Kamens Alter Markt – seine Entwicklung

von Klaus Holzer

Der KKK lud zum 19. ZZ am 14. November 2024 ins Kamener Haus der Stadtgeschichte ein und nahm damit eine durch Corona unterbrochene Reihe an Vorträgen wieder auf. Unter dem Titel „Kamens Alter Markt – Photos aus 150 Jahren“ berichtete Ortsheimatpfleger Klaus Holzer über die Geschichte des Kamener Marktplatzes und seine Funktionen im Verlaufe eben dieser 150 Jahre.

Vorweg:

Markt ← mhd. market ← ahd. marcāt/as. markat ←spätlat. marcātus ← lat. mercatus = Kauf, das Ge–/Verkaufte

Geschäfte in unserem Sinne gab es im MA nicht, wohl aber Läden, d.i., einfache Bretter/Latten vor Fenstern, auf denen Waren zum Kauf angeboten wurden. Fensterladen!

Händler, die von Markt zu Markt reisten, hatten zum Schutz ihrer Ware ein Schutzdach = Kram über ihren Wagen gespannt, weil ihre Ware i.d.R. wertvoll war, z.B. aus dem Orienthandel stammte: Seide, Brokat, Barchent (Mischgewebe aus Baumwoll-Schuss auf Leinen-Kette) usw. Alltagsware brauchten sie nicht anzubieten, die wurde vor Ort hergestellt. Das Wort weitete sich auf den „Krämer“ aus. Diese reisenden Krämer kamen auf die Märkte.

Der Referent wies darauf hin, daß dieser Platz, im 14. Jh. angelegt, d.h., durch die entsprechende Bebauung mit Ackerbürgerhäusern definiert, für eine damalige Einwohnerzahl von ca. 1300 unverhältnismäßig groß ist. Selbst für die aktuelle Einwohnerzahl erscheint er recht groß. Aber über die Jahrhunderte hinweg war und blieb er der geographische und gesellschaftliche Mittelpunkt der Stadt.

Fester Bestandteil des Marktplatzes war von Anfang an das Rathaus, schon 1399 zum ersten Mal in einer Urkunde erwähnt. Es enthielt alle notwendigen Amtsräume: das Büro des Bürgermeisters, des Kämmerers, den Ratssaal, alle diese Ämter ehrenamtlich ausgeübt. Nur für die Ratsmitglieder gab es ein Fäßchen Bier (ca. 115 Liter) im Jahr. Daher kommt wohl die Tradition des deutschen Ratskellers? Das wichtigste Amt, das des Stadtsecretarius (Stadtschreiber und Notar), war das einzige bezahlte Amt. Durch ihre Lage war die Stadtverwaltung bürgernah im wörtlichen Sinne. Architektonisch fügte sich das Rathaus perfekt in die Reihe der den Platz umgebenden Ackerbürgerhäuser ein: ein Obergeschoß, mit Krüppelwalmdach, nur die Grundfläche war entsprechend den Anforderungen größer.

Abb. 1: Markttag mit Ausrufer 1868

Kamen hatte im Mittelalter (MA) ein eigenes Gericht, und die Bürger besaßen das privilegium de non evocando, d.h., sie durften in Strafsachen nur von einem Kamener Gericht verurteilt werden. Und obendrein sicherte Graf Adolf II von der Mark der Stadt Marktfreiheit zu: an beiden Jahrmärkten (zu Pfingsten und St. Severin = 23. Oktober) je eine Woche lang und an den drei Wochenmärkten je einen Tag lang. Das bedeutete: „Niemand durfte wegen einer Schuld ohne Verfehlung verpflichtet oder gepfändet werden, sogar nicht, wenn er gesetzlos oder geächtet sein sollte!“

Im 15. Jh. spielte die dynastische Entwicklung eine große Rolle für Kamen. Die Familie 

derer von der Mark starb aus, die Herrschaft ging an den Herzog von Kleve über. Als dieser Familie das gleiche widerfuhr, geriet das Herzogtum in Erbschaftsstreitereien. So landete Kamen 1609 beim Kurfürstentum Brandenburg. Die Brandenburger waren ehrgeizig und schafften es 1701, nach reichlichem Geldfluß (auf Deutsch: Bestechung) sich König in Preußen nennen zu dürfen. Als die Kamener  einen Tag später aufwachten, waren sie preußische Untertanen geworden.

