Archiv der Kategorie: Kamener Köpfe

Wilhelm Wienpahl – Kamener Erfinder und Unternehmer,

von Klaus Holzer

Abb. 1 Wilhelm Wienpahl _0001

Wilhelm Wienpahl, 25.7.1850 – 8.11.1923 (Photo von Ernst Brass)

 Als am 18. Januar 1871, nach dem siegreichen Krieg gegen Frankreich, das Deutsche Reich im Spiegelsaal von Versailles gegründet wurde, ging nicht nur jahrhundertelange deutsche Kleinstaaterei zu Ende (zeitweise gab es über 350 unabhängige Kleinstaaten auf deutschem Territorium!), sondern die „verspätete Nation“ (Helmut Plessner) erlebte vor allem durch zwei damit einhergehende Ereignisse eine vorher nie dagewesene Wachstumseuphorie. Zum einen entfielen alle mit der Kleinstaaterei verbundenen (Binnen)zölle, zum anderen lösten die von Frankreich an das Deutsche Reich zu zahlenden Reparationen eine Geldschwemme aus, die die in der Mitte des Jahrhunderts in Gang gekommene Industrielle Revolution begleitete und antrieb. Die nächsten zwei Jahrzehnte heißen heute zu Recht die „Gründerjahre“. Und was sich im Reich und vor allem an der Ruhr im großen abspielte – es entwickelte sich hier Europas größter industrieller Ballungsraum – fand auch im ländlich–beschaulichen Kamen (bis 1903 mit C: Camen) seine Entsprechung.

Seit der Mitte des 19. Jh. hielt in Kamen die Industrialisierung Einzug, und mit ihr die moderne Zeit:

1847 – die Köln-Mindener Eisenbahn fährt durch Kamen

1865 – eine Gasanstalt wird eröffnet

1873 – Abteufung von Grillo I der Zeche Monopol

1887 – Beginn der zentralen Wasserversorgung

1891 – Kamen erhält eine Molkerei

1892 – Beginn des Baues der Kanalisation

1909 – die VKU verbindet Unna, Kamen und Werne

1921 – Kamen bekommt die erste elektrische Straßenlaterne

In den Jahren von 1847 bis 1913 hatte Kamen nur zwei Bürgermeister, Julius von Basse (BM von 1847 – 1877) und seinen Sohn Adolf von Basse (BM von 1877 – 1913). Es ist deutlich, was für einen Modernisierungsschub Kamen während ihrer Amtszeit erlebte. Friedrich Pröbsting schreibt denn auch bewundernd: „Während der Amtszeit der beiden [ … ] Bürgermeister Julius von Basse und Adolf von Basse, also seit 1847, hat unsere Stadt einen Aufschwung genommen, wie nie zuvor.“

Nachdem Kamen „einen Hafen an einem der bedeutsamsten Ströme Europas“ (der Stadtchronist Friedrich Pröbsting über die Eisenbahn 1901) bekommen hatte, siedelte sich auch in unserer kleinen Stadt (1875 hatte Kamen 4157 Einwohner, im Dezember 1900 schon 9888) Industrie an:

Papierfabrik Friedrich, 1850

Gießerei und Metalldreherei Theodor Jellinghaus, 1868

Gußstahlfabrik Vohwinkel, 1870

Cigarrenfabrik Möllenhof, Anf. 1850er Jahre

Maschinenbau & Tiefbohrungen Winter, 1870

Eiserne Kleinwagen Wönkhaus, 1872

Schuhfabriken von der Heide, Betzler, Henter

Schlossereien Klein, 1874

Bohde, Wienpahl, 1874

Herde Fischer, 1888

Am 22. Januar 1875 erschien im Volksfreund, der damaligen Camener Zeitung, die folgende Annonce:

Annonce 1

Die junge Firma bot ein reiches Spektrum an Waren und Reparaturleistungen. Und offenbar weitete sie ihr Angebot sehr schnell aus. Schon im Sommer bot sie an:

Annonce 2

Neben den landwirtschaftlichen Geräten scheinen vor allem Bierpumpen gefragt gewesen zu sein, gab es doch in Kamen traditionell viele „Herren Bierwirthe“. Die aufstrebende Firma machte sich schnell einen Namen und wurde erfolgreich, da die beiden Eigentümer erkannten, daß Diversifizierung der Schlüssel zum Erfolg war. Man handelte, stellte her und reparierte. Aber vielleicht war es doch nicht so einfach, ein so breites Angebot wirtschaftlich zu betreiben. Schon am 1.5.1877 trat Julius („Jülle“) Bohde wieder aus der Firma aus und machte sich am heutigen Standort selbständig. Er konzentrierte sich mehr auf den Handel, WW hingegen auf Produktion und Reparatur.

Von allen diesen Namen ist nur Bohde heute noch vertreten. Fast ganz in Vergessenheit geraten ist der Mann, der zuerst mit Julius Bohde zusammen eine Schlosserei gründete, Wilhelm Wienpahl (WW) (geb. 25.7.1850, gest. 8.11.1923). Die beiden erwarben direkt vor dem Ostenthor ein Grundstück, das nach hinten an den damals noch offenen Goldbach grenzte und nach vorn an die „Chaussee von Camen nach Hamm“, gegenüber dem 1866 stillgelegten, 1891 in den heutigen Stadtpark umgewandelten Friedhof, und bauten sich 1874 ein stattliches Gebäude. Am 1.1.1875 eröffneten sie ihre gemeinsame „Gelbgießerei und mechanische Werkstatt“. Adresse: Ostenstraße o.Nr. (Die Adresse im Jahre 1902 ist: Ostenfeldmark 12; danach auch: Ostraße; 1914 aber: Hammer Straße 200; später dann: Hammer Straße 1).

Abb. 2 Wilhelm Wienpahl Fabrik 1_NEWWilhelm Wienpahl vor seiner Fabrik nach der ersten Erweiterung in den 1880er Jahren

Wilhelm Wienpahl machte so erfolgreich weiter, daß er seinen Betrieb schon nach wenigen Jahren durch einen Anbau erweitern mußte, auf den er gleich danach auch noch ein Obergeschoß setzte, da er sein Angebot an Leistungen bedeutend erweiterte. Es hieß jetzt:

Wilhelm Wienpahl

Mechanische Werkstatt

Schlosserei & Dreherei

Grubenlampen– & Metallwarenfabrik

Thore, Gitter, Ventile, Hähne

Nähmaschinen, Fahrräder

Haushaltungsmaschinen

Reparaturen aller Art

Gruben-Bedarfsartikel

Gegründet 1874

Abb. 3 Wilhelm Wienpahl Fabrik 2_0001Die Fabrik nach der Zweiten Erweiterung

WW war ein findiger Kopf. Es reichte ihm nicht, einfache Sachen zu bauen und zu reparieren. Kurz bevor er seine Fabrik gegründet hatte, hatten die Unternehmer Grillo und Grimberg mit der Teufung ihrer Zeche Monopol begonnen. Ab 1878 wurde in Kamen Kohle gefördert. Die Arbeit unter Tage war schwer und gefährlich, viel hing von der Konzentration des Grubengases ab. Das Leben der Kumpel hing davon ab. Es gab Grubenlampen, deren Flamme, untergebracht in einem messingnen Drahtgeflecht, umso heller brannte, je höher die Gaskonzentration war. Doch ließen sich diese Modelle leicht öffnen, und wenn das geschah, entzündete die Flamme das Gas, und es gab eine Scghlagwetterexplosion. Sie durfte also nur Übertage geöffnet werden können.


Abb. 4Abb. 5Abb. 6 Patent 2_0001Die beiden Patente von 1884 und 1886 und die schematische Darstellung des Sicherheitsverschlusses

WW entwickelte nun einen, wie er meinte, sicheren Verschluß. Er gab die Lampe einem Steiger, um seinen neuartigen Verschluß auszuprobieren und erwartete gespannt, daß dieser scheitern würde.  Der aber öffnete ihn gleich beim ersten Versuch. WW war enttäuscht, tüftelte weiter. Schließlich gelang ihm ein Sicherheitsverschluß, den er sich patentieren ließ (Patent Nr. 31694 vom 17. Juli 1884). 1886 erhielt er noch ein zweites Patent (Nr. 38267 vom 27. März 1886). In der Camener Zeitung vom 15. Dezember 1895 gibt es eine Notiz über ein Patent an WW, doch ist nicht mehr feststellbar, ob es sich um ein drittes Patent handelt oder ob in der Nachricht auf eins der früheren zurückgegriffen wurde. Die Nachkommen WWs wissen jedenfalls nichts von einem dritten Patent.

Abb. 6a Annonce Wienpahl 15.12.1895

Abb. 7a Annonce Wienpahl 19.11.1882

Und mehrfach erhielt er Gebrauchsmusterschutz auf seine Grubenlampe. Diese Lampe wurde Standardmodell auf vielen Zechen, und WW ließ 1906 sechs Schmucklampen herstellen und verchromen. Eine Lampe ist heute noch im Besitz der Familie, eine stand vor noch nicht allzu langer Zeit in der Altdeutschen Bier– & Weinstube Kümper in der Bahnhofstraße auf einem Brett über der Tür. Eine Lampe erhielt der langjährige Zechendirektor Friedrich Funcke, der auf der „Funckenburg“ wohnte (heute Zollpost). Wo die anderen drei geblieben sind, läßt sich nicht mehr feststellen.

Abb. 7 Grubenlampe WienpahlDie Schmucklampe von 1906

Hier war also ein Kamener, der sich aktiv um die Sicherheit der Bergleute verdient machte. 1874 oder 1875 heiratete er die aus Dortmund stammende, drei Jahre ältere Luise Rühl (2.7.1847 – 15.10.1915). Sie hatten fünf Kinder, drei Jungen und zwei Mädchen. Dieses Familienphoto stammt von 1889 oder 1890.

Abb. 8 Familie Wienpahl

Wilhelm Wienpahl und seine Familie

Abb. 8a Wienpahl Artikel 1877

Aber die Produktpalette war größer. Am 11.9.1877 stellte WW beim landwirtschaftlichen Fest des Kreisvereins Hamm in Kamen seine Rübenschneide– und Handdreschmaschinen aus. Sicher weiß sein Nachkomme heute nur noch, daß er drei Altgesellen hatte, jedoch nicht mehr, wieviele Arbeiter in der Fabrik arbeiteten. Wenn man aber die Stellung eines Altgesellen betrachtet, so ist er einem Werkstattmeister von heute gleichzusetzen. Es darf also angenommen werden, daß die Belegschaft vielleicht 20 bis 30 Leute betragen haben mag.

Abb. 9 Turnerfeuerwehr 1896 2 Kopie 2Die Kamener Turner-Feuerwehr; Wilhelm Wienpahl vorn links im Oval

Abb. 10

Wilhelm Wienpahls Belobigung durch den Kaiser

WW hatte gehofft, daß einer seiner Söhne eines Tages die väterliche Fabrik übernehmen würde. Aber wie es dann so geht in bürgerlichen Familien, die aufwärts streben, sich für ihre Kinder einsetzen, damit diese „es einmal besser haben“ werden und den Wert einer guten Erziehung und Bildung erkannt haben und daher ihre Kinder – damals wohl fast ausschließlich ihre Söhne; für seine Töchter baute WW ein großes Doppelhaus als Sicherheit  – auf die höhere Schule schicken, das Interesse ihrer nunmehr gebildeten Söhne am Betrieb zu Hause schwindet, soziale und berufliche Distanz wachsen. Keiner der drei Wienpahl-Söhne wollte die Fabrik übernehmen, eine Enttäuschung für den Vater. Zwei wurden Lehrer (einer wird vom Stadtchronisten Friedrich Pröbsting im letzten Absatz des Kapitels „Die Schule der größeren evangelischen Gemeinde”  seiner „Geschichte der Stadt Camen” erwähnt), einer Uhrmacher und Goldschmied und emigrierte in die USA. Als WW 1923 starb, wurde er an der Seite seiner schon acht Jahre zuvor gestorbenen Frau in der Familiengruft beigesetzt. Gemäß ihrem sozialen Anspruch hatten die Wienpahls sich auf dem (damals neuen, heute) alten Friedhof an der Friedhofstraße eine Gruft mit neun Feldern und einem repräsentativen Grabstein gekauft. Inzwischen ist die Gruft längst eingeebnet.

1923 wurde das Fabrikgebäude an einen Kamener Tabak– und Zigarrenhändler verkauft. Das stellte sich als großer Fehler heraus, verlor doch Bargeld, ein sechsstelliger Verkaufspreis, durch die Inflation binnen Wochen jeglichen Wert. Der Käufer hatte das große Geschäft gemacht.

Dieser verkaufte die Liegenschaft aber schon nach wenigen Jahren an die Stadt Kamen, die es mit einem neuen Vorbau versah, mit Seitenrisaliten, einem repräsentativen Zentraleingang, auf dem eine Terrasse die Möglichkeit zu öffentlichen Auftritten bot. Hier war einige Zeit die städtische Bücherei untergebracht. Eine weitere Nutzung erfuhr das Haus, als am 1.10.1954 das Bergamt einzog (unter der Adresse Hammer Straße 13), bis dieses in die Poststraße umzog. Das Gebäude wurde im Zuge des Neubaues des Gymnasiums abgerissen.

