit frei sein und der kann allein Aufklärung unter Menschen zustande bringen.“ Damit war die Grundlage für die Würde des Menschen und seine Freiheit gelegt.

Abb. 6: John Stuart Mill

Besonders wirkungsmächtig war im 19. Jh. der englische Philosoph und Politiker John Stuart Mill (1806 – 1873). Er legte überzeugend dar, daß menschliches Glück entscheidend vom Grad der Freiheit abhänge, die in einem liberalen Staatswesen gewährt werde. Nur in zwei Fällen dürfe man sich in die Handlungsfreiheit eines Menschen einmischen: um sich selber zu schützen oder die Schädigung anderer zu verhindern. Das ist sein noch heute in der anglo-amerikanischen Welt akzeptiertes Mill-Limit.

(Zusammenfassung Klaus Holzer)

Bildquellen: Abb. 1: N. Harris, Antikes Griechenland; Abb. 2: Gipsabdruck Archäologisches Museum Münster, J. Martin, Das alte Rom (Marc Aurel); Abb. 4,  5 & 6: Wikipedia

Anderer Begriff von Freiheit in GB & den USA

von Klaus Holzer

V. Andere Begriffe von Freiheit in GB & USA

Das Verständnis von Freiheit ist, wie andere Dinge auch, eng mit der eigenen historischen Erfahrung verknüpft. Es gibt eben doch Dinge, die mit dem Begriff der Nation zusammenhängen. Wer wollte leugnen, daß das Leben, die typischen Dinge des Alltags wie auch der grundsätzlichen Ideen, in anderen Länder andere sind als bei uns. Ich weiß, das gerät in die Nähe des politisch verbrannten Begriffs der Leitkultur, aber ich glaube, daß das vor allem daran liegt, daß er schnell mit deutscher Überlegenheit assoziiert wurde, mit „Deutschland, Deutschland über alles“. Was wiederum dem Engländer selbstverständlich ist: Man begegnet immer wieder dem dankbaren Stoßseufzer: Was für ein Glück, daß ich als Engländer geboren bin. Oder den Amerikanern, die sich in „God’s own country“ wähnen. Und wer wollte ernsthaft bestreiten, daß das Leben in Frankreich oder Italien oder Spanien oder England sich erheblich von dem hier unterscheidet?

Auf unterschiedlichen historischen Erfahrungen ergeben sich auch unterschiedliche Auffassungen von Freiheit:

GB:

Abb. 1: Zwei Flaggen vereint – ein Land entzweit

Die Briten streben u.a. deswegen aus der EU, weil nicht wenige von ihnen immer noch Ideen des Empire nachhängen, Ideen von Weltmacht, Unabhängigkeit. Seit 1066 ein Reich, mit zentraler Regierung, wurde nie erobert, hatte nie eine Invasion zu erleiden, war immer selbständig, erträgt also keine supranationale Institution, deren Spielregeln sie zu folgen hätte, war Sieger in beiden Weltkriegen, wurde dabei arm, verlor aber nie seine Würde, zieht daraus sein Selbstbewußtsein.

Abb. 2:  Pro-Brexit-Demonstration

Abb. 3: Anti-Brexit-Demonstration

Ein weiterer Grund ist das englische Recht: englische Richter sind absolut unabhängig: sie entscheiden auf der Grundlage des Common Law (vgl.a. common sense, heute zunehmend durch statute law ergänzt), d.h., durch Präzedenzfälle geprägt, womit jedes Urteil tendenziell wieder zum Präzedenzfall wird. Sie möchten nicht vom EuGH mit seinem geschriebenen Recht abhängig sein.

Abb. 4: Magna Charta, 1215

Ein bedeutender Teil der Magna Carta (Magna Charta oder Magna Carta Libertatum, dt. „Große Urkunde der Freiheiten“) ist z.T eine wörtliche Kopie der Charter of Liberties Heinrichs I. von 1100, die dem englischen Adel bereits entsprechende Rechte gewährte. Die Magna Carta verbriefte grundlegende politische Freiheiten des Adels gegenüber dem englischen König, also hat GB auch eine 900-jährige Geschichte der Freiheit; daher kommt wohl auch wenigstens z.T. die Aversion der Briten gegen die EU mit ihrem beträchtlichen Demokratiedefizit.

Die Mehrheit der Briten wehrt sich entschieden gegen die Einführung von Personalausweisen, weil sie die als zu starke staatliche Kontrolle empfinden, es gibt kein Meldesystem, z.B. bei Umzug; ein Problem dabei: es gibt kein abschließendes Wählerverzeichnis, man läßt sich registrieren, das wird durch das Kataster vollzogen: Fragebögen kommen in jedes Haus und Wahlberechtigte bekommen dann ihre voting card.

In einem Roman von 1855 (The Warden, Anthony Trollope) wird ein ganzes Kapitel der Macht der Presse gewidmet, und „Pressefreiheit“ kommt ausdrücklich darin vor! Und daß jedermann sein Recht vor Gericht erstreiten kann!

Meinungs- und Redefreiheit auch in GB heute in Gefahr, beschnitten zu werden: am 23.2.19 las der nigerianische Prediger Oluwole Ilesanmi in London aus der Bibel und predigte öffentlich darüber, was gesetzlich erlaubt ist. Ein Moslem nahm Anstoß daran, weil er den Islam verhöhnt glaubte. Er rief die Polizei, die den Prediger gesetzwidrig festnahm, in Handschellen fesselte und weit außerhalb Londons einfach aussetzte. Zunehmend ist konkurrierende Gesetzgebung aus politisch korrekten Gründen zum Problem für Presse- und Redefreiheit.

USA:

Abb. 5: Declaration of Independence

We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.

Die erste deutsche Übersetzung der Unabhängigkeitserklärung veröffentlichte einen Tag nach ihrer Verabschiedung die deutschsprachige Zeitung Pennsylvanischer Staatsbote in Philadelphia. Sie gab diesen Abschnitt folgendermaßen wieder:

„Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“

Entscheidend: Freiheit ist nach dem Leben das erste unveräußerliche Recht, und das 1774! Noch vor der Französischen Revolution! Zu einer Zeit, da es in Deutschland noch ca. 300 Staaten gab, Hunderte reichsunmittelbare Ritter, dazu die reichsfreien Städte, bis auf diese alle absolutistisch eingestellt.

Abb. 6: Die Unabhängigkeitserklärung wird verfaßt (lks. Benjamin Franklin)

Wahlrecht: Die Amerikaner wählen den mächtigsten Mann ihres Landes, den Präsidenten nicht selber, sondern das tut ein Wahlmännergremium (electoral college).

Hintergrund: Die ersten Wahlen fanden im 18. Jh. statt, da konnten keine allgemeinen Wahlen auf Millionen Quadratkilometern organisiert werden. Es wurden in allen Regionen Männer gewählt, die dann nach Washington reisten und den Präsidenten wählten. Heute eher unpraktisch, doch gibt man seine Traditionen nicht so leicht auf, weil man, wie die Engländer, eine ungebrochene Geschichte hat. 

Abb. 7: The Puritans

Pilgrim Fathers – Puritans: Die ersten Einwanderer waren wegen religiöser Verfolgung und Unterdrückung aus England geflohen, daher war es für sie besonders wichtig, „to worship God in their own way“.