Abb. 2: Sedansäule vor dem umgebauten Rathaus 1878/85

Preußen zentralisierte alles, Kamen verlor 1753 sein Gericht, jetzt war Unna zuständig. 1873 wurde die Zeche Monopol abgeteuft, Tausende von frisch im Süden und Osten Deutschlands angeheuerte Bergleute strömten in die in den 1550er Jahren protestantisch gewordene Stadt, die meisten von ihnen katholisch. Unausweichlich nahm die Zahl der Konflikte innerhalb der Stadt zu, Kamen erhielt sein Gericht zurück. 1878 zog es in das auf das Rathaus aufgesetzte 2. Obergeschoß ein. Doch schon 20 Jahre später bekam es sein eigenes Gebäude in der Bahnhofstraße. Heute befindet sich darin das Haus der Stadtgeschichte, vulgo das Museum.

Abb. 3: Feier zum Sedantag

1872 wurde eine 32 Meter hohe Sedansäule auf den Marktplatz gestellt, genau in den Kreuzungspunkt von Weerenstraße/Lämmergasse (heute: ?) und Weiße Straße/Kirchstraße, städtebaulich wohl durchdacht. Sie sollte an den Sieg in der Schlacht bei Sedan im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 erinnern, die entscheidende Schlacht des Krieges, die in den 18. Januar 1871 mündete: Der preußische König Wilhelm I wurde im Spiegelsaal von Versailles zum Deutschen Kaiser proklamiert. Damit repräsentierte die Säule ein wichtiges Stück deutscher Geschichte, wenn auch seinerzeit, nach unseren Maßstäben, durch Nationalismus befleckt. Leider faßte der Kamener Rat 1956 den Beschluß, das im II. WK beschädigte Denkmal abzureißen. Begründung: as Denkmal sei nur noch ein Torso (der auf der Säule thronende Adler, der seinen halb geöffneten Schnabel drohend nach Westen stieß, weil dort der „Erzfeind“ = Frankreich saß, war im Krieg heruntergefallen); es bilde keine Zierde für den Marktplatz; es stelle ein Verkehrshindernis dar (!). Damit wurde unwillentlich, sicher auch unwissentlich, der erste Schritt in Richtung „Kamen – die schnelle Stadt“ gemacht. Viel schwerwiegender ist die Entfernung dieser Säule allerdings in Hinsicht auf unsere Geschichte und Erinnerungs(un)kultur. Nur Kamener im hohen Alter können sich noch an diese Säule, und wofür sie stand, erinnern. Die jüngeren wissen nichts von ihr, haben wohl zumeist nichts von Sedan und seinen Folgen gehört: Das Erste Deutsche Reich wurde gegründet (lassen wir mal das Heilige Römische Reich Deutscher Nation außen vor), verschwand mit dem Ende des 1. WK; ihm folgte das Zweite Deutsche Reich, das nach nur 15 Jahren verschwand und durch das Dritte (Deutsche) Reich abgelöst wurde, das in zwölf Jahren eine tausendjährige Zerstörung anrichtete.

Mit dem Fall des Denkmals erlosch die Erinnerung. So verdrängt man Geschichte, die doch eigentlich immer als konstitutiv für nationale Identität beschworen wird. Vielleicht verdrängt man allerdings auch nur den Teil, den man nicht mag. Mahnmale aber gehören nun einmal in die Öffentlichkeit, zum Lernen, Wissen und Mahnen.