Abb. 11 Wilhelm Wienpahl NachfolgebauWilhelm Wienpahls ehemalige Fabrik nach dem Umbau durch die Stadt Kamen Ende der 1930er Jahre

Übrigens wohnte in den 1950er Jahren der Komponist Gerard Bunk, gebürtig aus Rotterdam, Organist an der Reinoldikirche in Dortmund, in der ehemaligen Wienpahlschen Fabrik, im ersten Stock rechts. Er mußte aus Dortmund wegziehen, da seine Wohnung mit all seinem Besitz bei einem der vielen Angriffe auf Dortmund von einer Bombe zerstört worden war. Seine Nachbarn freuten sich über die vielen Privatkonzerte, mit denen Bunk sie bei geöffneten Fenstern unterhielt. Hier wohnte er bis zu seinem Tode 1958.

Als die Nationalsozialisten ab 1933 die Macht auch in Kamen übernahmen, sah man das dem alten Fabrikgebäude an, überall hingen Hakenkreuzfahnen. Ca. 1974 wurde das Gebäude abgerissen. Auf dem Gelände entstand der heutige Parkplatz, der hintere Teil des Grundstücks wurde mit dem Gymnasium und danach einem Kindergarten bebaut. Das war besonders in den 1960er und 70er Jahren der Geist der Zeit. Auch Kamen riß in diesen Jahren viel von seiner alten Bausubstanz ab. Altes mußte Neuem Platz machen, Parkplätze gab es plötzlich überall. Die autogerechte Stadt war das Ideal. Man wollte nicht der Moderne im Weg stehen, sie sogar befördern. Kamen nannte sich „die schnelle Stadt”. Heute wünschen sich viele das Alte zurück.

Auch der Bergbau ist aus Kamen verschwunden, nur wenig erinnert noch an ihn. WW und seine Fabrik sind verschwunden, seine Grubenlampe hat nur noch nostalgischen Wert, nichts erinnert mehr an diesen tatkräftigen und erfinderischen Unternehmer und engagierten Feuerwehrmann. Bloß in der „Geschichte der Stadt Camen und der Kirchspielsgemeinden von Camen“ von Friedrich Pröbsting wird er auf S. 65 erwähnt. Doch seine Stadtgeschichte ist ebenfalls nicht mehr erhältlich. Nur Bohde gibt es noch. Hoffentlich noch lange.

KH

Johannes Buxtorf – Vortrag am 13. Januar 2015

Herzlichen Glückwunsch zum 450. Geburtstag

10. Bild

Johannes Buxtorf

dem Begründer der wissenschaftlichen Hebraistik

dem wirkmächtigsten Kamener aller Zeiten

Dr. Christoph Buxtorf und Dr. Regine Buxtorf, zwei Nachfahren des Johannes Buxtorf, kommen anläßlich dieses Geburtstages am 13. Januar 2015 nach Kamen

(Bitte lesen Sie auch den Artikel über JB! Hier klicken! Hinweis: am 13. Januar 2015 hält Horst Delkus im Kamener Museum einen Vortrag über JB)

KH

Fritz Heitsch – Stadtdirektor und Künstler

von Klaus Holzer

In unserer Vorstellung gibt es kaum etwas Trockeneres als Verwaltungsbeamte. Sie verfahren streng nach Recht und Gesetz, neigen zu bürokratischem Verhalten, treiben uns manchmal zum Wahnsinn, dennoch geht es ohne sie nicht.

Ganz anders der Künstler. In allem scheint er das Gegenteil des Bürokraten zu sein. Große Freiheit und Gestaltungskraft aus ihm selber heraus, gewonnen aus sich selbst auferlegten Regeln, treiben ihn zu schöpferischem Tun.

Aus der Zwischenablage Fritz Heitsch, 1962

Und es scheint ausgeschlossen, daß sich diese einander widersprechenden Eigenschaften in einer Person verbinden können. Und doch ist es vorgekommen, in Kamen: der frühere Kamener Stadtdirektor Fritz Heitsch war beides.

FH wurde am 23. Juni 1900 in Elberfeld (heute Stadtteil von Wuppertal) geboren, gerade noch rechtzeitig, um im Ersten Weltkrieg als Soldat zu dienen. Sein Vater war Prof. Louis Heitsch, Bildhauer und Oberlehrer an der Handwerker– und Kunstgewerbeschule in Elberfeld. Anders als nach seiner Herkunft zu erwarten gewesen wäre, wurde Fritz, nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt war, Bergmann auf der Zeche Sachsen in Heessen, wo er fast zwei Jahrzehnte arbeitete, mehrere davon als Betriebsrat. 1922 trat er in die SPD ein.

Ende der 1930er Jahre inhaftierten ihn die Nationalsozialisten im KZ Schönhausen in Bergkamen, von wo er nach kurzer Zeit in das Lager Wittlich/Mosel verlegt wurde. Als echter Sozialdemokrat hatte er sich geweigert, mit „Heil Hitler“ zu grüßen.

Während dieser Zeit als Gefangener entsann er sich seiner Kindheit in einer Künstlerfamilie und fand zur Kunst, die es ihm ermöglichte, diese belastende Zeit ohne größere Schäden an Körper und Geist zu überstehen.  Aber er machte es sich nicht leicht, er wählte den schweren Weg, er brachte sich das zu seiner Kunst notwendige Handwerk selber bei. Und für seine Plastiken nahm er nicht die leichter zu bearbeitenden Werkstoffe wie Holz oder Töpferton, sondern den spröden Mergelton, aus dem auch Ziegel gefertigt werden.

Büste FH von W. Becker 1943 KopieW. Becker, Büste Fritz Heitsch, 1943

 Nach der Zeit in Wittlich war er gesundheitlich angeschlagen und kam dennoch, wieder zurück in der Heimat, erst einmal als Sanitäter an die Westfront, nach seiner Entlassung 1940 ins Knappschafts-krankenhaus nach Hamm, wo er seine künstlerische Tätigkeit wieder aufnahm. Schon 1942 war er an einer Ausstellung in Hamm beteiligt. 1943 wurde er an die Landwehr überstellt. Inzwischen war seine künstlerische Begabung sogar den Nazis aufgefallen, die ihn bisher alsSozialisten diskriminiert hatten. In der Wochenschau vom 20. Oktober 1943 wird FH als „Kumpel auf einer deutschen Zeche“ porträtiert, der „ein guter Bergmann“ sei, der „seine freie Zeit als Bildhauer“ verbringe. So benutzten sie ihn, den sie wenige Jahre zuvor noch ins KZ gesteckt hatten, nun für ihre Zwecke.

Bäuerin_Mutter    Fritz Heitsch, Bäuerin, o.D. | Mutter mit Kind, o.D.

Am 25. Mai 1945, gleich nach Kriegsende, ernannte der englische Kommandant von Hamm FH, den sozialdemokratischen Betriebsrat und ehemaligen KZ-Insassen, zum Bürgermeister von Werries, seinem Wohnsitz seit 1923. Das geschah ganz lakonisch auf einem etwa 5 cm breiten Streifen Papier, mit Schreibmaschine geschrieben: „Hereby I appoint Herr Heitsch Bürgermeister of Werries.“ Nur ein Jahr später bestellte ihn derselbe englische Kommandant zum Amtsbürgermeister des Amtes Rhynern. Den nächsten Schritt auf der Karriereleiter machte er, als Hubert Biernat, damals Landrat in Unna, ihn zu sich ins Kreishaus holte. Doch schon 1948 wurde er für 12 Jahre zum Stadtdirektor in Kamen gewählt.

In diese Zeit fallen Kamens erste größere Industrieansiedlungen: Kettler, Winkelhardt, GZK, mit Paul Vahle fuhr er einen ganzen Sonntagnachmittag lang durch Kamen, bis dieser ein passendes Grundstück gefunden hatte. Wie weitsichtig dieses Handeln war! Vahle ist heute eines der innovativsten Unternehmen in Kamen, ein Vorzeigebetrieb, Weltmarktführer auf seinem Gebiet, der berührungslosen Stromübertragung. Bei all diesem Handeln stand FH unter dem immensen Druck der „Waschkauenfraktion“, die sich sorgte, daß dem Bergbau Arbeiter verloren gehen könnten, die die Arbeitsplatzkonkurrenz fürchtete. FH war der Weitsichtigere.

In diese Zeit fiel die schwierige Aufgabe des Wiederaufbaus der teilweise zerstörten Stadt. Man sollte also meinen,  damit war FH ausgelastet. Doch fand er immer noch Zeit für seine Plastiken, vielleicht brauchte er sie auch, um zwischen all den schweren Entscheidungen jener Zeit Luft zu schnappen. Sein Thema waren immer wieder die Erfahrungen seiner frühen Jahre: Bergmann, Bäuerin, Mutter mit Kind, sie alle Figuren, denen man ansah, daß sie in ihrem Leben immer kämpfen mußten. Für ihn war die Frage nie, die damals die Künstler umtrieb: figürlich oder abstrakt? Seine Erfahrungen waren konkret, sie mußten konkret dargestellt werden. Sie sollten die Lebenswirklichkeit widerspiegeln.

Bergmänner             Fritz Heitsch, Bergmann, o.D. | Bergmann, o.D.

In den 1950er Jahren traf er auch mit bekannten Künstlern unserer Region zusammen: Max Schulze-Sölde, Fritz und Eberhard Viegener, Hans Güldenhaupt, Lutz Ante, Heinz Wittler, u.a.

Als wäre es noch nicht genug, sich als oberster Verwaltungsbeamter und als ein anerkannter Künstler in Kamen zu verewigen, wurde er auch noch zum Mäzen einer jungen Künstlergeneration. Helmut Meschonat, ein entfernter Verwandter, ebenfalls aus Werries nach Kamen gekommen, Ulrich Kett und Heinrich Kemmer gründeten 1959 die Künstlergruppe „Schiefer Turm“, als deren, heute würde man sagen, Manager der umtriebige Emil Künsch auftrat. Diese drei Künstler brauchten dringend ein Atelier, in dem sie ihre großformatigen Arbeiten anfertigen konnten. Emil Künsch wandte sich mit der Bitte um Hilfe an die Stadt und fand in FH jemanden, der das Verständnis für dieses Bedürfnis sogleich in die Tat münden ließ. Jetzt wurde der Dachboden des Amtsgerichts, des heutigen Hauses der Kamener Stadtgeschichte, von den Beteiligten in Gemeinschaftsarbeit in ein Atelier verwandelt. Und weil FH an der Gruppe ein persönliches Interesse nahm, wurde er gleichzeitig Mitglied und stellte ab 1961 mit den Jungen zusammen aus.

Kinderkopf KopieFritz Heitsch, Sohn Klaus, ca. 1945

Und auch in anderer Hinsicht half er ihnen, ihren Weg in die Kunst zu finden, indem er sie mit den arrivierten Künstlern aus seiner Bekanntschaft zusammenbrachte, was ihnen immer wieder neue Impulse verlieh.

Daß er gleichzeitig auch ein guter Verwaltungschef gewesen sein muß, beweist die Tatsache, daß er 1961 für eine zweite zwölfjährige Amtsperiode als Stadtdirektor gewählt wurde. In dieser Funktion wurde er zum Vorsitzenden des Deutschen Städtebundes im Regierungsbezirk Arnsberg gewählt, er, der Sozialdemokrat, von einer CDU-Mehrheit!

Doch 1963 erlitt er einen Schlaganfall und war fortan nicht mehr in der Lage, sein Amt auszuüben. Am 28. Februar 1965 schied er offiziell wegen Erreichens der Altersgrenze aus. Seine Gesundheit hatte ihn zwar im Stich gelassen, doch von der Kunst ließ er nicht. Sie war der Trost seiner letzten Lebensjahre.

Am 28. Januar 1971 starb Fritz Heitsch in Kamen und wurde auf dem alten Friedhof an der Friedhofstraße beigesetzt.

                                                          FH Unterschrift 111kb Kopie

 

Seine Plastiken stehen heute überwiegend in privaten Sammlungen, doch sind einige auch in öffentlichen Instituten untergebracht. Sein Sohn Klaus Heitsch hat eines der für FH typischen Motive dem Kamener Haus der Stadtgeschichte geschenkt. Hier hat der „Bergmann“ seinen Platz in der Vitrine neben dem Stollen gefunden, den Kamener Bergleute hier eingerichtet haben, damit die Erinnerung an das nicht verlorengeht, was Kamen 110 Jahre lang geprägt hat, im guten wie im schlechten, der Bergbau.