Grundsätzlich: Der Kongreß garantiert „absolute Religionsfreiheit, uneingeschränkte Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit; jeder Glaube muß frei sein: Scientology bei uns vom Verfassungsschutz beobachtete Sekte, dort Kirche (es braucht, es gibt keine staatliche Anerkennung, jeder kann seine Kirche gründen), daher auch kein Blasphemiegesetz; heute strikte Trennung von Kirche und Staat, keine Kirchensteuer, dafür religiöse Privatschulen oder Sunday Schools; es gibt in den USA keine religiösen Feiertage außer Weihnachten (Thanksgiving ist nicht religiös begründet)

Abb. 8: The Cowboy

Frontier/Westward Ho!: Der Cowboy, die Inkarnation des Westward H0! Eroberung des unerforschten Westens ohne staatliche Organisation und Rechtsrahmen verlangte privates Handeln in absoluter Freiheit, z.T. als Willkür, nur mit Waffengewalt –  daher ist das Recht auf Selbstverteidigung heute noch verfassungsmäßig garantiert.

First Amendment (to the Constitution): 

Congress shall make no law respecting an establishment of religion or prohibiting the exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press;  or of the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.

(Der erste Zusatz (zur Verfassung)Der Kongreß soll kein Gesetz erlassen, das die Gründung einer Religion zum Gegenstand hat oder die freie Ausübung derselben behindert; oder die Redefreiheit beschneidet, oder die Pressefreiheit; oder das Recht der Menschen, sich friedlich zu versammeln, und eine Petition an die Regierung zu richten, um die Abstellung von Mißständen zu verlangen.)

Second Amendment:

A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed.

(Der zweite Zusatz: Da eine wohlgeordnete Bürgerwehr für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.)

Die USA haben ein ganz anderes Verständnis von Freiheit als wir: Sie kennen kein Feudalwesen mit Bindung an Herkunft, Namen und Überlieferung, während Europa sich doppelter Gefahr ausgesetzt sah, weil es ja keine Verfassungen, und damit Rechtssicherheit, gab: nach oben zu schielen, sich Fürstenlaunen und Herrengunst anzupassen, was bedeutete, daß man nach unten sich den aufstrebenden Teilen des Volkes gegenüber abriegelte und auf gesellschaftliche Vorrechte pochte. Ergebnis: Liebedienerei und Erbengesinnung statt freiheitlichen Denkens in Deutschland.

Abb. 9: Absolute Rede- und Demonstrationsfreiheit

Absolute Meinungs- und Redefreiheit: In Deutschland sind nationalsozialistische Haltung/Äußerungen/Symbole verboten. 

(In Estland und Lettland sind sowjetische/kommunistische Symbole verboten, beides aus der historischen Erfahrung heraus; ein aktuelles Beispiel: Die NATO stellt Truppen an den Grenzen zu Rußland auf. Bei uns wird das von vielen heftig als Kriegstreiberei kritisiert, bei Polen und Balten dagegen als Garantie für Freiheit angesehen, nämlich wegen ihrer ganz besonderen Erfahrungen mit der UdSSR bzw. Rußland.)

Das Verbot resultiert aus unserer historischen Erfahrung, in USA jedoch sind diese Gedanken durch Meinungsfreiheit gedeckt: nur weil jeder Idiot seine wirre Meinung frei sagen darf, darf ich auch sagen, was ich will; z.B. hat der Supreme Court festgestellt: Die amerikanische Flagge steht u.a. für das Recht, diese Flagge zu verbrennen. Der Engländer Richard Williamson, früherer Bischof der Piusbruderschaft, bestritt 2009 im schwedischen Fernsehen den Holocaust. Er wurde in D dafür zu 1800 Euro Geldstraße verurteilt, ging bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit der Begründung dagegen an, seine Äußerung sei durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Im englischen und amerikanischen Denken ist es nicht die Aufgabe des Staates, die richtige Interpretation von Geschichte vorzugeben.

Die Tatsache des Holocausts wird in beiden Ländern anerkannt, doch ist seine Leugnung nicht strafbar.

Dieses sind nur einige Aspekte, den Unterschied in der Denkweise und staatlichen Organisation betreffend. Ich hoffe aber, daß zumindest im Ansatz deutlich geworden ist, wie diese Unterschiede zustand gekommen sind.

KH

Bildquellen: Abb. 1: The Spectator, April 2019; Abb. 2 – 4, 8 & 9: Wikipedia; Abb. 5 – 7: Wikimedia Commons;

Zum Fall der Berliner Mauer vor bald 30 Jahren: das 15. ZZ des KKK

von Klaus Holzer

Als am 15. Juni 1961 Walter Ulbricht, Vorsitzender des Staatsrats der DDR und Erster Sekretär der SED und damit mächtigster Mann im Staate, auf einer Presskonferenz von einer Frankfurter Journalistin gefragt wurde, ob er die Staatsgrenze der DDR befestigen wolle, antwortete der: „ …. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Selten hatte die Aussage eines Staatsoberhaupts kürzere Lügenbeine. Zwei Monate später begann die DDR, um Ostberlin eine Mauer zu errichten, den Ostteil der Stadt vom Westteil abzuschneiden.

Abb. 1: Checkpoint Charlie, 27. Okt. 1961

Am 21. Oktober 1961 stand die Welt dicht vor einem Krieg zwischen Ost und West, der leicht hätte atomar werden können: 30 amerikanische und 30 sowjetische Panzer standen sich in Berlin am Checkpoint Charlie gegenüber, und die Entscheidung über Krieg oder Frieden lag plötzlich bei den zwei Panzerkommandanten. 24 Stunden Warten, bis beide Seiten ihre Panzer zurückzogen. Immerhin hatte der Zwischenfall aus westlicher Sicht einen Vorteil gebracht: es war damit klar, daß Ostberlin nicht „die Hauptstadt der DDR“ war, wie die Regierung der DDR es immer wieder behauptete, sondern der Sowjetunion unterstand, d.h., immer noch Teil des Viermächtestatus’ ganz Berlins war.

Abb. 2: Die drei Alliierten Führer in Potsdam

(17. Juli – 2. Aug. 1945)

Wie konnte es zu dieser Situation kommen? Nach dem verlorenen Krieg wurde Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt, Berlin entsprechend in vier Sektoren. Von Anfang an war die Berliner Situation besonders schwierig, weil es von sowjetisch kontrolliertem Territorium umgeben war. Weil sich die Lebensverhältnisse zwischen Ost und West weit auseinander entwickelten, und das bezog sich nicht nur auf die wirtschaftlichen Verhältnisse, zog es zunehmend mehr Ostdeutsche in den freien und reicheren Westen. Zwischen 1949 und 1961 verließen rund 2,9 Mill. Menschen den Osten, vor allem gut ausgebildete Arbeiter und Akademiker, die auf beiden Seiten gute Chancen besaßen. Allein im Juli 1961 flüchteten ca. 30.000 Menschen, d.h., etwa 1.000 am Tag im Durchschnitt. Zu einer weiteren Schwächung des Ostens trug das wirtschaftlich voll gerechtfertigte Wechselkursverhältnis der Mark der DDR und der D-Mark (der Deutschen Mark West) bei, das damals 4:1 betrug. So kam es zum Abfluß von Waren und zum illegalen Geldumtausch. Die DDR stand damit vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Da sah das ZK der SED keinen anderen Ausweg als die totale Abschottung seines Landes gegenüber dem Westen, mit Zustimmung der Sowjetunion.