Abb. 4: Kirmes mit Kleinbahn UKW

Immer wieder, durch die Jahrhunderte, war der Marktplatz der Ort aller Art von Veranstaltungen: Märkte, Kirmessen, Beerdigungszüge gingen diagonal über ihn hinweg, soldatische Aufmärsche gab es und politische, Versammlungen zum 1. Mai, auch Hunderte Motorradfahrer versammelten sich an diesem Tage zur ersten gemeinsamen Ausfahrt im Frühjahr, hier wurden 1946 Carepakete entladen und verteilt, Ostermärsche führten über ihn, Bundeskanzler Ludwig Erhard sprach hier zu Tausenden Kamenern, Musiktage mit Volkstanzgruppen fanden hier statt, Sinfoniekonzerte, Frühlings-, Hanse-, Trödel- und Weihnachtsmärkte, heute zur Winterwelt säkularisiert. Und seit 2012 steht im Frühjahr einige Wochen lang ein Maibaum mittendrauf. Und eines darf nicht vergessen werden: Die 1873 abgeteufte Zeche Monopol zog viele Bergleute mit ihren Familien in die Stadt, damit entstand erstmals die Notwendigkeit eines ÖPNV. Die Kleinbahn Unna – Kamen – Werne, als Straßenbahn bekannt, fuhr gut 40 Jahre lang, von 1909 bis Ende 1950 diagonal über den Marktplatz. Von Anfang an elektrisch! Im Zeitalter der Dampfmaschine, der Dampflok! Wegen der gefährlichen Engstelle zwischen Rathaus und dem gegenüberliegenden Kolonialwarengeschäft Mertin wurden in das Rathaus die Arkaden eingebaut.

Eines ist über die lange Zeit zur Konstante geworden: Der Kamener Schützenverein feiert immer wieder sein Königspaar auf dem Markt, mit Polonäse und allem Drumherum, dessen die Schützen fähig sind. Doch auch das scheint allmählich zu viel Aufwand geworden zu sein, vielleicht aber auch nur ein weiteres Zeichen der allgemeinen Individualisierung der Gesellschaft heute.

Abb. 5: Treueste Marktnutzer: die Schützen

So gehörte der Marktplatz jahrhundertelang den Menschen, die in Kamen wohnten und arbeiteten, Bürger, Handwerker, Ackerbürger und Arbeiter. Dann kamen die 1960er Jahre und alles änderte sich. Ab ca. 1965 gab es den großen Bruch in der Tradition des Marktplatzes, den Bruch, der sich schon 1956 abzeichnete, als die Sedansäule als „Verkehrshindernis“ betrachtet wurde und sie deshalb abgebrochen wurde. Damit einher ging der Abriß etlicher „ansehnlicher alter Fachwerkhäuser“ (Klaus Goehrke) und die Flächensanierung der Nordstadt. Flächensanierung ist natürlich ein Euphemismus: Wenn man „saniert“, ist das etwas Gutes, wenn man „abreißt“, klingt das gleich nach Wahrheit, und die verschreckt. Kurz: Kamen entschied sich gegen „erhalten“ und für „erneuern“. 

Nicht alles, was neu gemacht wurde, war freiwilliges, geplantes Handeln. In Weltkrieg II waren einige Häuser auf der Westseite des Platzes zerstört worden. Die Lücken wurden erst in der zweiten Hälfte  der 1950er Jahre geschlossen, jedoch im neuen Kastenstil, d.h., ohne Stil, ohne Rücksicht auf die vorhandene Altbebauung mit Fachwerkhäusern. 