KH

Johannes Buxtorf, ein Basler aus Camen

1. Bild

Johannes Buxtorf, ein Basler aus Camen

Daß sein Sohn Johannes, der dem Camenser Oberpfarrer Johannes Buxtorf (andere Schreibweisen sind Boxtorp und Boxtrop) und seiner Frau Maria, geb. Volmar, am Weihnachtstage 1564 geboren wurde, ein wahres Weihnachtsgeschenk für Europa und die Wissenschaft werden sollte, war wahrhaftig nicht vorherzusehen. Dabei wurde der Kleine in eine Familie hineingeboren, die nicht nur für die damalige Zeit außergewöhnlich genannt werden muß. Die Familie wohnte in dem alten Fachwerkhaus an der heutigen Ecke Kampstraße/ Weststraße

2. Bild Buxtorf-Haus in Kamen

(damals gab es keine Straßennamen, nur Hausnummern), wo das Haus der Commerzbank steht. Das Familienwappen zeigte einen springenden Bock, der bis zum Abriß des Hauses um 1900 als Wetterfahne auf dem Dach stand. Der letzte Besitzer, ein Hugo Müller, entfernte diese Wetterfahne vom Dach, weil seine Mutter wegen der Quietschgeräusche, die sie bei Wind verursachte, nicht schlafen konnte und schenkte sie dem Kamener Stadtmuseum. Das Original gibt es dort leider nicht mehr, doch erinnert eine Kopie an das Verlorene.

3. Bild

Kopie der Wetterfahne des Kamener Buxtorf-Hauses mit dem Bock,
dem Wappentier der Buxtorfs

 

Und auch der Name „Buxtorf“ ist zwar heute noch an zwei Stellen in der Stadt vertreten, doch sagt er den wenigsten etwas. In der Innenstadt gibt es die Buxtorfstraße, klein und unbedeutend, dem großen Mann so gar nicht angemessen, und in Südkamen das Buxtorfhaus, das sich durch das Männerforum zu einem bekannten Treffpunkt entwickelt hat.

Die erste Erwähnung dieses Namens finden wir in einer Urkunde „des dinstages vor sunte Johannes baptisten“ (19. Juni 1453), in der ein Johan Buxtorp den Verkauf einer Geldrente durch Brun de Vette an Dietrich Sprenge zu Camen bezeugt. Dann taucht ein Dr. jur. Severinus (auch Joachim genannt; seine Lebensdaten sind nicht überliefert) auf, der, mit Unterbrechungen, 30 Jahre lang Bürgermeister von Camen war. Daher war die Familie hier sehr angesehen und mit fast allen anderen führenden Familien in der Stadt verwandt. Das war für Severinus‘ Sohn Johannes von größtem Vorteil, als er nach 1553 als der damalige Camener Oberpfarrer an der St. Severinskirche (heute Pauluskirche) einer der Wegbereiter der Reformation in Kamen wurde. Anders als der erste, der sich in Camen zur Reformation bekannte, Hermann Hamelmann, wurde Buxtorf als angesehener Bürger der Stadt nicht der Stadt verwiesen. Erst im Laufe des 17. Jh. starb die männliche Linie der Buxtorfs in Camen aus.

Aber kommen wir zu unserem Weihnachtskind zurück. Über seine Kindheit und Jugend ist kaum etwas bekannt. Ersten Unterricht erhielt der kleine Johannes – die meisten Buxtorfs hießen Johannes, was es manchmal schwer macht, sie auseinanderzuhalten; unser Johannes wird hier, der wissenschaftlichen Tradition folgend, als JB I bezeichnet – von seinem Vater, dem Oberpfarrer, in Lesen und Schreiben unterrichtet, erhält selbstverständlich auch, wie das im Jahrhundert der Reformation in gelehrten Häusern üblich war, eine erste Einführung ins Lateinische. Schon bald schickte ihn der Vater auf das Gymnasium nach Hamm, das heutige Hammonense – Camen hatte zu der Zeit zwar bereits eine Schule, die „schola latina camensis“,  Vorläuferin  unseres heutigen Gymnasiums, doch empfahl sie sich nicht für die Studien ehrgeiziger Schüler – wo er vom Rektor Georg Fabricius mit dem Hebräischen bekannt gemacht wurde. Doch bereits nach kurzer Zeit wechselte JB I auf das Archigymnasium nach Dortmund, wo Fridericus Beurhusius sein Lehrer war. Als 1582 sein Vater starb, ging er kurz nach Camen zurück, setzte aber bald seine Studien in Marburg/Lahn fort. Schon 1584 aber ist er an der Nassauischen Hochschule in Herborn eingeschrieben, wohin ihn die seinerzeit berühmten Namen Olevianus und Piscator gezogen hatten.

Es ist offenkundig, daß ihm Bildung über alles ging. Es ist überliefert, daß er nicht, wie es wohl unter Studenten damals weit verbreitet war, ein liederliches Leben führte, sondern alle Vorlesungen regelmäßig besuchte und fleißig mitschrieb, woraus er in seinem späteren wissenschaftlichen Leben noch reichlich schöpfte.

Johann Piscator war seinerzeit der bedeutendste Hebraist und ein hervorragender Lehrer, der in JB I seinen besten Schüler fand. Dieser zeichnete sich durch Talent und enormen Fleiß aus, so sehr, daß sein Lehrer schon nach kurzer Zeit bekannte, sein Schüler sei ihm an Wissen überlegen.

Von Herborn ging es für kurze Zeit nach Heidelberg, doch schon 1588 nach Basel – er schrieb sich als Johannes Buxtorfius vuestfalus camensus ein – vor allem, um dort bei Johann Jacob Grynäus zu studieren. Auch der merkte sofort, was für einen besonderen Studenten er vor sich hatte. Daher setzte er alles daran, ihn in Basel zu halten. So wurde JB I schon ein halbes Jahr nach seiner Ankunft in Basel die Professur der hebräischen Sprache angeboten, obwohl er noch nicht einmal den Magister erworben hatte! Aber er lehnte sie ab, da er sich dafür noch nicht reif fühlte. Doch ließ er sich dazu überreden, sie vertretungsweise anzunehmen. Nach seiner Promotion am 6. August 1590 wurde er einstimmig auf diesen Lehrstuhl gewählt. Seiner Promotion zum Magister ging eine Disputation voraus, die sich mit dem Thema befaßte, ob „Tiere ganz ohne Vernunft seien oder nicht“.

4. Bild
 Johannes Buxtorf in den 1590er Jahren
 

Von nun an war alles im Leben des JB I darauf angelegt, Basler Bürger zu werden. Nur noch ein letztes Mal besuchte er seine Heimatstadt Camen. Im September 1593 fuhr er „mit günstigem Wind von Basel nach Köln“ und suchte dann zu Fuß seine Heimat auf. Aber schon am 1. Dezember 1593 kehrte er wohlbehalten nach Basel zurück. Anfang 1594 heiratete er Margaretha, die Tochter der in Basel bekannten Familie Curio, bei der er seit 1588 gewohnt hatte. Wie weltlich dieser uns so durchgeistigt erscheinende Mann handeln und denken konnte, geht aus einem Brief hervor, den er einem Freund schrieb: „… endlich, am 10. dieses Monats Januar fiel die ersehnte Beute in meine Netze: ich stürmte heran, riß sie an mich und sagte: Du allein gefällst mir.“ Mit ihr bekam er 11 Kinder, 5 Söhne – 3 von ihnen als Drillinge, die bald starben – und 6 Töchter. Und alle überlebenden Kinder vernetzten die Buxtorfs weiter in Basel, indem sie in angesehene Basler Familien einheirateten. Nicht minder pragmatisch war die Familie Curio eingestellt. Bevor der Vater der Heirat zwischen seiner Tochter und Johannes Buxtorf zustimmte, erkundigte er sich bei einem von dessen Verwandten, Dr. Joachim Buxtorf, der Kanzler des Grafen von Waldeck war, nach Johannes‘ wirtschaftlicher Situation. Heiraten war damals nicht zuallererst eine Frage der Liebe, man mußte die Sicherheit des noch nicht existierenden Wohlfahrtsstaates privat planen.

JB I hatte eine große Familie zu ernähren, 13 Personen, dazu kam eine Magd, so daß Geld immer knapp war. Als er einmal 300 Gulden aus den Niederlanden erhielt, bedankte er sich, erwähnte aber auch: „Wenn einer hier die Last von hundert Eseln auf sich bürdete, so wird ihm gleichwohl nicht mehr zu Lohn als einem Esel.“ Und das Haushaltsgeld wird weiter verknappt durch JBs I Leidenschaft für Bücher, die sich mit dem Hebräischen, mit rabbinischen und talmudischen Schriften befaßten. Diese Bibliothek war so umfangreich, daß die Familie sie 1705 für 1000 Taler an die öffentliche Bibliothek in Basel verkaufen konnte. Wie sehr diesen großen Gelehrten die Alltagssorgen drückten, geht aus seiner Antwort an den Rektor der Akademie von Saumur, Robert Boduis, hervor, der JB I unter allen Umständen an seine Hochschule holen wollte und ihm praktisch zusagte, JB I könne seine eigenen Bedingungen formulieren. Seine Einwände betreffen Einkommen, Schwierigkeiten beim Umzug aus der sicheren Stadt Basel mit allen ihm vertrauten Umständen wie der deutschen Sprache und den ihm bekannten Lebensverhältnissen. So schreibt er explizit: „In unserem Deutschland sorgt man bei Geistlichen und Universitätslehrern fast überall außer dem Gehalt für freie Wohnung und ein gewisses Quantum an Getreide und Wein. In diesen Stücken ist mir die in Frankreich herrschende Sitte unbekannt und ebenso der Maßstab, der für den Aufwand der Akademiker gilt.“ Er wird für immer in Basel bleiben, obwohl ihn noch mancher ehrenvolle Ruf an andere Universitäten erreicht. Und Basel unternimmt auch viel, um ihn zu halten. Sein Leben wird ihm vereinfacht, sein Gehalt steigt, so daß er dann doch ein sorgenfreies Leben führen kann.

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Buxtorf-Haus in Basel, „Zum St. Johannes”, Bäumleingasse 9

Mitte der 1590er Jahre beginnt eine unglaubliche Schaffensperiode. Wie sein Freund Johan Tossanus bemerkte, arbeitete JB I bis zu 14 Stunden am Tage wissenschaftlich. Dazu kommen aber noch viele Arbeitsstunden aus der Erfüllung seiner vielen Ämter, die er im Laufe seiner Jahre in Basel bekleidete: Präpositus (Vorsteher) und Ökonom des Oberen Kollegs, acht Mal Dekan der philosophischen Fakultät, 1614/1615 Rektor der Universität, oft Vertrauensperson zur Vertretung der Universität in öffentlichen Angelegenheiten. Und sein Briefverkehr mit allen Autoritäten der Theologie und des Hebräischen, mit Rabbinern in ganz Europa wie auch mit zahllosen Menschen, die ihn in Fragen ihres Glaubens konsultierten, füllt Bibliotheken und stellt heute eine wertvolle Quelle für Zeitstudien dar. Woher nimmt ein Mensch nur diese Energie?

Von nun an war Basel das Zentrum der hebräischen Studien in Europa. Hier war jetzt der größte akademische Lehrer des Hebräischen zu Hause, was schon sehr viel galt. Doch war der Forscher JB I, der Wissenschaftler, unübertroffen. Hier saß die in Europa höchste Autorität in Fragen jüdischen Glaubens, selbst für jüdische Gelehrte. So wurde er auch „rabbinorum magister“ genannt. Hier schrieb er Werke, die jahrhundertelang Standardwerke ihrer Disziplin waren. Zeitgenossen aus seinem Fach beklagten sich gar, daß JB I „in Betreff des Ausbaues jener Wissenschaft […] nichts zu thun übrig gelassen“ hat. Hans Jürgen Kistner, der ehemalige Kamener Stadtarchivar, berichtet, daß Bonner Theologiestudenten noch in den 1980er Jahren Buxtorfsche Wörterbücher benutzten. JB I war nichts weniger als der Begründer der jüdischen Studien in Deutschland und in Europa, derjenige, der ad fontes ging.

Worin aber besteht denn nun die wissenschaftliche Bedeutung des JB I aus Camen?

Dazu muß man sich erst einmal die Situation im Jahrhundert der Reformation klarmachen. Luther wies der Heiligen Schrift eine ganz neue Bedeutung zu, indem er postulierte, daß sie allein die Grundlage allen Glaubens sein müsse, der Mensch durch sie direkten Zugang zu Gott habe. Aber da wurde die Lage kompliziert.

Die damals maßgebliche Grundlage der christlichen Kirche war eine griechische Übersetzung des hebräischen Alten Tetsaments (AT), die Septuaginta. Daraus gingen für die Westkirche mehrere lateinische Tochterübersetzungen hervor. Aus einer dieser Tochterübersetzungen und der hebräischen Fassung verfertigte der Kirchenvater Hieronymus um AD 400 eine neue lateinische Bibelübersetzung, die Vulgata, noch heute die gültige Bibel der römisch-katholischen Kirche. Erst Luther griff mit seiner Übersetzung auf die hebräische Bibel Jesu und seiner Jünger zurück. Nun ist aber jede Übersetzung immer auch eine Interpretation, daher ergeben sich zwangsläufig, zusätzlich zu dogmatischen Aspekten, Unterschiede im Verständnis der Hl. Schrift. Hinzu kamen damals die Probleme zwischen Judentum und Christentum. Beide Seiten beriefen sich auf die Hl. Schrift, die Christen auf die griechische, die Juden auf die hebräische Fassung. Und für die einen waren die Juden die Mörder des Heilands, für die anderen Jesus ein gehenkter Verbrecher. Schwer vorstellbar, wie man da zueinander finden sollte.