Abb. 3: Bau der Mauer (13. Aug. 1961)

Das Ergebnis war die Berliner Mauer, monströses Symbol barbarischen Denkens. Am 13. August 1968 baute die DDR unter dem Schutz von Volkspolizei und Nationaler Volksarmee eine rund 160 km lange Mauer um Ostberlin, mit 296 Beobachtungstürmen und vielen weiteren technischen Einrichtungen, die „Republikflucht“ verhindern sollten, zusätzlich zu der 1.360 km langen Zonengrenze. Ein Land mauerte also seine Bürger ein, machte sie zu Gefangenen im eigenen Land, nahm ihnen viele Rechte, Dinge, die im Westen längst selbstverständlich waren und offenbar ein menschliches Grundbedürfnis darstellen. Das Ergebnis: ca. 180.000 DDR-Bürger flohen trotzdem in den Westen, an der Berliner Mauer wurde eine nicht genau bekannte Zahl an Flüchtlingen getötet, man schätzt zwischen 130 und 269. Der Drang nach Freiheit und besserem Leben läßt Menschen alles riskieren.

Abb. 4: Tote an der Mauer (17. Aug. 1961: Peter Fechter)

In dieser politisch auf Dauer unerträglichen Situation kam es in den Folgejahren auf Grund verschiedener politischer Initiativen und Verträge zu einer gewissen Entspannung zwischen Ost und West. Hier ist vor allem Willy Brandts Ostpolitik zu nennen. Einen wichtigen Augenblick gab es am 12. Juni 1987, als der damalige US-Präsident Ronald Reagan bei einer Rede an der Mauer die Worte sprach: „Mr Gorbachov, tear down this wall.“ Was aber damals niemand ernst nahm. Reagans Worte wurden als bloße Pflichtübung verstanden.

Abb. 5: Ronald Reagan: „Mr Gorbachov, tear down this wall.“

Dann aber kam es kurz vor dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR im Sommer 1989 in vielen Großstädten Ostdeutschlands zu Massendemonstrationen, auf denen die Menschen Reisefreiheit für alle forderten, auch das Recht, in den Westen zu reisen. 

Der Drang der Ostdeutschen, endlich frei zu sein, wurde immer stärker. Vor allem in Leipzig versammelten sich mehr und mehr Menschen auf den Straßen und protestierten gegen das SED-Regime. Als Katalysator fungierte hier besonders die Leipziger Nikolaikirche, die zu jener Zeit bereits eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Unzufriedenen hatte. Schon lange vorher hatte ihr Pastor Christian Führer damit begonnen, zu Fürbitten für die vielen von der Stasi Verhafteten einzuladen. Trotz der Repressalien der Behörden nahm die Zahl der Teilnehmer beständig zu. Am 9. Oktober 1989 wurde die Nikolaikirche zum Ausgangspunkt für die Demonstration der 70.000 in Leipzig, der „Friedlichen Revolution“. Ohne die Kirchen der DDR und ihr Angebot, Sicherheitsraum zu sein, wäre es wohl nicht zu einem gewaltfreien Ende der DDR gekommen. Die Deutschen mögen nie eine richtige Revolution hinbekommen haben, aber sie sind die einzigen auf der Welt, die dafür eine friedliche Revolution geschafft haben.

Abb. 6: Leipziger Montagsdemonstration (9. Okt. 1989)

Es gab für DDR-Bürger zwar Sonderreiseregelungen für Rentner und Verwandtenbesuche im Westen, doch allgemein waren Reisen selbst für privilegierte DDR-Bürger nach außerhalb der DDR nur in die „sozialistischen Bruderländer“ erlaubt. Dorthin waren im Sommer 1961 viele tausend DDR-Bürger gereist, vor allem in die Tschechoslowakei und nach Ungarn. Da sich große Menschenmassen weigerten, in die DDR zurückzufahren, ergab sich für die beiden Länder ein Problem, das sie schließlich lösten, indem sie ihre Grenzen nach Österreich öffneten. Das Ergebnis war eine Massenflucht in den Westen. Und der Druck auf die DDR erhöhte sich weiter. Das ZK der SED erließ daraufhin eine Regelung für die ständige Ausreise.

Abb. 7: Ungarn öffnet die Grenze zu Österreich (19. Aug. 1989)

Und jetzt erhielt die Situation eine gewisse Eigendynamik, nicht ohne Elemente einer Burleske. Diese Regelung sollte am 10. November 1961 frühmorgens veröffentlich werden. Davon wußte aber der zuständige Sekretär für das Informationswesen des Zentralkomitees der SED, der ehemalige Journalist Günter Schabowski, nichts. Er hatte die Informationen über die ZK-Sitzung für eine Pressekonferenz am Vorabend von Egon Krenz, dem Nachfolger Erich Honeckers als Staatsratsvorsitzender seit dem 6. Oktober 1989 erhalten. Es gibt wohl keine zweite an sich so unbedeutende Situation in der Geschichte, die derartig große politisch-historische Bedeutung erlangt hätte. Dabei ereignete sich eine, fast möchte man sagen, Slapstick-Einlage.

Als Schabowski gefragt wurde, wann die neue Reiseregelung in Kraft trete, schaute er eher hilflos auf seine Notizen und antwortete dann: „Nach meiner Kenntnis ist das … sofort … unverzüglich.“ Weil diese Pressekonferenz sowohl über West- wie auch Ostrundfunk direkt übertragen wurde, sprach sich seine Ankündigung sofort herum. Tausende Ostberliner strömten zu den Grenzübergängen und wurden durchgelassen, weil die Grenzpolizisten keine Befehle hatten, wie zu reagieren war, und weil der Druck durch die Massen auf sie zu hoch wurde. Der Sog der Freiheit war zu groß, als daß er hätte gestoppt werden können. Aus zwei Ländern wurde eins.

Abb. 8: Menschenmassen am Grenzposten

Wie reagierte das Ausland, vor allem der Westen, darauf? Man sollte annehmen, daß allerorten Begeisterung herrschte. Erinnern wir uns aber an 1961: Der US-amerikanische Präsident John F. Kennedy, der wenige Tage nach dem Mauerbau bei einer Rede in Berlin die Worte sprach: „Ich bin ein Berliner“ und damit so große Begeisterung auslöste, daß dieser Satz immer noch als geflügeltes Wort gilt und in vielerlei Abwandlungen seither verwendet wurde, sagte gleich nach dem Mauerbau im Kreis seiner Berater: „Eine Mauer ist verdammt noch mal besser als Krieg“. Und Harold MacMillan, der britische Premierminister sagte öffentlich:„Die Ostdeutschen halten den Flüchtlingsstrom auf und verschanzen sich hinter dem eisernen Vorhang. Daran ist an sich nichts Gesetzwidriges“. Nach westlicher Solidarität klang das wahrhaftig nicht. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß das alles sich erst 16 Jahre nach Kriegsende ereignete – es muß schon befremden.

Abb. 9: „Öffnung des Eisernen Vorhangs”, Plastik von Wolfgang Dreysse, Quedlinburg, aufgestellt in Hameln

Und nach dem Fall der Mauer gab es ebenfalls nicht ungeteilte Begeisterung, außer, dieses Mal, beim amerikanischen Präsidenten George H. Bush, der die deutsche (Wieder)vereinigung vorbehaltlos unterstützte. Der französische Premierminister François Mitterrand hielt den deutschen Wunsch nach Vereinigung für legitim, hatte aber große Angst vor der deutschen wirtschaftlichen Macht. Sein Landsmann François Mauriac ist für seinen Ausspruch bekannt: „Ich liebe Deutschland. Ich liebe es so sehr, daß ich zufrieden bin, weil es gleich zwei gibt“. Die britische Premierministerin Margret Thatcher mußte von ihrem persönlichen Berater ermahnt werden, zum Jahrestag der Vereinigung die Worte „Freund, Verbündeter und Partner“ zu verwenden. Und am 3. Oktober 1990 erhielt sie die schriftliche Empfehlung eines weiteren Beraters: „Wir sollten nett zu den Deutschen sein“. Sie selber hielt uns für „toads“, die zwielichtige, angeberische Kröte aus dem in England überaus bekannten Roman „The Wind in the Willows“ von Kenneth Grahame. Beide, Mitterrand und Thatcher, beknieten Gorbatschow, er möge es nicht zu einem vereinten Deutschland kommen lassen.