Abb. 6: Verabschiedung von Pastor Philips, im Hintergrund  zu erkennen: Kriegsschäden

Die Entwicklung brachte auf der Südseite die Verbreiterung der Lämmergasse mit sich, das Haus Markt 5 fiel, heute läuft der Verkehr mehrspurig zwischen Parkplatz und Marktplatz, und auf der Nordwestseite wurde das wunderschöne Fachwerkhaus des Bäckers von der Heyde mit der großen Brezel über dem ersten Obergeschoß der Verbreiterung eines schmalen Weges zur Marktstraße geopfert. Der frühere Schützenplatz wurde zum Neumarkt (seit 1993 Willy-Brandt-Platz), was auch die Bezeichnung „alter“ Markt damals rechtfertigte. 

Abb. 7: Die neue städtische Herrlichkeit: Waschbeton überall

Diese Neuausrichtung wurde dem Zeitgeist entsprechend gestaltet. Waschbeton wurde das vorherrschende Material. Mäuerchen, Bänke, Vitrinen, Blumenkästen, Fassaden – alles aus Waschbeton. „Wer mit dem Zeitgeist verheiratet ist, ist bald Witwe.“ (Kierkegard, dänischer Philosoph). Kamen war nach 25 Jahren schon Witwe.

Jetzt verlor der Marktplatz seine Funktion und sein Gesicht: ein Einbahnstraßensystem umrundete ihn, die Mitte wurde von zwei Straße durchschnitten, die als Zufahrten zu vier Reihen von Parkplätzen dienten. Kamen war die „schnelle Stadt“ geworden, der Marktplatz den Bürgern genommen. Überall wo Altes verschwand, wurde Platz gemacht für das neue Lieblingskind der Kamener, das Auto, meistens ein Käfer. Besonders abstrus: In der Weststraße, damals voller inhabergeführter Läden, durften zwar Autos fahren, nicht aber Motorräder und, jetzt kommt’s, auch keine Fahrräder!

Abb. 8: Die „gute Stube“ der Stadt: ein Parkplatz

Photos noch aus den 1970er Jahren belegen noch etwas anderes. Wie reich war die Auswahl an lokalen Tageszeitungen im Vergleich zu heute, alle Redaktionen am Markt: Da gab es die Westfalenpost, die Ruhrnachrichten, die Westfälische Rundschau, die Westdeutsche Allgemeine Zeitung und den Hellweger Anzeiger, heute nur noch den HA und die WR, zwei fast identische Zeitungen, weil von einem Verlag, einer Redaktion betrieben.

Abb. 9: Ein Umdenken hat eingesetzt: die Autos sind vom Markt soweit wie möglich verbannt

Erst um 1990 setzt ein Umdenken ein. Der Markt wird erneut umgestaltet – Kierkegard hat recht – die Straßen werden entfernt, bis auf die auf der Südseite, ohne geht’s eben nicht, der Platz den

Bürgern der Stadt zurückgegeben. Städtisches Grün fehlt noch, umfangreiche Außengastronomie, zuvor kaum möglich, hat sich aber etabliert, wird angenommen, im Sommer mit Maibaum, einladend zum Verweilen, nicht mehr für Autos reserviert, gibt es fast mediterrane Atmosphäre: Sitzen im Freien, bei einem Bier, einem Wein, gutem Essen läßt sich gut sitzen und plaudern. 

Abb. 10: Der Markt ist den Kamenern zurückgegeben

Ein Blick von oben auf den Kamener Marktplatz verdeutlicht, daß trotz aller Veränderungen, immer wieder zum Schlechteren, Kamen immer noch eine ansehnliche Stadtmitte hat. An die Stadtverwaltung richtet sich die Aufforderung, eine Denkmalbereichssatzung zu beschließen, die ein städtisches Ensemble von Häusern unter Denkmalschutz stellt, auch wenn einzelne Häuser nicht darunterfallen. Unsere Altstadt darf ihr Gesicht nicht verlieren, ihr Gesicht, das sind ihre Häuser, damit Stadtführungen nicht in Zukunft anfangen müssen: Es war einmal eine Stadt an der Seseke, die …

KH

Historische Photos:

Stadtarchiv, Archiv Walter Christoph & Archiv  Klaus Holzer

Photo Nr 10: Stefan Milk