Mit der hebräischen Bibel hatten sich vor Luther anderthalb Jahrtausende lang ausschließlich jüdische Gelehrte beschäftigt, in dem Versuch, eine eindeutig verständliche Fassung dieses Textes herzustellen. Was für uns seltsam klingt, hat doch einen einfachen Grund. Im Hebräischen werden nur die Konsonanten, nicht die Vokale geschrieben, weswegen es nur für denjenigen lesbar ist, der es gut beherrscht. Jedoch existierte das Hebräische als lebende Sprache schon zur Zeit Jesu Geburt nicht mehr, nur noch in der schriftlichen Überlieferung. Stephen G. Burnett, der JB I am gründlichsten studiert hat, brachte in seinem Vortrag in Kamen im Jahre 2001 ein einleuchtendes Beispiel: „Wenn man z.B. die Konsonanten MTR ohne Vokale als deutsches Wort schreibt, könnte das «Motor», «Mieter» oder sogar «Mutter» sein. Aber welches Wort ist denn nun hier gemeint? Deshalb ist diese Frage von Vokalen von höchster Bedeutung für die Schriftauslegung.“

JBs I Bestreben war es in allem, „die Unversehrtheit und unbedingte Zuverlässigkeit des hebräischen Bibeltextes einschließlich der Vokalisation zu erweisen, die darum die Benutzung der Septuaginta und der Vulgata, auf die sich die Katholiken beriefen, unnötig mache.“

JBs I große Leistung bestand darin, daß er es schaffte, das ganze Material, das jüdische Gelehrte vor ihm erarbeitet hatten, zu sammeln, zu systematisieren und auf das philologisch-wissenschaftliche Niveau zu heben, auf dem sich die Darstellung der griechischen und der lateinischen Grammatik befand, es in die humanistische Tradition der europäischen Sprachwissenschaft zu stellen, die in der Renaissance entstanden war. Er erarbeitete eine neue Grammatik und ein neues Lexikon des Hebräischen und des Aramäischen, der Sprache Jesu. Diese Werke blieben jahrhundertelang für die wissenschaftliche Erforschung des AT von hoher Bedeutung. Er führte in ihrer Gesamtheit die Bibeltexte und die überlieferten jüdischen Auslegungen dieser Texte zusammen. Speziell diese Werke waren jahrhundertelang Standardwerke und wurden durch spätere Forschung kaum übertroffen. Sie sind hinsichtlich ihrer Vollständigkeit kaum wieder erreicht worden.
 

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Frontispiz von Buxtorfs Lexicon Hebraicum et Chaldaicum
 

JBs I große Arbeiten lassen sich in drei Klassen einteilen. Erstens: Werke zur Grammatik und Lexik des hebräischen und aramäischen Sprachgebrauchs. Zweitens: Werke zum Bibeltext und seine rabbinischen Ausleger. Drittens: Werke zu den religiösen Aspekten des rabbinischen Judentums. JB I war der erste, der eine Bibliographie der jüdisch–hebräisch–rabbinisch–talmudischen Literatur erstellte, eine bahnbrechende Arbeit, für die er zu großen Teilen auf seine eigene, überragende Bibliothek zurückgreifen konnte.

Hier seine wichtigsten Werke: Manuale Hebraicum et Chaldaicum, 1602; Synagoga Judaica: das ist Juden-schul, 1603, seine einzige Veröffentlichung auf Deutsch;

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Synagoga Judaica: das ist Juden-Schul

Praeceptiones Grammaticae de Lingua Hebraica, 1605, später unter dem Titel Epitome grammaticae Hebraicae noch viermal von Buxtorf selber und sechzehnmal von anderen herausgegeben; Lexicon Hebraicum et Chaldaicum, 1607; Thesaurus Grammaticus Linguae Sanctae Hebraicae, 1609; Concordantiae Bibliorum Hebraicae, die aber erst 1632 veröffentlicht wurden; er fing das große Lexicon chaldaicum, talmudicum et rabbinicum an, das erst sein Sohn JB II vollenden konnte, ein Werk in dem die Arbeit zweier Forscher über 30 Jahre hinweg steckt, 1639 (was besonders betont wird: OPUS XXX ANNORUM steht auf dem Frontispiz) .

Im Haus der Stadtgeschichte Kamen gibt es eine Ausgabe des „Lexicon chaldaicum, talmudicum et rabbinicum“, Sumptibis & typis Ludovici König, Basileæ; M DC XXXX.

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Die Kamener Ausgabe des „Lexicon Chaldaicum, Talmudicum et Rabbinicum,
Frontispiz und zwei Seiten
 Juden hatten es in Europa schwer, seit Papst Innozenz III 1215 von Thomas von Aquin die Lehre der „Erbschuld der Juden“ übernahm. Damit waren diese praktisch rechtlos, konnten sich nur durch hohe Bargeldzahlungen private Sicherheit erkaufen, als „Schutzjuden“. Solch ein Fall ist für Kamen für 1348 belegt, das Jahr, in dem in ganz Europa die ersten großen Judenpogrome wüteten, weil man sie am Ausbruch der Pest für schuldig hielt. Graf Engelbert III von der Mark stellte einem Juden Samuel einen Schutzbrief nach Unna aus, auf 7 Jahre befristet, gegen 8 Schillinge pro Jahr. Angesichts solcher Umstände waren solide Kenntnisse über das Judentum praktisch nicht vorhanden.

Hinzu kommt die Zeit, das 16. Jh., 80 Jahre nach der Reformation, 20 Jahre vor Beginn der Europa verheerenden Religionskriege. Überall wurde um den „rechten Glauben“ gerungen. Der einzelne durfte sich diesen aber nicht selber aussuchen, da war das „cuius regio, eius religio“ (in wessen Land ich wohne, dessen Glaube nehme ich an) des Augsburger Religionsfriedens von 1555 schon ein großer Fortschritt.

Als JB I sich für seine „Juden-Schul“ mit dem Judentum, seinen Schriften und deren Exegese sowie den Sitten und Gebräuchen im täglichen Leben beschäftigte, betrat er absolutes Neuland. Seine Haltung war die des Wissenschaftlers und Theologen. Und entsprechend war nicht Völkerverständigung sein Ziel, sondern die Widerlegung des jüdischen Glaubens und die Bekehrung der Juden zum Christentum. Seine Wißbegier jedoch trieb ihn dazu, engen Kontakt zu Juden zu suchen. Einmal lud er Juden zu sich nach Hause ein, nahm an einem Beschneidungsfest teil, was ihn ein Jahresgehalt an Strafe kostete. Das nahm jemand in Kauf, der immer auch an seine Finanzen dachte! Aber daß auf eine solche Handlung in einer europäischen Stadt wie Basel eine solch drakonische Strafe stand, zeigt deutlich auf, welche Stellung die Juden damals hatten.

Und JB I formuliert seine Ziele und Absicht denn auch ganz deutlich im Titel seiner „Juden-Schul“: „Darinnen der gantz Jüdische Glaub vnd Glaubens-Übung mit allen Ceremonien / Satzungen / Sitten vnd Gebräuchen / wie sie bey jhnen offentlich vnd heimlich im Brauche: Auß ihren eygenen Bücheren vnd Schrifften / so den Christen mehrteils vnbekandt / vnd verborgen seynd / grundlich erkläret: Item ein Außführlicher Bericht von jhrem zukünfftigen Messia: Sampt einer Disputation eines Juden wider einen Christen: darinnen der Christlich Glaub beschirmet / vnd der Jüdisch Vnglaube widerleget vnd zu Boden gestürtzet wird.“  Allerdings geht hieraus auch klar hervor, daß für JB I das Judentum nicht auf der Bibel, sondern auf dem Talmud beruht, womit die Parallele zum Verhältnis zwischen Schrift und Tradition im römischen Katholizismus gegeben ist. Vor allem aber war er an allem Jüdischen selbst interessiert: der schriftlichen Grundlage und den Auswirkungen im täglichen Leben.

 

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Buxtorf I, Johannes, aus Kamen in Westfalen begründete eine Gelehrten-Dynastie, wie es sie vielleicht kein zweites Mal gegeben hat, Hebraist in Basel, Dekan und Rektor der Universität;

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Buxtorf II, Johannes, sein Sohn, kam schon mit vier Jahren auf die öffentliche Schule, mit 13 auf die Universität, wurde mit 16 zum Magister promoviert, der Nachfolger seines Vaters als Hebraist auf dem Lehrstuhl, erhielt eine theologische Professur, die extra für ihn geschaffen wurde. JB II beschäftigte sich mit Schriften spanischer Juden und übersetzte als erster ein Werk von Judah Ha-Levi unter dem Titel „Liber Cosri“. Darin wird über den Volksstamm der Khasaren berichtet und in diesem Zusammenhang über einen Religionsdisput, der die Ringparabel zum Thema hat. Damit erscheint es möglich, daß Gotthold Ephraim Lessing über sein Studium des Moses Mendelssohn auf Buxtorfs Übersetzung aufmerksam wurde und JB II auf diese Weise die Inspiration zu seinem dramatischen Gedicht „Nathan der Weise“ mit der berühmten Ringparabel wurde. (Anm. d. Verf.: Der Besitz des Rings macht den Erben der wahren Religion kenntlich, doch läßt ein Vater, der keinen seiner drei Söhne enterben will, zwei Ringe nachmachen, so daß jeder einen Ring erhält, und der echte nicht mehr zu erkennen ist. Nun liegt es an jedem einzelnen, seinen Ring zu dem echten zu machen. So wird die prinzipielle Gleichwertigkeit der drei großen monotheistischen Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam deutlich.)

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 Buxtorf III, Johannes Jacob, Sohn des JB II, erregte als Achtjähriger für seine Kenntnis des Hebräischen die Bewunderung der Gelehrten, kam mit 14 auf die Universität, vertrat seinen Vater in der Professur der hebräischen Sprache mit 19 Jahren, wurde sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl;

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Buxtorf IV, Johannes, Neffe des JB III, hat bis 1732 als Professor in Basel gewirkt.

142 Jahre lang hatte diese eine Familie den Lehrstuhl für Hebraisik in Basel inne. Und noch bis 1969 gab es einen Professor Dr. Buxtorf für Geologie an der dortigen Universität.

Der Wissenschaftler JB I war ein gläubiger Christ. Hier der Bericht über die letzten Tage in seinem Leben: „Im Jahre 1629 wütete in Basel die Pest. Am 7. September des Jahres zeigten sich bei Buxtorf die ersten Anzeichen der Erkrankung, die am folgenden Tage zum Ausbruch kam. Als ihn, der unbeirrt an dem Manuskript weiterarbeitete, das sein Sohn später fertiggestellt hat, dieser über sein Befinden befragte, gab er ruhig zur Antwort: «Mir geht es gleich, ob ich abgerufen werde oder leben bleibe. Ich habe lange genug gelebt. Wenn Gott will, daß ich ihm länger diene, will ich es gern tun, um der Kirche und der Wissenschaft zu nützen.Sonst aber, aus irdischen Gründen, begehre ich auch nicht einen Moment länger zu leben. Wenn Gott will, geschehe sein Wille.» Wie der Antistes (Anm. d. Verf.: in der Schweiz reformierter Oberpfarrer) Johann Wolleb in der Leichenrede bezeugt, war «all sein tun während der Krankheit darin gerichtet, daß er Gott für seine Heimsuchung gedankt und sich in seinen heiligen Willen ergeben, mit Vermelden, er wolle nicht tun, wie die, welche vom Herrn fliehen, sondern er wolle zu ihm fliehen.»

Am 9. September 1629 stand Johannes Buxtorf um drei Uhr früh auf, um in der Konkordanz (Anm. d. Verf.: d.i. eine alphabetische Zusammenstellung von Wörtern und, in diesem Falle, Untersuchung des Inhalts der, hebräischen, Bibel mit ihren Übersetzungen auf Übereinstimmungen und Unterschiede) die Stellen mit dem Namen Adonay (Anm. d. Verf.: Anrede Gottes im AT), die bisher noch fehlten, abzuschließen. Sein Freund Tossanus sagte später in seiner Gedenkrede: „So hat er seine Lebensarbeit, die er im Namen Gottes begonnen, dem er sein ganzes Leben gedient, buchstäblich mit dem Namen Gottes geschlossen.“

Am 13. September 1629, nachmittags gegen zwei Uhr, starb Johannes Buxtorf aus Camen in Westfalen bei vollem Bewußtsein. Seine letzte Ruhestätte fand er im Kreuzgang des Basler Münsters. Dort hängt eine Tafel: „Johanni Buxtorfio, Cameni Westfalo, linguae sanctae in Basileo Athenaeo professori“ (Johannes Buxtorf aus Camen in Westfalen gewidmet, dem Professor der heiligen Sprache an der Universität Basel).