Abb. 10: Die erste frei Wahl in der DDR (18. März 1990)

Demokratie heißt, die Wahl zu haben; die Wahl zu haben heißt, Freiheit zu haben. Mit dieser Freiheit übernehme ich aber auch die Verantwortung für mich und mein Tun. Frei zu sein, ist nicht einfach. 

Abb. 11: Gorbatschow stimmt der NATO-Mitgliedschaft Deutschlands zu (15. Juli 1990)

Deutschland mußte sich jedenfalls erst in seine neue Rolle finden. Bis dahin war es ein „wirtschaftlicher Riese“, jedoch ein „politischer Zwerg“ gewesen. Die alte Bundesrepublik hatte sich bequem im Viermächtestatus eingerichtet, sich unter dem amerikanischen Atomschirm zwar eine relativ große Wehrpflichtarmee gehalten, die aber ausschließlich Verteidigungsaufgaben im eigenen Land erfüllen sollte, auf der großen politischen Bühne überließ sie gern den alten Siegermächten das Wort, verwies in allen Konflikten auf seine belastete Vergangenheit und hielt sich heraus, rief manchmal leise von unter dem Tisch her: „Hallo. Ich möchte dabei sein.“ Aber jetzt mußte es an die Verantwortung ran: „Wir können uns unserer Verantwortung nicht entziehen. Das ist der Grund, warum deutsche Soldaten zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in einem Kampfeinsatz (auf dem Balkan) stehen”, erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) im Bundestag im Oktober 1998.

Und heute erleben wir die Fortsetzung: Soll, muß Deutschland seinen Verteidigungsetat auf 2% seines Haushalts erhöhen, so wie es sich 2014 in Wales und 2016 in Polen verpflichtet hat? Und wie es Trump immer wieder fordert, wodurch es vielen bei uns leicht fällt, dieses Ziel abzulehnen, weil man Trump ablehnt. Freiheit heißt eben auch, Verantwortung zu übernehmen.

1989 fiel die Mauer, 1990 vereinigten sich die beiden Teile Deutschlands zu einem Land. Nur wenige ahnten, welche Schwierigkeiten diese Vereinigung mit sich bringen würde. Was nicht verwundert, gab es doch keinen Präzedenzfall. Niemand hatte vorher aus zwei Ländern eins gemacht, noch dazu mit so extrem unterschiedlichen politischen Systemen. Ein neues Deutschland, das seinen Bürgern Freiheit bot, etwas, das den einen selbstverständlich geworden war, an das die anderen sich erst noch gewöhnen mußten. Daß nicht gleich alles so lief, wie man sich das vorgestellt hatte, belegt ein Ausspruch einer führenden DDR-Dissidentin, die später auch am Runden Tisch eine gewichtige Rolle spielte: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“

KH

Bildquellen: Abb. 1 – 8 und 10 & 11: Bundesarchiv; Abb. 9: Photo Klaus Holzer

Einladung zum 15. Zeitzeichen

30 Jahre Mauerfall – „Freiheit,  die ich meine”?

Am Donnerstag, 2. Mai 2019, findet das 15. ZZ des KKK statt. Dieses Mal ist „Freiheit” das zentrale Thema. Ausgehend vom Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren beschäftigen sich die beiden Referenten des Abends mit unterschiedlichen Aspekten des Freiheitbegriffs. Dr. Heinrich-Wilhelm Drexhage legt die Spannweite dieses Begriffs in einer historisch-philosophischen Darstellung dar, geht auch auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und erläutert seine historische Bedingtheit. Klaus Holzer weist auf unterschiedliche Vorstellungen von Freiheit in anderen Ländern hin, besonders in GB und den USA. Unter der Überschrift „Quo vadis, Freiheit” werden die Referenten anhand aktueller Beispiele versuchen aufzuzeigen, daß Freiheit heute mannigfaltigen Bedrohungen ausgesetzt ist. Manches daran wird sicher so provokant sein, daß eine lebhafte Diskussion den Abend beenden könnte.

Ort der Veranstaltung ist das Haus der Kamener Stadtgeschichte, Bahnhofstraße 21 in Kamen. Beginn 19.30 Uhr. Der Eintritt ist frei.

KH

Das 14. Zeitzeichen des KKK

von Klaus Holzer

So voll war es noch bei keinem der vorangegangenen Zeitzeichen  des KKK. Alle Stühle des Museumssaales waren besetzt, nicht wenige Besucher standen, und dennoch mußten mehrere Dutzend wegen Platzmangels wieder gehen. Offenbar traf das Thema „50 Jahre Neue Stadt Kamen – 50 Photos alte Stadt Kamen“ einen Nerv. Zum ersten Mal ging es bei einer solchen Veranstaltung nicht um die mittelalterliche Kamener Geschichte, sondern um die Zeit seit dem Krieg, also um eine Zeit, die viele Besucher, bestimmt die älteren unter ihnen, aus eigener Anschauung kannten, die allmähliche Veränderung einer Stadt, die uns während der Abriß– und Bauphase lästig ist, die wir aber, sobald wir uns an das Neue gewöhnt haben, bald vergessen.


Abb. 1: Im Haus der Kamener Stadtgeschichte, 19. April 2018 (Photo: Christoph Volkmer für KamenWeb.de)

Eingebettet war der Abend in die Reihe der städtischen Veranstaltungen zur 50-Jahrfeier „Neue Stadt Kamen“, daher stellte der Referent des Abends, KKK-Sprecher Klaus Holzer, einen kurzen historischen Rückblick auf die kommunale Neuordnung vor 50 Jahren voran.

Eine der treibenden Kräfte hinter der kommunalen  Neuordnung in NRW, wenn nicht einer der Gründerväter der Idee, war der damalige Landrat des Kreises Unna, Hubert Biernat. Er hatte frühzeitig klar erkannt, daß die erste Kohlekrise Ende der 1950er Jahre nur Symptom einer tiefer gehenden Krise der heimischen Region war. Ihre wirtschaftlichen Strukturen würden auf Dauer nicht ausreichen, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen der zukünftigen Entwicklung zu bewältigen. Die klassische Industrie des Landes NRW, Kohle und Stahl, sei eine sterbende Industrie. Man dürfe aber die Wirtschaft nicht allein der Wirtschaft, d.h., den freien Kräften des Marktes, überlassen, da müsse die Politik die Initiative ergreifen und die richtigen Weichen stellen.

Um also innerhalb des gerade einmal 20 Jahre alten Bindestrichlandes NRW wirtschaftlich starke, gesunde, wachstumsfähige Regionen zu schaffen, die, so war gewünscht, sich auch in ihrer wirtschaftlichen Stärke aufeinanderzuentwickeln würden, setzte er sich stark für die kommunale Neuordnung ein.

Der Zusammenschluß der bis dahin selbständigen Gemeinden Methler, Heeren-Werve, Südkamen, Rottum und Derne kam durch das „Gesetz  zur Neuordnung des Kreises Unna“ mit Gültigkeit zum 1. Januar 1968 zustande. Lerche, das sich jahrhundertelang nach Kamen hin orientiert hatte, wurde allerdings gegen seinen Willen Hamm zugeschlagen.

Es fiel den Gemeinden, vor allem ihren Bürgermeistern und Ratsvertretern schwer, ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Setzen wir stattdessen Souveränität ein, dann erleben wir wieder die gleiche Sache: heute wollen viele Menschen die staatliche Souveränität nicht auf Brüssel übertragen. Vielleicht erklärt sich u.a. daraus die Renaissance des Begriffs Heimat. Vielleicht beschleicht den einen oder anderen ein heimeliges Gefühl, wenn er Photos seiner alten Heimatstadt sieht.

In diesen 50 Jahren hat sich Kamen, heute muß man wohl sagen: „Kamen-Mitte“, stark verändert, begriff es sich doch selber gleich nach der Vergrößerung als „die schnelle Stadt“, öffnete sich dem Neuen in der Architektur, dem Auto im städtischen Raum. Als Wendepunkt erweist sich das Jahrzehnt von 1965 bis 1975, das Wirtschaftswunder wirkte sich in Kamen aus. Das Fahrrad kam aus der Mode, wer Fahrrad fuhr, war arm, man konnte sich ein Auto leisten.

Ausgehend von einem Luftphoto von 1958, das Kamen noch fast unverändert in seinen Grenzen als kleines Landstädtchen zeigt, führte der Referent Entwicklungslinien Kamens zur heutigen Form auf. Nachdem die Kriegsschäden in der Innenstadt beseitigt waren, ging es ernsthaft an die Modernisierung der Stadt, der so viel Altes zum Opfer fiel, daß es stellenweise nur als Kahlschlag bezeichnet werden kann: Nordstraße, Nordenmauer, Teile der Kirchstraße. Und künstlerisch durchaus anspruchsvolle Denkmale (das Sedandenkmal, das Löwendenkmal, das Denkmal im Eingang des alten Rathauses) fallen der Modernisierungswut zum Opfer. Kamen wollte mit aller Macht die „Schnelle Stadt“ werden. Daher lautete auch ein zentrales Argument für den Abriß des Sedandenkmals auf dem Markt, daß es ein „Verkehrshindernis“ darstelle.

Abb. 2: Das Sedandenkmal von 1872, abgerissen nach einem Ratsbeschluß vom 8.11.1956

Und als ein Haus von 1737 in der Kirchstraße einem gesichtslosen Neubau weichen mußte, titelte der HA: „Neue Zeit verlangt ihr Recht.“ Und das wunderschöne Fachwerkhaus des Bäckers von der Heyde, Markt 23, mit einer großen Brezel auf der Front dekoriert, wurde für den Durchstich vom Markt zur 1974 eröffneten Fußgängerzone und zum Neumarkt (seit 1993 Willy-Brandt-Platz) abgerissen. Kuriosum am Rande: bis sie Fußgängerzone wurde, war di8e Weststraße für Auto frei befahrbar, Motor– und Fahrräder durften jedoch nicht durchfahren!

Abb. 3: Das Haus Kirchstraße 4, das für einen gesichtslosen Neubau abgerissen wurde

Brutale Waschbetonarchitektur entsprach dem Geschmack der 1970er Jahre, selbst Blumen, glaubte man, kämen in solchen Betonkästen besser zur Geltung.

Abb. 4: Mode der 1970er Jahre: alles in und aus Beton

Im Bereich der Burgstraße gab es einen großen Garten, den Koepeschen Garten, Eigentum einer einstmals bekannten, wohlhabenden Kamener Familie: heute ein Parkplatz. Der Kappenberger Hof an der Ecke Weststraße/Dunkle Straße abgerissen: heute ein Parkplatz. Der Markt, früher (und Gottseidank heute wieder) ein zentraler Platz für die Bürger der Stadt, wurde: ein Parkplatz.

Abb. 5: Der Marktplatz, die gute Stube der Stadt, ein Parkplatz: Vorfahrt fürs Auto

Die vielen abgerissenen Fachwerkhäuser, ansehnlich und wohlproportioniert, wichen in der Regel gesichts– und charakterlosen „modernen“ Häusern, oft durch Beton „verschönert“.

Eines fällt generell auf: gleichgültig, welche Straße auf einem Photo der 50/60er Jahre abgebildet ist, immer zählt das Auge 3,4 oder gar 5 Kneipen auf ganz kurzer Strecke. Und alle Dortmunder Brauereien waren vertreten, und das waren damals 9. Kamen hatte damals einen Ruf zu verteidigen, der schon auf das Jahr 1722 zurückgeht, und das tat es bravourös.

Die Bahnhofstraße war bis in die 1970er Jahre noch in beiden Richtungen befahrbar. Begegnungsverkehr zweier Busse führte zum Verkehrskollaps. Die Maibrücke trug noch bis ins neue Jahrtausend die volle Verkehrslast.

Und nicht wenige Besucher das Abends, die jüngeren zumeist, staunten nicht schlecht, als sie erfuhren, daß Kamen bis in die 1970er Jahre eine eigene Molkerei hatte, und erst 1987 der städtische Schlachthof ab gerissen wurde. Daß die Glückaufschranke werktäglich wegen des dichten Zugverkehrs über 11 Stunden, selbst an Sonntagen noch über 8 Stunden geschlossen war, ist für den heutigen Benutzer der Hochstraße nicht mehr vorstellbar.

Abb. 6: Der Postteich in den 1960er Jahren

Seit den 1920er Jahren verfügte Kamen über zwei große Teiche, den Koppel– und den Postteich. Beide waren im Zuge der Kanalisierungsarbeiten der Seseke entstanden, sie wurden .a. für Ausgleichsmaßnahmen bzgl. der Höhe des Wasserspiegels gebraucht. Im Sommer waren sie idyllische Orte zur Naherholung, im Winter willkommenes Gelände zum Schlittschuhlaufen. Ihre Funktion zur Regulierung der Wasserhöhe konnten die beiden Teiche indes nicht recht erfüllen. In der zweiten Dezemberwoche 1960 überflutete dieses Flüßchen die ganze Stadt und setzte sogar Schulen unter Wasser.

Zum Schluß zeigte der Referent Photos verfallender oder schon verfallener Häuser in Kamens Altstadt und solche, deren Abriß die Zeitungen schon ankündigten und stellte die nicht ganz unberechtigte Frage: Wie lange können wir Kamener noch von einer Kamener Altstadt sprechen?

Wegen des unerwartet großen Zuspruchs wird diese Veranstaltung am Donnerstag, 14. Juni, 19.30 wiederholt. Ort der Veranstaltung ist wieder der Saal des Kamener Hauses der Stadtgeschichte, Bahnhofstraße 21.

KH

Abb.: Archiv Klaus Holzer

Einladung zum 13. Zeitzeichen des KKK

Der Maler Lukas Cranach im Zeitalter der Reformation

Wie kaum ein anderer Künstler seiner Zeit ist Lukas Cranach der Ältere (1472-1553) mit der Reformation  verbunden. In seinen Bildern spiegeln sich die Themen des reformierten Christentums. In
seinen Drucken und Flugschriften kritisiert er die Institution Kirche. Seine Portraits von Martin Luther prägen bis heute unser Bild des Reformators. Doch Cranach ist weitaus mehr als nur der Maler der Reformation. Er arbeitet ebenso  für die „alte Kirche“ und deren Vertreter.  Seine Bilder zeigen auch die Hinwendung zur Antike. Alles das macht ihn zu einem der erfolgreichsten und produktivsten Künstler der Zeit. Gerade in Cranachs Werken wird der kulturelle und gesellschaftliche Umbruch der Zeit deutlich.