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Epitaph für Johannes Buxtorf aus Camen im Kreuzgang des Basler Münsters,

den Begründer der Gelehrtendynastie auf dem Lehrstuhl für Hebraistik an der Universität Basel

KH

 

Ich verdanke die Kenntnis obiger Angaben folgenden Schriften (Dank an J. Dupke vom Stadtarchiv Kamen, der sie mir zusammenstellte):

E. Kautzsch, Johannes Buxtorf der Ältere, Rectoratsrede gehalten am 4. November 1879 in der Aula des Museums zu Basel, Basel 1879

St. G. Burnett, Johannes Buxtorf Westphalus und die Erforschung des Judentums in der Neuzeit, Vortrag gehalten am 11. Juli 2001 in der Sparkasse Kamen

J. Herrmann, Johannes Buxtorf aus Kamen, Vortrag zur Siebenhundertjahr-Feier  der Stadt Kamen, gehalten am 27. Juli 1948

Besonderen Dank schulde ich Herrn Dr. Christoph Buxtorf, Basel, der  bereitwillig meine Fragen beantwortete und mir zusätzliches Material zusandte:

R. Smend, Vier Epitaphe – die Basler Hebraisten-Familie Buxtorf, Berlin/New York 2010

Das Familienverzeichnis der heutigen Buxtorfs, „Who is Who“, dem ich entnehmen konnte, wie sich die Eminenz des ersten Buxtorfs durch die Jahrhunderte erhielt, aber diversifizierte. Unter den nachfolgenden Generationen gab es viele weitere Professoren, Ratsherren, Oberstzunftmeister, einen Basler Bürgermeister, Landvögte, Stadtmedici und führende Industrielle (ein Buxtorf ist Mitbegründer der chemischen und pharmazeutischen Industrie Basels).

Die Rechtschreibung in den Zitaten folgt den jeweiligen Quellen, wird an einigen Stellen aber geglättet.

Abbildungen: Stadtarchiv Kamen, Andi Hindemann, Dr. Christoph Buxtorf, Wikipedia, Klaus Holzer

 KH

Springinsfeld

Ein seltsamer Springinsfeld

Grimmelshausen und seine Bedeutung für Kamen

von Hans-Jürgen Kistner

Eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges ist nicht denkbar, ohne sich mit dem berühmtesten aller Barockromane, dem „Simplicissimus”, zu befassen. Seit langem schon ist der „Simplicissimus Teutsch”[1] zum Inbegriff des deutschen Schelmenromans im 17. Jahrhundert geworden, und das wechselvolle Schicksal seines Helden ist durch die Kunst seines Autors, Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen, Generationen von Lesern lebendig geworden. Schon zu Grimmelshausens Zeit wurde der Roman begeistert aufgenommen und fand weite Verbreitung. Der Roman war erstmals unter dem Titel „Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch” 1668 erschienen. Er erlebte bis 1672 sechs Auflagen und bis heute sind sie – einschließlich der fremdsprachigen Ausgaben – kaum noch zu zählen.

Doch ist Grimmelshausens literarisches Schaffen nicht nur auf den „Simplicissimus” beschränkt. Neben diesem Werk steht noch eine große Fülle weiterer Schriften, die heute zu unrecht wenig bekannt sind. Sie alle aufzuzählen, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. So erschienen 1670 unter anderem der „Trutz Simplex oder ausführliche und wunderseltsame Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin (Landstreicherin) Courasche” und der uns hier interessierende „Der seltzame Springinsfeld” als Rahmenerzählungen zum „Simplicissimus”, sozusagen als Trilogie seiner Kriegsromane. Die Namen der Hauptpersonen der Titel waren im „Simplicissimus Teutsch” schon aufgetreten.

In der farbigen Lebensbeschreibung der „Courasche” begegnen wir in einem erbarmungslos realistischen Portrait einer Frau, die trotz guter Herkunft in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges hineingezogen wird. Sie hat alle Höhen und Tiefen jener Zeit durchlebt und endet als Landstreicherin bei den Zigeunern. Die rasch wechselnden, nie harmlosen Abenteuer dieser Person werden nach dem Muster aller Sittenromane beschrieben. Dieses Stück war quasi als weibliches Gegenstück zum „Simplicissimus” gedacht. Die „Courasche” ist fast so schnell bekannt geworden wie der „Simplicissimus” und ihr Thema ist noch immer aktuell. Die Geschichte der „Courasche” wurde von Bertholt Brecht 1939, vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, in seinem Antikriegs­stück „Mutter Courage und ihre Kinder” verarbeitet.

Über die Bedeutung der Namen seiner Romanfiguren ist schon viel vermutet und spekuliert worden. Der Name des bekanntesten Helden seiner Werke, „Simplicius Simplicissimus”, ist lateinisch. Gelegentlich taucht auch die Kurzform „Simplex” auf. Sie bedeutet einfach, schlicht, ehrlich, offen, arglos etc. So gibt es auch einen Heiligen „Simplicius” der unter dem 29. Juli im Missale Romanum steht. Die Geschwister Simplicius, Faustinus und Beatrix erlitten um das Jahr 305 in Rom den Martertod. Ihre Reliquien soll der hl. Bonifatius nach Fulda gebracht haben, wo sie noch heute verehrt werden. Im königlichen Armeemuseum Stockholm befindet sich eine Reiterstandarte, welche die Schweden 1631 von Fuldaer Reitern erbeutet haben, auf der der hl. Simplicius abgebildet ist. Grimmelshausen war während des Dreißigjährigen Kriegs in Fulda und hat offenbar dort den Stadtheiligen kennengelernt.[2] „Simplicius” als Romanfigur scheint ein Synonym für die Unverdorbenheit zu sein, mit der sein Held als Knabe von ca. 15 Jahren in diesen Krieg hineingezogen wird. Hiermit hat offenbar der Autor auch seine eigene Kindheit gemeint.

Der Name seiner Heldin, „Courasche”, hat einen (eingedeutschten) französischen Klang. Die Nähe zur ‚Courage‘, gleich Mut und Tapferkeit, scheint auch hier Programm, ja Überlebensstrategie, zu sein. Der „Springinsfeld”[3] beschreibt die Geschichte von einem ehemals tüchtigen Soldaten, mit dem sich Simplicissimus in Westfalen befreundet hat. Später erscheint er als ausgemergelter und heruntergekommener Landstreicher. Diese Figur stellt auch das Titelkupfer der Erstausgabe von 1670 dar.[4]

Das Leben von Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen ist nicht in allen Aspekten aufgeklärt. Frühere Forscher haben versucht, seine Lebensgeschichte allein aus seinen Schriften, insbesondere den drei Kriegsromanen „Simplicissimus”, „Courasche” und „Springinsfeld” zu entnehmen. Ja, bis 1838 war er eine unbekannte Person. Nämlich bis zu diesem Jahr galt als Autor für den „Simplicissimus” ein „German Schleifheim von Sulsfort”. Doch dies war nur ein Anagramm[5], mir dem der Autor seinen wahren Namen vorenthielt. Anagramme als Pseudonyme für den Namen „Christoffel von Grimmelshausen” benutzte er für (fast) alle seine Werke. Der Grund lag wohl darin, daß er zur Zeit der Veröffentlichung seiner meisten Werke als bischöflicher Schultheiß im Straßburgischen Gericht Renchen, in Baden, lebte und nicht mit seinen, zum Teil drastischen, Schilderungen bekannt werden wollte. So erschienen die „Courasche” und der „Springinsfeld” jeweils unter dem Autoren-Ana­gramm „Philarcho Grosso von Trommenheim”. Aber auch Erscheinungsorte und Verleger verschlüsselte Grimmelshausen anagrammatisch beim Druck seiner Werke.

Über die Geburt von Grimmelshausen ist nichts Genaues bekannt. Sein Geburtsjahr ist 1621 oder 1622, also einige Jahre nach dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges, gewesen.[6] Als Geburtsort ist Gelnhausen erforscht worden. Die Familie Grimmelshausen gehörte dem thüringischen Adel an. Sein Großvater, der in Gelnhausen eine Bäckerei betrieb, hatte den Adelstitel abgelegt und nannte sich Melchior Christoph (auch Christoffel). Unser Autor nahm nach dem Krieg, als es ihm materiell gut ging, den Adelstitel wieder an. Im September 1634 erobern die kaiserlichen Truppen Gelnhausen. Viele Bürger fliehen vor den brandschatzenden und plündernden Soldaten; so flieht auch Grimmelshausen nach Hanau. Am 25. Februar 1635 erobern die Kroaten Hanau und entführen u. a. auch den Knaben Grimmelshausen. Diese Ereignisse beschreibt er im „Simplicissimus Teutsch”.[7] Erhaltene Kriegsberichte der kroatischen Truppen sprechen von entführten Kindern.

Zwischen Ende 1636 und 1638 muss sich dann Grimmelshausen als einfacher Pferdejunge mit Tross des kaiserlichen Feldmarschalls Graf v. Götz in Westfalen aufgehalten haben. In archivalischen Quellen taucht Grimmelshausen in dieser Zeit aber nicht auf. Im „Simplicissimus Teutsch” kann man den Weg seines Helden über Magdeburg und Wittstock bis nach Soest verfolgen.[8] Dort angekommen, legt sich der Romanheld eine kostbare Kleidung aus grünem Stoff zu, und wird deshalb „der Jäger von Soest” genannt.[9] Als so bekannte Person durchstreift er die nähere und weitere Umgebung Soests und macht reiche Beute. Sein Ansehen steigt immer mehr, man will ihm gar antragen, ein Söldnerfähnlein anzuführen.[10] In Soest lernt er seinen Freund „Springinsfeld” kennen, der ihn von nun an bei seinen Anschlägen und Beutezügen begleitet. Die zu dieser Zeit schwedischen Garnisonen Coesfeld, Dorsten und Lippstadt haben unter seinen Streichen viel zu leiden.[11]

Hier wird der Schriftsteller Grimmelshausen in seiner typischen Art aktiv. Die Abenteuer des Helden in Soest sind natürlich reine Phantasie. Ein „Jäger von Soest” ist in den dortigen Archiven nicht zu finden.[12] Auch dürfte das jugendliche Alter von 15 – 17 Jahren, in dem sich Grimmelshausen damals befand, eine solche Karriere verhindert haben. Seine Kenntnisse der Verhältnisse in Westfalen lassen aber eindeutig darauf schließen, daß sich Grimmelshausen in Soest und der weiteren Umgebung bewegt haben muß.[13]

Dass auch eine Person in Grimmelshausens näherem Umfeld zum Teil der Realität entspricht, konnte vor einigen Jahren vom Kamener Stadtarchiv belegt werden. Die Entdeckung ging von einer Eintragung im ältesten Kirchenbuch der evangelischen Kirchengemeinde Kamen aus. Dort ist unter dem 17. Dezember 1624 folgende Taufeintragung des damaligen Pfarrers zu lesen: „Spring ins Felt des Soldaten Söhnlein ist Hanß Jürgen genanndt”. Wie häufig bei solchen Eintragungen wurde nur der Name des Vaters, nicht aber der der Mutter genannt.

Damit ergab sich für den Finder dieser Kirchenbuchnotiz (und begeisterten Grimmelshausen-Leser) erstmals die Erkenntnis, daß es sich bei dem Namen „Springinsfeld” nicht um einen Spitznamen, sondern um einen realen Familiennamen handelte.[14] Recherchen bei Grimmelshausen-Forschern ergaben den Kontakt zu Genealogen, die nach dem Namen „Springinsfeld” zunächst unabhängig von den Grimmelshausen-Werken forschten.[15] Gesucht wurden auch seit vielen Jahrzehnten Informationen über „Springinsfeld’s Hans”, mit dem Grimmelshausen vielleicht wirklich während seines Aufenthaltes in Westfalen in Kontakt getreten sein könnte.[16]

Jedoch liegen zwischen der Kirchenbuch-Eintragung von 1624 und dem Aufenthalt Grimmelshausens in Soest, etwa 1636 bis 1638, 12 bis 14 Jahre. Bei der Kamener Eintragung war Grimmelshausen selbst erst drei Jahre alt. Im Roman „Springinsfeld” gibt der Titelheld seine Geburt an mit dem Hinweis: „Ich war damals ein aufgeschossen Bürschlin von 17 Jahren… „.[17] Mit „damals” war der Sieg Tillys bei Wimpfen am Neckar, am 6. Mai 1622, gemeint. Danach hatte der Romanheld etwa 1605 das Licht der Welt erblickt. Falls der Romanheld mit dem Kamener Vater wirklich identisch sein sollte, wäre er bei der Geburt seines Sohnes „Hanß Jürgen” etwa 19 Jahre alt gewesen. Ein Lebensalter, in dem man in diesen Zeiten häufiger Kinder in die Welt setzte. Die Mutter seines Sohnes wird sich, wie damals üblich, im umfangreichen Troß der Söldnertruppen aufgehalten haben.

Ende Oktober / Anfang November 1624 besetzen Brandenburgische Truppen die Städte Unna, Kamen und Lünen.[18] Der Soldat „Spring ins Felt” gehörte demzufolge dem Troß der Brandenburger Truppen an. Dies wird auch noch dadurch erhärtet, daß „Spring ins Felt” Protestant zu sein scheint und seinen Sohn bei der evangelischen Kirchengemeinde in Kamen anmeldet. Die verbündeten hessischen und brandenburgischen Truppen stehen auf der protestantischen Seite.