Der Referent des Abends ist Dr. Falko Herlemann, der Kunstgeschichte, Philosophie und  Archäologie in Bochum studierte, mit Magister Artium und Promotion abschloß. Er ist durch zahlreiche Publikationen zur aktuellen Kunst hervorgetreten, hält Vorträge, führt in Ausstellungen ein und ist als Kurator, Journalist und Dozent für Kunstgeschichte am IBKK Bochum tätig.

Termin: Donnerstag, 27. April 2017, 19.30 Uhr, im Museum Kamen, Bahnhofstraße 21 

Eintritt: € 3,00

KH

 

„Rotwein ist für alte Knaben eine von den besten Gaben.“ Das 12. Zeitzeichen des KKK.

von Klaus Holzer

1-guenter-trunz-beim-vortragAbb. 1: Günter Trunz beim Vortrag



Zum zweiten Mal in diesem Jahr landete der KKK einen Volltreffer. Schon das 11. Zeitzeichen im Frühjahr 2016 (Martin Litzinger über das KZ Schönhausen in Bergkamen) brachte ein volles Haus. Und beim 12. ZZ am 24.11.2016 wurde auch noch der letzte Stuhl aus dem Magazin geholt und im Vortragsraum des Museums aufgestellt. Und das Kommen lohnte sich.

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Abb. 2: Wilhelm Busch

Der Lüdinghausener Rezitator Günter Trunz zog sein Publikum gleich in die Welt des Wilhelm Busch. Durch seine lebendige Art des Vortrags, oft mit leichter Hand vorgetragen, Busch angemessen, unterhielt er es blendend. Er brachte es dazu, mitzumachen: „Dieses war der erste Streich …“, begann er, und das Publikum skandierte: „… und der zweite folgt sogleich.“ Und jeder kannte auch noch: „Und die Moral von der Geschicht: …“.So wurde jedem unmittelbar klar, wie einprägsam Buschs Sprache ist. Auch wenn wohl kaum jemand Buschs Verse in letzter Zeit gelesen hatte, was aus Kinderzeiten im Gedächtnis geblieben war, zeigte sich an den vielen Stellen, wo Mitsprechen verlangt war.

Psychologisch geschickt (Trunz ist u.a. studierter Psychologe) unterbrach sich der Rezitator bei längeren Geschichten immer wieder und streute Erklärungen ein: Woher kommt das lautmalerische „ricke racke“? (Von der Exzenterwelle, die den Einfülltrichter in der Mühle hin und her bewegt.) Warum spielen Rotwein und Tabak bei Busch eine so große Rolle? (Busch war beiden sehr zugetan, mußte sogar zweimal wegen Nikotinvergiftung im Krankenhaus behandelt werden. Sie waren also unmittelbarer Teil seiner Lebenswirklichkeit.) Und auf diese Weise wurde zum einen die lange Geschichte in überschaubare Blöcke aufgeteilt, und zum anderen deutlich, daß bestimmte Elemente der Handlung direkt auf Lebensumstände Buschs zurückzuführen sind. So wirkten die Pointen manchmal doppelt scharf, trafen umso härter. Dann gab es Lachen und Szenenapplaus.

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Abb. 3: aus „Hans Huckebein”

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Abb. 4: aus „Die fromme Helene”

„Hans Huckebein“ in seiner Boshaftigkeit und die „Fromme Helene“ in ihrer bigotten Frömmigkeit begeisterten keinen Deut weniger als „Max und Moritz“, sind in ihrer Treffsicherheit der Karikatur viel stärker an Erwachsene gerichtet. Und „Das Bad am Samstagabend“ wird allen Eltern von zwei fast gleichaltrigen Kindern aus eigener Erinnerung bekannt sein: „Und die Moral von der Geschicht/Bad zwei in einer Wanne nicht.“ Wie Busch mit ganz wenigen Strichen Gesichter zeichnet, wie ein richtig gesetzter Bogen den Ausdruck verändert, von schüchtern und fromm bis dreist und kühn, wie  die statische Zeichnung in der explodierenden Piepe reine Bewegung wird – es war ein Genuß, dieses großformatig auf der Leinwand zu sehen.

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Abb. 5: Originalblatt des Anfangs von „Max und Moritz”

Immer wieder gab es Abbildungen und Photographien, die die Bildergeschichten in einen äußeren Kontext stellten: ein Photo der Villa Kessler, die für Wilhelm Busch während seiner Frankfurter Zeit von Bedeutung war; eins der Mühle in Ebergötzen, in der der junge Wilhelm zeitweilig wohnte, und die dem Vater seines engsten Freundes Erich Bachmann gehörte. Diese Mühle mit dem drumherum liegenden Dorf war der Schauplatz, auf dem die beiden Buben ihre Streiche verübten, die zum Vorbild für „Max & Moritz“ wurden. Oder einige Abbildungen von Originalblättern zum „Max & Moritz“, die im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover zu bewundern sind.

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Abb. 6: Die letzte Szene aus „Das Bad am Samstagabend”

In einer kleinen begleitenden Ausstellung zeigte Trunz, wie sehr Wilhelm Busch auch ein Markenzeichen (geworden) ist, wie sehr er geehrt wird. Es gibt Münzen und Medaillen mit seinem Konterfei (z.B. eine 10,00 Euro-Münze in Deutschland), aber auch mit seinen bekanntesten Schöpfungen geschmückt; es gibt Briefmarken mit Wilhelm-Busch-Motiven der Deutschen Post, Wein, auf dessen Etikett Max und Moritz prangen. Da bleibt es auch nicht aus, daß Wilhelm Busch zu dem benutzt wurde (und wird), was man Merchandising nennt: Bettwäsche aus der DDR mit Max und Moritz und anderen Motiven; Bierkrüge, Krawatten u.a. Und ein Jurist hat sich scherzhaft-ernsthaft mit den Streichen der beiden Lausbuben beschäftigt: Was für Straftaten stellen ihre Streiche und die Reaktionen der anderen Beteiligten dar? Diebstahl? Raub? Körperverletzung? Mord?

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Abb. 7: Der junge Wilhelm Busch, Selbstprorträt

Eigentlich hatte Wilhelm Busch ein ernsthafter Maler werden wollen – er reiste extra nach Antwerpen, um die flämischen Maler des „Goldenen Zeitalters“ zu studieren – doch fand er nicht die Beachtung, die er verdient. Angesichts des Erfolgs seiner Bildergeschichten ist das erklärlich, erfand er doch hier ein ganz neues Genre, den Vorläufer des Zeichentrickfilms wie auch des Comics. Allerdings ist seine Sprache viel raffinierter als die der modernen Weiterentwicklungen. Doch liegt in dem Erfolg seiner Bildergeschichten auch die Tragik des Fast-Scheiterns als Maler.

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Abb. 8: „Herbstwald”

In den zwei Pausen bot der KKK, passend zum Motto des Abends, den Museumswein und Knabbereien an. Lang dauerte der Abend, und doch nicht lang genug. Stürmisch forderte das Publikum eine Zugabe. Und die gab es auch: „Max und Moritz“ in der Sprache des Ruhrgebiets, der künstlichen Jürgen von Mangers wie auch der echten, die tatsächlich gesprochen wird. Oder vielleicht gesprochen wurde? Alle lachten Tränen und wollten noch mehr. Aber soll man nicht aufhören, wenn’s am schönsten ist?

 

Bildquellen:

Abb. 1: Photo Klaus Holzer

Abb. 2 – 6 & 8: zeno.org

Abb. 7: aus Wilhelm Busch, Und die Moral von der Geschicht, Gütersloh, o.J.

KH

Das 11. Zeitzeichen des Kultur Kreises Kamen

2016-04-28 19.04

Abb. 1: Martin Litzinger beim Vortrag:

„Man hörte die Schmerzensschreie der Misshandelten“ 

Das Konzentrationslager Schönhausen in Bergkamen im Jahre 1933

Da hat der KKK wohl einen Nerv getroffen: der Vortragssaal war schon 10 Minuten vor Beginn des Abends voll besetzt! Der Museumsleiter, Robert Badermann, mußte noch gut ein Dutzend Stühle nachträglich herbeischaffen. Und es hat sich gelohnt zu kommen. Martin Litzinger kennt sich in seinem Thema aus wie wohl kein zweiter, hat er sich doch bereits seit 2001mit diesem Thema beschäftigt. Und doch, gibt er zu, sind immer noch weite Bereiche terra incognita.

Das heutige Gemeindezentrum der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde Kamen-Bergkamen trägt seit dem 25. Oktober 1983 eine Gedenktafel, die daran erinnert, daß dieses Gebäude 1933 als provisorisches „Konzentrations– und Schutzhaftlager“ benutzt wurde, als frühes KZ der Nationalsozialisten. Wie war es dazu gekommen? Welche Geschichte steht dahinter?
Postkarte Wohlfahrtsgebäude Schönhausen

Abb. 2: Das Wohlfahrtsgebäude Schönhausen

der Zeche Grimberg I/II

Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg den Führer der NSDAP, Adolf Hitler, zum Reichskanzler. Dieser begann sogleich, zusammen mit seinem Minister Hermann Göring, gegen seine politischen Gegner vorzugehen, vor allem die SPD und die KPD. Am 27. Februar 1933 brannte das Reichstagsgebäude in Berlin ab. Hitler bezichtigte die Kommunisten der Tat und beschuldigte sie, einen Volksaufstand und Staatsstreich zu planen und setzte umgehend die Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft. Dadurch konnte jeder aus Gründen der staatlichen Sicherheit ohne richterliche Anordnung auf unbestimmte Zeit in „Schutzhaft“ genommen werden. Wobei „Schutzhaft“ lediglich ein zynischer Euphemismus für Verfolgung und Vernichtung ist. Das führte dazu, daß innerhalb kurzer Zeit alle Gefängnisse überfüllt waren, so daß weitere, provisorische „Konzentrationslager“ entstanden. In unserer Region war vor allem der nördliche Kreis Unna betroffen, weil hier weite Teile der Bevölkerung, Bergleute und ihre Familien, der NSDAP ablehnend gegenüberstanden, traditionell SPD wählten, viele von ihnen auch KPD.

Der Bürgermeister des damaligen Amtes Pelkum, Hans Friedrichs, schrieb daher am 22. März 1933 an den Landrat in Unna, es sei „zwingend notwendig, die schnellste Schaffung von Konzentrationslagern durchzuführen“. Jener Landrat war der überzeugte Nationalsozialist Wilhelm Tengelmann, hauptberuflich Betriebsinspektor der Gelsenkirchener Bergwerks AG, gerade an diesem Tag von seinem Freund Hermann Göring kommissarisch mit diesem Amt betraut, erst am 29. März 1933 offiziell eingeführt. Tengelmann bat den Bergwerksdirektor Ernst Fromme, den der Zeche Monopol gehörenden Gebäudekomplex des Wohlfahrtsgebäudes Schönhausen der Zeche Grimberg I/II zur Verfügung zu stellen, was auch bewilligt wurde.

Dieses Wohlfahrtsgebäude war ein Gemeinschaftshaus für die hier wohnenden Bergmannsfamilien, eine für ihre Zeit sehr fortschrittliche Einrichtung, deren Sinn und Zweck somit pervertiert wurde. In diesem Gebäude gab es

eine kleine Mietwohnung

einen Kindergarten

einen Gesundheits– und Baderaum

Räume, in denen Näh–, Haushalts– und Kochunterricht gegeben wurde

einen Saal mit Theaterbühne, als Versammlungs– und Veranstaltungsraum sowie als Turnhalle genutzt

dahinter einen Sport– und Spielplatz

Da es sich um einen geschlossene Anlage handelte, ließ sich die Bewachung durch SS, SA und Stahlhelm, von Göring zur Hilfspolizei ernannt, leicht organisieren. Lagerkommandant wurde der Kamener SA-Führer Wilhelm Boddeutsch, sein Stellvertreter der Bergkamener SA-Mann Ewald Büsing. Die Wachmannschaft betrug 44 Mann.

Tengelmann ordnete am 11. April 1933 die Verhaftung aller „Führer und Ersatzführer der KPD und sämtlicher Nebenorganisationen“ ab 4.30 Uhr an. Die ersten Häftlinge wurden noch in derselben Nacht, am 12. April, eingeliefert, die ersten von fast 1000 bis zur Auflösung des Lagers ein halbes Jahr später, Ende Oktober 1933. Am Anfang waren es überwiegend KPD-Mitglieder (ca. 580), ab Juni SPD-Mitglieder (ca. 200), aber auch Reichsbannerleute (ca. 60), Mitglieder der Eisernen Front, der Gewerkschaften, aber auch politisch neutrale Personen (ca. 70) und 14 Juden. Zur Verhaftung reichte bei den meisten die Mitgliedschaft in ihrer Partei, doch ein freimütiges Wort, Verleumdung und Denunziation reichten für die Inhaftierung. So waren auch 6 Nationalsozialisten (!) inhaftiert.

Die Gefangenen stammten aus

Herringen 216

Rünthe 117

Bergkamen  69

Heeren-Werve  44

Kamen  39

Ihre Berufe waren

Bergleute 549

Handwerker 132

Arbeiter  93

Invaliden  65

Hausfrauen (!)  32 (von den Männern getrennt gefangengehalten, bald in andere Haftanstalten überführt)

Kaufleute/Händler  22

Lehrer/Rektoren  4/2

Journalisten   3

Rechtsanwälte   2

Schulrat   1

Fabrikant   1

Die Männer wurden im Saal des Gebäudes gefangen gehalten, besonders „gefährliche“ Häftlinge in einem gesonderten Raum. Es gab kein Mobiliar, sie mußten auf Turnmatten schlafen. Es gab nur wenige Toiletten und Wachgelegenheiten. Sie erhielten nur sehr wenig trockenes Brot und dünnen Kaffe oder Brühe als Nahrung, ihre Angehörigen mußten sie versorgen. Sie wurden zum Exerzieren und zu militärischen Übungen gezwungen, immer wieder mit dem Gummiknüppel geschlagen. Ansonsten mußten sie ihre Zeit wartend im Saal verbringen. Die Frauen mußten Kleider nähen, flicken, die Räume putzen.

Am schlimmsten waren die täglichen Mißhandlungen und Folterungen, durch die man „Geständnisse“ erpressen wollte. Gängige Methoden waren: das Kopfhaar ausreißen, Zähne ausschlagen, mit glühenden Zigaretten Verbrennungen zufügen, Schlafentzug durch, manchmal tagelanges“, Dauersitzen. Ein Dr. Busch aus Unna wurde mit einer Eisenstange blutig geschlagen (seine Haftbeschwerde blieb natürlich erfolglos), halb bewußtlos Geschlagene mußten auf einen Tisch steigen und „Heil Hitler“ rufen. Und oft traten SS-Leute unter dem Befehl von Otto Stegmann aus der Russelstraße in Bergkamen im Marschtritt auf die Fliesen im Vorraum und sangen Lieder, damit man die Schmerzensschreie der Mißhandelten nicht hörte. Manchmal wurden Mißhandlungen zur Abschreckung vor anderen Gefangenen durchgeführt, was mitunter Selbsttötungsversuche zur Folge hatte, die jedoch durch das Wachpersonal verhindert wurden. Perfide war es auch, die Ehefrau eines Flüchtigen als Geisel in Haft zu nehmen, was Auguste Glowiak aus Rünthe widerfuhr. Und ein Lehrer (!) kam aus der nahegelegenen Schillerschule regelmäßig in das Lager, um seiner Prügelleidenschaft zu frönen.