Als „Simplicissimus” in Soest 12 bis 14 Jahre später agiert, gehört er den Truppen der katholischen Liga an und ist im Tross des kaiserlichen Heeres. Somit befindet er sich nicht bei der gleichen Partei, für die sich Springinsfeld 1624 entschieden hatte. Ein Seitenwechsel ist im Dreißigjährigen Krieg jedoch keine Seltenheit. Dies geschah aus verschiedenen Gründen. Zum einen, wenn man in Gefangenschaft geriet, war der Seitenwechsel oft die einzige Überlebenschance. Zum anderen verloren sich in diesem langen Krieg die Ideale; man kämpfte oft nur für den Sold und die Hoffnung, reiche Beute zu machen. Eine ideologische Parteinahme, wie in den Kriegen des späteren 19. und 20. Jahrhunderts (für König und Vaterland, Heldentod etc.), gab es in diesem Krieg fast gar nicht. Werte, Moral und Ideale gab es kaum noch. Das Überleben, mit dem häufigen Wechsel von Überfluss und Entbehrungen, war vor jede Ideologie oder Moral gestellt.

Als sich beide Romanhelden in Soest begegnen, wäre der Roman-Springinsfeld etwa 31 Jahre alt und der in Kamen Geborene etwa drei Jahre jünger als „Simplicissimus”. Beide Alternativen wären denkbar. Jedoch scheint der „Vater” den Vorzug zu bekommen, da der Roman-Springinsfeld schon nach der Schlacht bei Nördlingen, am 7.9.1634, im Gefolge des kaiserlichen Grafen v. Götz hilft, u. a. die Städte Dortmund, Paderborn, Hamm, Unna, Kamen (!), Werl und Soest einzunehmen.[19] Für diese Aufgabe wird ein 10jähriges Kind zu jung gewesen sein.

Auch wenn Grimmelshausen den wirklichen Springinsfeld erst weit nach dem Dreißigjährigen Krieg in der Ruhe des Friedens und Alters kennengelernt haben sollte, ist eine Untersuchung der Verbindung zu Westfalen mit der Person dieses wohl doch recht seltenen Namens schon einer weiteren, intensiven Forschung wert. Dieser Hintergrund war auch der Anlaß, daß das Kamener Stadtarchiv seit 1995 eine Heftreihe herausgibt, die den Namen „Springinsfelt – Kamener Hefte für Geschichte und Gegenwart” trägt.

Literaturauswahl:

Bechtold, Artur: Grimmelshausen und seine Zeit. München 1919.

Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel v.: Ausführliche und seltsame Lebensbeschreibung der Landstreicherin Courasche. Wiesbaden o. J. (Erstausgabe 1670).

Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel v.: Der abentheuerliche SimplicissimusTeutsch und Continuatio des abentheuerlichen Simplicissimi. 2. durchges. u. erw. Aufl. hrg. v. Rolf Tarot. Abdruck der beiden Erstausg (1668/69) mit d. Varianten d. ihnen sprachl. nahestehenden Ausg. Tübingen 1984.

Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel v.: Der seltzameSpringinsfeld. Abdruck der Erstausgabe von 1670 mit den Lesarten der zweiten Ausgabe. Tübingen 1969.

Hohoff, Curt: Johann Jacob Christoph von Grimmelshausen. (rororo Monographien). Reinbek 1995.

Köhn, Gerhard: Der Jäger von Soest. In: Soest. Geschichte der Stadt. Band 3. Soest 1995. S. 865 – 882.

Könnecke, Gerhard: Quellen und Forschungen zur Lebensgeschichte Grimmelshausens. Hrg. v. Jan Hendrik Scholte. Weimar/Leipzig 1926/28.

Kümper, Heinz: Die Stadt Kamen im 30jährigen Krieg. Niedergang und wirtschaftlicher Stillstand für die alte Stadt. In: Heimat am Hellweg. Kalender 1954. S. 85 – 88.

Scholte, Jan Hendrik: Probleme der Grimmelshausen-Forschung. Groningen 1912.

Scholte, Jan Hendrik: Der Simplicissimus und sein Dichter. Tübingen 1950.

Scholte, Jan Hendrik: Westfalen in Grimmelshausens ‚Simplicissimus Teutsch’ 1669. In: Westfälische Zeitschrift. 100. Band. Münster 1950. S. 195 – 207.

Simplicius Simplicissimus. Grimmelshausen und seine Zeit. Ausstellungskatalog. Hrg. v. LWL. Münster 1976.

Stolz, Wolfram: Sein Held war nicht erfunden. Grimmelshausen und Springinsfeld. Freiburg 1983.

Theatrum europaeum oder Außführliche und Wahrhafftige Beschreibung aller und jeder denckwürdi­gen Geschichten, so sich hin und wieder in der Welt … zugetragen haben. 15 Bände. Verlegt durch Matthaeus Merian. Frankfurt 1643 – 1707.

Um Renchen und Grimmelshausen. Hrg. v. Grimmelshausen-Archiv. Renchen 1976.

Anmerkungen:

[1] Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel v.: Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheuerlichen Simplicissimi. 1668/69.

[2] Hohoff 1995, S. 11 – 13.

[3] Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel v.: Der seltzame Springinsfeld. 1670

[4] Siehe Abbildung.

[5] Buchstabenversetzung mit neuem Sinn.

[6] Hohoff gibt als genaues Geburtsdatum den 21.3.1621 an; Hohoff 1995, S. 19.

[7] „Simplicissimus Teutsch”, II. Buch, 15. Kap., S. 137.

[8] „Simplicissimus Teutsch”, II. Buch, 25 – 29. Kap.

[9] „Simplicissimus Teutsch”, II. Buch, 30. Kap., S. 184; Grimmelshausen benutzt den plattdeutschen Begriff „dat Jäjerken”.

[10] „Simplicissimus Teutsch”, II. Buch, 30. Kap., S. 188 ff.

[11] ebenda.

[12] Köhn 1995, S. 873.

[13] Köhn 1995, S. 873, Scholte Westfalen, S. 199 ff.

[14] Über die Herkunft des eigenen Namens sagt der Roman-Springinsfeld lapidar: „Den hat mir die (…) Courage das Rabenas auffgesattelt…”; Der seltzame Springinsfeld, Kap. XIII, S. 73. Recherchen mit einer aktuellen Telefon-CD-ROM ergaben, daß der Name heute in Süd- wie in Norddeutschland mehrfach vorkommt.

[15] Wolfram Stolz: Sein Held war nicht erfunden. Grimmelshausen und Springinsfeld. Freiburg 1983.

[16]  Stolz 1983, S. 14 – 18.

[17]  Der seltzame Springinsfeld, Kap. XII,  S. 66 f.

[18]  Siehe dazu die Kreischronik des Dreißigjährigen Krieges in diesem Heft.

[19]  Der seltzame Springinsfeld, Kap. XVI, S. 85.

HJK

Carl F. Reinhard – Befreiungskriege

„Von der Bahnhofstraße nach Waterloo –
Ein Kamener in den Befreiungskriegen 1813 – 1815“

Ein Vortrag der VHS Kamen-Bönen im Haus der Kamener Stadtgeschichte am 23. Juni 2014 von Hans-Jürgen Kistner

Um es gleich vorweg zu nehmen: Mit dem Kamener ist der Apotheker Carl Reinhard gemeint. Er war vom ersten bis zum letzten Tag in den Befreiungskriegen dabei. Sogar in der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni 1815. Außer ihm waren auch noch einige andere Kamener ausgerückt, aber von Reinhard sind zahlreiche Dokumente und 11 Briefe an seine Mutter erhalten geblieben. Vor allem die Briefe geben ein beredtes Zeugnis über das tägliche Leben als Freiwilliger Fußjäger in jenen Befreiungskriegen. In dieser Zeit vom Spätherbst 1813 bis zum Juni 1815 wird nicht nur die französische Grande Armée besiegt, sondern es veränderte sich die gesamte preußisch-deutsche Gesellschaft. Und dies z. T. nachhaltig bis in unsere Zeit. Aber darauf werde ich später eingehen.

Der Aufstieg Napoleon Bonapartes (1769-1821) begann in der Franz. Revolution von 1789. 1769 auf Korsika geboren, stieg er während der Franz. Revolution in der Armee als talentierter Offizier auf. Vor allem die Feldzüge in Italien (1796-97) und in Ägypten (1798) machten ihn populär und zu einem militärischen wie auch politischen Hoffnungsträger. Dies ermöglichte ihm, durch den Staatsstreich am 9. November 1799 die Macht in Frankreich zu übernehmen. Zunächst von 1799 bis 1804 als Erster Konsul der Französischen Republik und anschließend bis 1814 als Kaiser der Franzosen stand er einem diktatorischen Regime vor. Er hatte sich 1804 selbst zum Kaiser der Franzosen gekrönt.

Durch verschiedene Reformen hat Napoleon die staatlichen Strukturen Frankreichs bis in die Gegenwart hinein geprägt und die Schaffung eines modernen Zivilrechts in den besetzten europäischen Staaten initiiert. Außenpolitisch errang er, gestützt auf die Armee, zeitweise die Herrschaft über weite Teile Kontinentaleuropas. Er war daher ab 1805 auch König von Italien und von 1806 bis 1813 Protektor des Rheinbundes. Durch die von ihm initiierte Auflösung des Heiligen Römischen Reiches wurde die staatliche Gestaltung Mitteleuropas zu einem zentralen Problem des 19. Jahrhunderts.

Zuerst im napoleonischen Frankreich und danach auch in Deutschland, setzte man auf die Idee einer Nationalarmee, oder Volksarmee. Man wollte keine gezwungenen Söldner mehr, die nur aus Angst vor den Offizieren im Kampf verblieben. Der neue Soldat sollte Würde und Ehre besitzen. Sein Charakter und seine Bildung sollten fördernswert sein. Er kämpfte nicht allein, weil er dafür bezahlt wurde, sondern weil er als Angehöriger seiner Nation für deren Sache eintrat. Und damit musste auch der Tod im Kampf verklärt und verherrlicht werden. Zugleich begann der Kult des Unbekannten Soldaten. 1806 in Paris, 1816 in Berlin und 1824 in Wien. Der siegreiche oder aufopfernde Held wurde zur hochstilisierten Kultfigur.

Im Jahr 1805 kam es zu einem Bündnis zwischen Russland, England, Österreich und Schweden gegen Napoleon. Preußen beteiligte sich zuerst nicht daran. Napoleon wandte sich nun gegen Österreich. In der Schlacht bei Austerlitz am 2. Dez. 1805 besiegten die Franzosen das Bündnis.

Das Jahr 1806 besiegelte zunächst auch das Schicksal Preußens, weil es in den Schlachten von Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 vernichtend geschlagen wurde. Am 27. Oktober 1806 zogen die französischen Truppen in Berlin ein. Die preußische Grafschaft Mark, also unsere Region, wurde erst Anfang November 1806 von den napoleonischen Truppen besetzt.

Napoleon war auch ein großer Kunsträuber. So ließ er z.B. nach dem Einmarsch in Berlin, die Quadriga, das Viergespann mit der Siegesgöttin Viktoria, vom Brandenburger Tor entfernen und auf dem Seeweg nach Paris schaffen. Aber auch zahlreiche andere Kunstwerke und Archivalien ließ er nach Frankreich schaffen. Nicht nur die materiellen Werte waren von Bedeutung. Vor allem die nationale Identität der Objekte und Dokumente sollte den besiegten Ländern genommen werden.

Auch Russland, das sich seit 1805 mit Preußen im Krieg gegen Frankreich befand, geriet zunehmend in Bedrängnis. Nach einigen Schlachten erlitten die russischen Truppen in der Schlacht bei Friedland am 14. Juni 1807 eine schwere Niederlage. Zar Alexander I. nahm daraufhin Verhandlungen mit Frankreich auf und erreichte zunächst einen Waffenstillstand. Einige Tage später kam es zu Friedensverhandlungen in Tilsit. In den Tagen des 7. bis 9. Juli wurde von Preußen und Russland einerseits und dem Kaiserreich Frankreich andererseits der „Frieden von Tilsit“ geschlossen.

Das französisch-preußische Abkommen führte zu erheblichen Veränderungen Preußens. Der Gebietsbestand Preußens und die Zahl seiner Untertanen reduzierte sich damit nahezu um die Hälfte. Das preußische Gebiet westlich der Elbe wurde Teil eines größeren napoleonischen „Kunststaates“, nämlich des „Königreichs Westphalen“. Es reichte bis zu einer westlichen Linie von Marburg im Süden bis Meppen im Norden. Westlich davon schloss sich das Großherzogtum Berg an. Napoleon bildete dieses am 15. März 1806. Zur Hauptstadt von Berg wurde Düsseldorf erhoben.

Joachim Murat, ein Schwager Napoleons und späterer König von Neapel, regierte das Großherzogtum von 1806 bis 1808. Von 1808 bis 1813 nahm Napoleon selbst als „Protektor“ die Regierungsgeschäfte wahr. Als Gründungsmitglied des Rheinbundes war das Großherzogtum Berg bereits am 1. August 1806 aus dem Heiligen Römischen Reich ausgetreten.

Per Dekret wurde 1808 das Großherzogtum verwaltungsmäßig in vier Departements (etwa Provinzen: Ems, Rhein, Ruhr und Sieg), zwölf Arrondissements (Regierungsbezirke; im Ruhrdepartement: Dortmund, Hagen und Hamm) und 78 Kantone (Kreise; im Arrondissement Dortmund: die Kantone Dortmund, Bochum, Hörde, Unna, Werne, Lüdinghausen und Sendenhorst) gegliedert. Die kleinsten Verwaltungseinheiten bildeten die Mairien, die Bürgermeistereien. So gehörte die Mairie Kamen zum Kanton Unna im Arrondissement Dortmund im Ruhrdepartement.

Nach der geschichtswendenden Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig, die zwischen dem 16. und 19. Oktober 1813 stattfand, zogen sich die französischen Truppen auf die linke Rheinseite zurück. Das Ruhrdepartement und das Großherzogtum Berg wurden aufgelöst, unverzüglich bildeten sich wieder preußische Herrschaftsstrukturen aus. Im November 1813 ernannte man Gisbert von Romberg zum Landesdirektor der von Preußen rückeroberten Gebiete zwischen Rhein und Weser. Romberg war zuvor Präfekt des franz. Ruhrdepartements gewesen.

Vorausgegangen war der Völkerschlacht der mit unbeschreiblichem Elend und größten Verlusten verbundene Rückzug der „Großen Armee“ Napoleons im Winter 1812 aus Russland. Dieses Geschehen zusammen mit den Ereignissen von Leipzig ließen letztlich den Kampfgeist der napoleonischen Truppen zerbrechen. Sie wurden nun von russischen Einheiten verfolgt und nach Westen getrieben. Auf französischer Seite kämpften nicht nur Franzosen, sondern eine Vielzahl von Männern aus Staaten der napoleonischen Einflusssphäre, so auch zahlreiche aus dem Königreich Westphalen und dem Großherzogtum Berg. Alle diese Staaten waren durch entsprechende Verträge mit Frankreich zum Kriegsdienst in den Kontingenten des Rheinbundes verpflichtet.[1]

Der zögerliche preußische König Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) hatte sich aufgrund der veränderten militärischen Gesamtlage und auf sanften Druck seiner Berater bereits im März 1813 dazu bereit erklärt, in einer Allianz mit Russland, den Franzosen den Krieg zu erklären. In seinem Aufruf „An mein Volk!“ wandte er sich an seine Untertanen, an die „Preußen und Deutsche[n]“, und bat um Unterstützung für den Kampf gegen Kaiser Napoleon.

Der Aufruf, in dem die Einheit von Krone, Staat und Nation beschworen wurde, führte zur Bildung eines Volksheeres, mit freiwilligen Jägerverbänden und Freikorps. Adelige und Bürger begaben sich freiwillig zu den Rekrutierungsstellen und schlossen sich, selbst ausgerüstet, den neu gebildeten Freiwilligenverbänden an. Auch in der Grafschaft Mark traten zahlreiche Freiwillige in die Detachements ein. Darüber hinaus wurde die allgemeine Wehrpflicht für Preußen im Jahr 1813 eingeführt. Sie wurde bekanntlich im Jahr 2011 wieder ausgesetzt.

­­­­­­­­­Die durchziehenden Verbände des russischen Verbündeten verfolgten die napoleonischen Truppen bis nach Paris, das sie im März 1814, unterstützt von deutschen Freiwilligen-Detachements, erreichten. [Das russische Wort „Bistro“ für schnell, soll der Ursprung für das gleichnamige Wort für das Schnellrestaurant gewesen sein].

Der Durchzug der russischen Truppen durch die Grafschaft Mark lässt sich anhand einiger schriftlicher und sächlicher Hinterlassenschaften belegen. Dazu gehören beispielsweise handschriftliche Quittungen von Kosakenoffizieren über den Empfang von Fourage.[2] Diese Quittungen sind zumeist in kyrillischer Schrift gehalten, eine jedoch sogar mit arabischen Schriftzeichen versehen. Sie stammen von bewaffneten muslimischen Krimtataren, die mit den Kosaken verbündet waren. Die Krimtataren sind im März 2014 durch die Krimkrise wieder in Erscheinung getreten.

Auch eine Kosakenblankwaffe aus dieser Zeit, ein sogenannter Jatagan, ist hier im Kamener Museum vorhanden. Neben den sächlichen Überlieferungen sind auch zahlreiche Erinnerungen der Kamener an die Befreiung erhalten geblieben. So schreibt der ev. Kamener Pfarrer Friedrich Buschmann in seiner Stadtgeschichte 1841: „Vom 2. Nov. 1813 bis zum 1. Mai 1814, also völlig ein halbes Jahr, zogen unaufhörlich, blos mit Ausnahme von 6 einzelnen Tagen, Truppenmassen hier durch. Die Belästigung der Stadt, durch diese starken Einquartirungen, war um so größer, weil die Stadt Unna, einer dort herrschenden Viehseuche wegen, gesperrt, und das kleine Camen zum Etappenorte gemacht war. Doch die Camenser nahmen gleich willig die Russen, die Schotten und die Schweden wie ihre Brüder die Preußen auf, und Gott segnete die Vorräthe an Speise, das sie ausreichten.“

Wird an militärische Formationen aus der Zeit der Befreiungskriege erinnert, findet zumeist das berühmte „Freikorps Lützow“ Erwähnung. Das späterhin prominenteste Mitglied war Theodor Körner (1791-1813), ein bis dahin wenig bekannter Schriftsteller und Dramatiker. Dies änderte sich jedoch, als er am 23. August bei Gadebusch in Mecklenburg als Mitglied des Freikorps Lützow mit 22 Jahren im Kampf gegen die Franzosen fiel. Da er zuvor zahlreiche Texte und Lieder gegen die französischen Besatzer gedichtet hatte, wurde er alsbald im kollektiven Gedächtnis insbesondere der preußischen Nation zur verklärten Heroengestalt derBefreiungskriege. Sein bekanntestes Gedicht ist „Das ist Lützows wilde verwegene Jagd“, das er kurz vor seinem Tod geschrieben hatte. Im Kamener Stadtpark wurde für Körner ein Gedenkstein zu seinem 100. Geburtstag 1891 errichtet. Er befindet sich noch dort.

Dieses Gedicht, von Karl Maria von Weber später vertont, wurde für viele Generationen zum Inbegriff deutscher Vaterlandsliebe, des Patriotismus und der Idee, sich für die Nation aufzuopfern. Körner wurde von den Nationalsozialisten hochgeehrt. Wenig bekannt ist heute aber, dass man sich auch seiner Literatur bediente. So schrieb Körner noch im Jahr 1813 das Gedicht „Männer und Buben“ dessen erste Zeile hieß: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los.“ Dieses Zitat verwendete Joseph Goebbels abgewandelt in seiner Rede mit der Frage „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ am 18.2.1943 im Berliner Sportpalast mit den Worten „Nun Volk steh auf und Sturm brich los!“.

Die erste Strophe lautet: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los. Wer legt noch die Hände feig in den Schoß? Pfui über dich Buben hinter dem Ofen, Unter den Schranzen und unter den Zofen! Bist doch ein ehrlos erbärmlicher Wicht; Ein deutsches Mädchen küßt dich nicht, Ein deutsches Lied erfreut dich nicht, Und deutscher Wein erquickt dich nicht. Stoßt mit an, Mann für Mann, Wer den Flamberg schwingen kann!“

Auf dem Weg nach Frankreich zog das Freikorps Lützow Richtung Westen und traf am 10. Januar 1814 mit zwei Eskadrons auf dem Marsch nach Hagen auch in Kamen ein. Eine Kavallerie-Eskadron umfasste im 19. Jh. ca. 150 Reiter und 5 berittene Offiziere. Zeitgenössische Dokumente aus Kamen zeichnen ein äußerst schlechtes Bild von der Disziplin der Lützower, ein Bild, das offenkundig im Gegensatz zum heroischen Lützow-Mythos steht. Der Bürgermeister Reinhard schrieb sowohl an den Landrat David Wiethaus in Hamm als auch an den Präfekten des Ruhrdepartements, Gisbert von Romberg, dass die Soldaten, insbesondere durch den Kommandanten von Lützow, vermöge eines äußerst „ungehobelten Verhaltens“ auffallen und zahlreiche Pferde trotz Vorspannpflicht länger als erforderlich einsetzen würden.

Das politische und militärische Ende Napoleons vollzog sich sozusagen in zwei Akten. Im März 1814 wurde Paris besetzt und Napoleon auf die Insel Elba verbannt, die Freiwilligen wieder entlassen. Im März 1815 kehrte Napoleon jedoch zurück – eingegangen in die Geschichte als „Herrschaft der 100 Tage“ – und stellte wieder eine Armee auf. Anfänglich siegreich, wurde Napoleon am 18. Juni 1815 in der Schlacht bei Waterloo endgültig von englischen Truppen unter Wellington mit Unterstützung preußischer Verbände unter Blücher besiegt. Napoleon wurde auf die Insel St. Helena verbannt, wo er 1821 starb.

Von dem Kamener Apotheker, Carl Friedrich Reinhard (1793-1869), der vom ersten bis zum letzten Tag in den Befreiungskriegen mitkämpfte, sind elf Briefe an seine Mutter erhalten geblieben.[3] Darin beschreibt er sehr detailreich das Leben in seinem „Freiwilligen Detachement zu Fuß, Formation Hamm“. Diese Berichte gehören zu den seltenen Überlieferungen einfacher Freiwilliger der Befreiungskriege. Der bildungsbürgerlichen Schicht zugehörend, konnte er sich jedoch gut ausdrücken und die alltäglichen Nöte und Sorgen beschreiben. In einem der letzten Briefe berichtete er von der Schlacht bei Waterloo (Belle Alliance), an der auch er teilgenommen hatte. Diesen Brief lese ich ihnen am Schluss vor.

Carl Friedrich Wilhelm Reinhard kam am 25. November 1793 als viertes Kind des privilegierten Apothekers Henrich Theodor Reinhard und seiner Frau Clara Johanna Dorothea, geb. Auffmordt, in der Mühlenstraße (heutige Bahnhofstraße) zur Welt. Die Familie Reinhard war von 1774 bis 1818 Besitzer der Adler-Apotheke. Sie wurde 1750 von Johann Gerhard Auffmordt, dem Vater von Carl Reinhards Mutter, als erste Apotheke in Kamen gegründet. Bei seinem freiwilligen Eintritt in das 1. Detachement der freiwilligen Fuß-Jäger am 19. November 1813 war er fast 20 Jahre alt. Er hatte den gleichen Beruf wie sein Vater, Apotheker. Dies war damals noch kein akademischer Beruf.

In den Befreiungskriegen wurde ihm die Position eines Landwehroffiziers angeboten, die er jedoch ablehnte.[4] An dieser Offerte zeigte sich der neue Geist der Zeit. Höhere Positionen gerade im Bereich des Militärs waren zuvor nahezu ausschließlich dem Adel vorbehalten gewesen. Der Staat zeigte sich für das Engagement Reinhards als „Freiwilliger Jäger“ später aber durchaus erkenntlich.

Am 11. November 1813 veröffentlichte der Königlich Preußische Major von Arnim in Hamm einen „Auszug aus den Königlichen Vorschriften wegen Bildung freywilliger Jäger-Detachements“. Darin hieß es:

„1. Jedes Infanterie- und Cavallerieregiment erhält ein Jäger-Detachement.

2. Diese bestehen bloß aus freywilligen, die sich selbst armiren, bekleiden und beritten machen können.

3. Kein junger Mann, welcher jetzt 17 Jahre erreicht, und noch nicht das 24ste zurückgelegt hat, und in keinem activen öffentlichen Dienst steht, kann zu irgend einer Stelle, Würde, Auszeichnung gelangen, wenn er nicht ein Jahr bey den aktiven Truppen oder diesen Jäger-Detachements gedient hat.

[…]

8. Civil-Offizianten [also Beamte], die sich zum Dienst als freywillige Jäger melden, behalten während ihrer Dienstzeit im Jäger-Corps ihre völlige Besoldung, und ihre Collegen sind verpflichtet, deren Geschäfte unentgeltlich zu übernehmen.