Natürlich blieben den Nachbarn des Lagers und Angehörigen der Häftlinge die Mißhandlungen nicht verborgen, doch tat der Lagerleiter, Wilhelm Boddeutsch, alles als „leeres Gerede“ ab, und ihm wurde gern geglaubt. Die NSDAP-Pressestelle Kamen gab mehrfach Presseerklärungen heraus, die die geordneten Verhältnisse im Lager darstellten, unterschwellig Mahnung und Drohung an die Leser, von einer willfährigen Presse bereitwillig veröffentlicht.

Schönhausen war als Lager eigentlich ungeeignet, zudem kamen ständig neue Häftlinge, daher wurden viele von ihnen in verschiedene andere Lager gebracht: Wittlich, Brauweiler, Moorlager Papenburg, Börgermoor u.a.

Nachdem am Anfang gezielt Kommunisten inhaftiert worden waren, begann am 25. Juni 1933 um 2.30 Uhr früh die Verhaftung der führenden SPD-Persönlichkeiten auf Anordnung Tengelmanns. Dazu gehörten:

Hans Heuser, nach dem Kriege Bürgermeister in Bergkamen und im Amt Pelkum

Paul Prinzler, nach dem Kriege Bürgermeister in Rünthe

Franz Trampe, Führer des Reichsbanners Bergkamen

seine Frau Luise Trampe, die, seelisch zermürbt, 1937 den Freitod starb

Und aus Kamen:

Leo Dyduch, Oswald Lepke, Valentin Schürhoff, Wilhelm Siekmann, alles Persönlichkeiten, die nach dem Krieg in der Kommunalpolitik eine wesentliche Rolle spielten.

Und der Bergkamener Karl Schnabel hat durch seine ausführlichen „Erinnerungen“ viel dazu beigetragen, daß wir heute so genau wissen, was sich in Schönhausen alles zugetragen hat.

Die Verhältnisse waren so schlimm geworden, daß selbst Tengelmann im Mai 1933 feststellte, daß der staatlichen Willkür, an der er teilhatte, oft auch private Willkür folgte. Er kündigte am 8. Mai 1933 an, „Eingriffe von Privatpersonen in die Rechte der Polizei künftig nicht mehr stillschweigend [hinzunehmen]“. Und die Verhaftung von Personen ohne Grund zur Inhaftierung schade der Sache der „nationalen Erhebung“.

Stellte eine Haftprüfungskommission fest, daß ein Gefangener unter dem Eindruck der Haft eine Besserung seiner Gesinnung zeigte, konnte er nach relativ kurzer Zeit entlassen werden. Über die Haftbedingungen hatte er allerstrengstes Stillschweigen zu bewahren, sonst wurde er gleich wieder festgenommen. Denunzianten gab es genug. Und bei seiner Entlassung mußte er unterschreiben, daß er keine Ansprüche aus der Haft ableite. Dazu gab es eine Ausgangssperre ab 19.00 Uhr, es sei denn, man wollte eine NSDAP-Veranstaltung besuchen, aber auch das war nur in Begleitung eines linientreuen „Paten“ gestattet.

Ab Juli 1933 gingen die Zahlen der Inhaftierten rapide zurück:

April 427

Mai163

Juni 225

Juli  72

August  66

September  35

Oktober    4

Offenbar war es den Nationalsozialisten gelungen, alle politischen Gegner im Kreis Unna auszuschalten.

Der neue Landrat, Dr. Heinrich Klosterkemper, veranlaßte am 20. Oktober 1933 die Schließung von Schönhausen. Zu der Zeit befanden sich noch 20 Gefangene dort, die entlassen oder nach Papenburg oder Oranienburg verlegt wurden. Am 28. Oktober wurde die Schließung in der Presse bekanntgegeben, doch mit der deutlichen Warnung: „ Personen, die sich auch jetzt noch nicht an die neue Ordnung gewöhnen können und sich irgendwie staatsfeindlich betätigen, werden künftig in die staatlichen Konzentrationslager im Börgermoor gebracht werden. Für eine Sammelstelle im Kreise ist gesorgt.“

Schönhausen wurde anschließend gründlich renoviert und im Frühjahr 1934 wieder als Wohlfahrtsgebäude genutzt.

Im Anschluß meldeten sich noch einige Besucher zu Wort, weniger mit Fragen, als mit zusätzlichen Betrachtungen und Erinnerungen.

Nachbemerkung: Nach der Schließung des Lagers wurde es jahrzehntelang mehr oder weniger totgeschwiegen, niemand konnte oder wollte darüber reden, sich mit diesem Teil der Vergangenheit auseinandersetzen. Ein Bürgerantrag, in Schönhausen eine Gedenkstätte einzurichten, wurde abgelehnt. Keiner der Täter wurde jemals zur Rechenschaft gezogen.

Zusammengefaßt von Klaus Holzer

Abb. 1: Photo Klaus Holzer

Abb. 2: Stadtarchiv Bergkamen

Das 11. Zeitzeichen

Einladung zum 11. Zeitzeichen des Kultur Kreises Kamen 

Porträt Martin Kopie

Martin Litzinger

Am 28. April 2016 findet das 11. Zeitzeichen des Kultur Kreises Kamen statt. Der Referent des Abends, Martin Litzinger, wird sich mit einem Thema beschäftigen, das unser Land wohl nie loslassen wird. Jeder Deutsche hat von Konzentrationslagern gehört, doch wer weiß, daß es auch in Bergkamen ein solches gab? Das ehemalige Wohlfahrtsgebäude Schönhausen der Zeche Grimberg I/II wurde von den Nationalsozialisten 1933 in ein KZ umgewandelt, in dem politisch Unliebsame „in Schutzhaft genommen“ wurden. Es war kein KZ wie Auschwitz und Treblinka, aber doch ein Lager, in dem gefoltert wurde. Daher stellt Martin Litzinger seinen Vortrag auch unter die Aussage:

„Man hörte die Schmerzensschreie der Misshandelten” 

Das Konzentrationslager Schönhausen in Bergkamen

im Jahre 1933

Martin Litzinger ist Stadtarchivar in Bergkamen und der beste Kenner der Bergkamener Geschichte. Er ist durch eine Serie von Veröffentlichungen hervorgetreten, in der er ausführlich die Geschichte jedes einzelnen Bergkamener Stadtteils darstellt.

Zeitzeichen 11 DIN A3 Plakat
Für die Umsetzung seiner Vorhaben ist der Kultur Kreis Kamen auf Spenden angewiesen, die auf das Konto des Fördervereins des Kamener Museums, IBAN DE 27 4435 0060 1800 0390 99 bei der Sparkasse UnnaKamen, Stichwort: KKK, (wenn möglich, konkreten Spendenzweck angeben) überwiesen werden können. Der Förderverein stellt steuerlich wirksame Spendenquittungen aus (bitte Spenderadresse deutlich angeben).

Klaus Holzer