9. Die Kleidung der Freywilligen ist dunkelgrün; sie haben die Besoldung der Truppengattung, mit der sie dienen.

10. Die Jäger-Detachements werden zum Dienst der leichten Truppen gebraucht. Ihre vorzügliche Übung ist, ihre Waffen gehörig brauchen zu können.“

Dieser Text wurde im Dezember 1813 in den evangelischen Kirchen der Grafschaft Mark verlesen. So auch in der Kamener Pauluskirche. Durch ein überliefertes „Extract aus dem Verzeichnis der sich freiwillig gemeldeten Jäger“, das auf den 10. Dezember 1813 datiert ist, lassen sich die Namen der Freiwilligen aus Kamen und Umgebung ermitteln. Es handelte sich zunächst um fünf Personen:

„Friedrich von Plettenberg zu Heeren,

Diedrich Denninghoff zu Camen, Fußjäger,

Carl Reinhard zu Camen, Fußjäger, unser Protagonist

Christian Möllenhoff zu Camen, reitender Jäger,

Moritz Friedr. Sprengepiel zu Methler, Fußjäger.“

Vom Bürgermeister wurden die Fußjäger aufgefordert, sich innerhalb von acht Tagen, spätestens bis zum 18. Dezember, beim Hauptmann von Bernuth in Hamm zu gestellen, um dort uniformiert zum Scheibenschießen eingeübt zu werden. Das musste dann in kürzester Zeit geschehen sein. Denn bereits am 28. Dezember 1813, so berichtet Reinhard, marschierte er mit dem Jäger-Detachement nach Holland.

Nach dem ersten Sturz Napoleons bemühte sich die internationale Diplomatie um eine Neuordnung Europas. Währenddessen landete Napoleon am 1. März 1815 in Frankreich und zog am 20. März in Paris ein. Die Verbündeten und damit die Freiwilligen traten erneut zum Kampf gegen Napoleon an.

In einem Aufruf des für Kamen zuständigen Generalmajor Karl Friedrich von Steinmetz[5] vom März 1815 heißt es: „Ich rufe die freiwilligen Jäger zu ihren Fahnen. Die Zeit der Ruhe ist vorüber. Niemand darf säumen. [So hat ähnlich Wilhelm II. den Ersten WK „eröffnet“] Wer im Traume sein Heil erwartet, wird verachtet neben dem vaterländischen Krieger stehen. Bis zum 8. d. Mon. erwarte ich alle braven Jäger montirt und equipirt [also uniformiert und ausgerüstet], so gut es für die Kürze gehen will, hier zu sehen.“

Am 20. März 1815 meldete der Kamener Bürgermeister David Friedrich Reinhard auf Anforderung an den Hammer Kreisausschuss, dass die freiwilligen Jäger aus Kamen: Carl Reinhard, Friedrich Hofius, Friedrich Weeren, Diedrich Denninghoff wieder in die Freiwilligenformation „eingetreten“ waren. Als neuer Gestellungsort fungierte nun Wesel. Von dort aus nahmen die freiwilligen Jäger aus Kamen nach beachtlichen Marschleistungen an den Kämpfen des Jahres 1815 unter Einschluss der Schlacht bei Waterloo teil. Carl Reinhard berichtet in seinen Briefen von seinen Erlebnissen und Eindrücken. Hier also der vorhin angekündigte Brief nach der Schlacht bei Waterloo:

„a Vecne den 23ten Juny 1815

Liebe Mutter

gerne hätte ich Ihnen ehender gleich nach der Schlacht geschrieben. allein nach der gewonnenen Schlacht am 18ten haben wir Tag und Nacht in Frankreich avancieren müssen [nach damaligem Sprachgebrauch für vorwärtsgehen, vorrücken]. Wir sind noch 30 Stund von Paris. Wir haben bis jetzt nach der Schlacht und mit den Gefangenen aus der Vestung Avienne insgesamt 20.000 Gefangene. Die Franzosen hatten 15.000 Tote und Blessierte deren hatten wir auch eine gute Portion und auf dem Schlachtfelde eroberten wir 234 Kanonen und 400 Bagage Wagen und aus der Vestung 60 Kanonen. Jetzt kommt die Nachricht daß auch die Vestung Laon 5 Stund von hier sich ergeben hat.

Sobald der Bote Schmidt kömmt, will ich Ihnen ein näheres über der Schlacht schreiben. Denn wir marschieren jetzt so stark, kommen dann immer im Bivoik und noch dazu bin ich diesen Abend mit noch einem anderen Jäger in Arest gekommen weil wir in einem Dorfe etwas Brod und 2 Hühner requirierten. Dieses thun mehrere Soldaten. Wir wurden nun gerade von fremden Soldaten erhascht und es war streng verboten. [Dazu gleich Zitate von Friedrich Harkort.]

nächstens mehr

geschrieben im Bivoik beym Dorfe Fleuryon auf meinem Schacot[6]

abends 10 Uhr

ich verbleibe

Ihr gehorsamer Sohn

Carl Reinhard“

Nun dazu die Zitate aus dem Buch von Friedrich Harkort, das er 1841 über seine Erfahrungen und Erlebnisse aus den Befreiungskriegen zum Thema der verbotenen Requirierungen veröffentlichte:

S. 195:

„Lebensmittel fehlten, jedoch hatte das erste Regiment theilweise Brodte aufgerafft, welche ermüdetere Truppen beim Vorrücken weggeworfen; Wasser ward aus Fahrgleisen und blutigen Pfützen geschöpft, weil die Brunnen leer, oder die Hebezeuge zertrümmert. …

S. 197:

Eingeäscherte Wohnungen und Ställe mit verbrannten Leichen angefüllt; Zerstümmelte im freien Feld, die Vorübergehenden theilweise um Wasser oder den Tod bittend. Pferde ohne Reiter, im eigenen Blute stampfend, in zertretenen Saaten. … Wahrlich eine große Lehre für jene, so wohlfeilen Ruhm suchen, oder die, so Treiber der Menschheit sind!“ 

Reinhard und die anderen Freiwilligen marschierten Ende Oktober zurück in die Heimat. Von Dortmund aus wurden sie am 30. Dez. 1815 aus dem Dienst entlassen.

Carl Friedrich Reinhard übernimmt als Gastwirt eine Kamener Gaststätte. Es könnte evtl. der Kamener Schützenhof gewesen sein und arbeitet ab 1843 als Gerichtstaxator und Auktionskommissar. Im Jahr 1863 wurde ihm zum „Fünfzigsten Jahrestag des Aufrufs König Friedr. Wilh. III. an sein Volk zu den Waffen“ die „Erinnerungs-Kriegs-Denkmünze für Combattanten für die Krieger der glorreichen Feldzüge 1813, 1814 1815“ nebst Urkunde verliehen; die Verleihungsurkunde hatte der Kommandierende General des 7. Armee-Corps Herwarth von Bitterfeld unterzeichnet. Reinhard heiratete zwei Mal. Aus der ersten Ehe entstammten vier Kinder, aus der zweiten sechs. Carl Reinhard wohnte im Haus Bahnhofstr. 2. Er starb am 10. Juni 1869 im Alter von 75 Jahren

Welches Fazit ist nun aus diesem Teil der deutschen Geschichte zu ziehen? Was ist für uns Heutige noch von Bedeutung?

–          Wir befinden uns (1813-15) im Zeitalter der Romantik. Alles Geschehen wird durch die romantische Sichtweise gesehen und gedeutet. Der „süße Tod für König und Vaterland“ hat plötzlich einen Stellenwert in der Gesellschaft bekommen. Dies wird Teil einer Leitkultur. Wenn man sich nicht damit identifizieren kann, tritt man ab. So Heinrich v. Kleist schon 1811 durch Suizid. Das war auch salonfähig und edel.

–          Der Tod (privat wie patriotisch aufopfernd) wird als verklärender Lebensentwurf zu einem Leitbild für die Jugend.

–          Der Kampf im Krieg für König/oder Führer und Vaterland wird zur Ehrenschuld eines jeden Mannes im entsprechenden Alter. Der „süße Tod fürs Vaterland“ wird zum akzeptablen Schicksal und Ehrenstatus der männlichen Kinder der Familien (bis etwa 1945).

–          Der „Heldentod“ wird bis ins 20. Jh. zum Propagandamittel benutzt und verherrlicht.

–          Die allgemeine Wehrpflicht von 1813 bis 2011 hat das Leben der männlichen Jugend bis vor kurzem noch stark beeinflusst. Heute kann man nur noch freiwillig zur Bundeswehr, auch Frauen. Also gibt es wie in einigen demokratischen Ländern eine Freiwilligen-Armee. Auch hier gilt, wenn auch nicht so propagiert, Sinn für Patriotismus und Aufopferung.

–          Die Befreiungskriege trugen extrem zur Emanzipation des Bürgertums gegenüber dem Adel bei. Nun konnten auch Bürgersöhne Offiziere werden und in alle offiziellen Positionen aufsteigen.

–          Die Hoffnungen auf mehr bürgerliche Freiheiten und Ansätze von Demokratie wurden kurz nach 1815 im Rahmen der Restauration wieder zunichte gemacht.

–          Die Befreiungskriege hatten auch einen einigenden Aspekt. Man wollte ein geeintes Deutschland statt der Kleinstaaterei. Dies sollte aber noch bis 1871 dauern.

–          Auch die Farben des geeinten Deutschlands, Schwarz-Rot-Gold, sollten in den Befreiungskriegen ihren Ursprung finden. Lützower Uniform. Urburschenschaft der deutschen Studenten ab 1815.

–          Viele Intellektuelle, Dichter und Denker glühten in ihren Werken vor Empathie für den Freiheitskampf gegen Napoleon: z.B. Eichendorff, Ernst Moritz Arndt

–          Vielleicht wurde hier der Begriff „Erbfeind Frankreich“ geschaffen, der in drei, z.T. verheerenden Kriegen (1870/1871, 1914-1918 u. 1940-1945) aufreizendes Propagandamittel war.

–          Herfried Münkler, einer der bekanntesten Politologen der Gegenwart, Buch „Der große Krieg 1914-1918“, spricht von einer postheroischen Gesellschaft/en der heutigen Zeit. Der Heldenkult habe nach der Verehrung der Veteranen und Kriegsheimkehrer ihren Sinn verloren. Gerade dies hat ja in den Befreiungskriegen 1813-15 begonnen. Also ist jetzt erst einmal ein Ende gesetzt worden.

Einen ausführlichen Beitrag zu diesem Thema und alle transkribierten Briefe von Carl Reinhard finden sie im Ausstellungskatalog:

„Wider Napoleon!“ Die Geburtsstunde von Demokratie, Emanzipationsbewegungen und nationaler Bewegung im Territorium der Grafschaft Mark (1806-1815). Hrgg. im Auftr. des Vereins für die Geschichte Preußens u. d. Grafschaft Mark – die Museumsfreunde e. V. von E. Trox u. S. Conzen. Lüdenscheid 2013, S. 179 – 206.

Die Ausstellung war eine Zusammenarbeit zwischen den Museen der Stadt Lüdenscheid und dem Fachbereich Kultur des Kreises Unna.

[1] Verzeichnis aller Markaner (damit wurden die Bewohner der Grafschaft Mark bezeichnet) unter den napoleonischen Truppen mit den jeweiligen Schicksalen in: Barich, Fritz: Zur Erinnerung an die Freiheitskriege 1813/15. In: Beiträge z. Gesch. Dtmds. u. d. Gft. Mark, Bd. 23, 1914, S. 367 – 427. Im Folgenden Barich 1914 zitiert. Hier S. 371-391; entnommen dem Amtsblatt Arnsberg, Jahrgang 1820, S. 341-407. Die Liste umfasst die Namen von 420 Markanern. In den Großherzogtümern Berg und Hessen galt das franz. Wehrgesetz in der Fassung v. 1800. Danach waren alle jungen Männer zwischen 20 und 25 Jahren militärgestellungspflichtig. Die Aushebung erfolgte durch eine Konskription der betroffenen Jahrgänge.

[2] StAK Sign. I/0534 Eine dieser Quittungen belegt, dass das 6. russische Jägerregiment im Februar 1814 von der Stadt Kamen 60 Rationen für Offiziere und Pferde empfangen habe. Die arabischen Schriften deuten darauf  hin, dass sogar Krimtataren durch Kamen zogen. So Goehrke 2010, S. 122.

[3] Sie befinden sich, 1992 von einem Nachkommen gestiftet, im Haus der Kamener Stadtgeschichte.

[4] Bereits im Dezember 1813 hatte man Carl Reinhard die Stelle eines Offiziers in der Landwehr angeboten. Das gleiche Angebot machte man ihm am 15. Mai 1815. StAK Sign. I/0602.

[5] Karl Friedrich Franciscus v. Steinmetz (1768-1837), 1814 Kommandant der Zitadelle Wesel, im Juni 1815 kämpfte er als Kommandeur der 1. Brigade im 1. Korps des Generals v. Zieten in den Schlachten von Ligny und Belle Alliance. ADB, Bd. 36, 1893, S. 6-10.

[6] Vermutlich hat er damit seinen Tschako (Begriff aus dem Ungarischen; militärische Kopfbedeckung in zumeist konischer Form) gemeint, auf dessen verbreitertem Oberteil er wohl diesen Brief mangels anderer Unterlagen schreiben musste. Mit dem Dorf Fleuryon ist vermutlich wohl Fleurus (wallonisch „Fleuru“), eine Gemeinde in der heutigen belgischen Provinz Hennegau, Arrondissement Charleroi, gemeint. Von Fleurus aus führten die Franzosen am 16. Juni einen Angriff auf Ligny. Bericht dazu im „Hermann“ v. 14.7.1815, S. 447.

HJK