Die Maibrücke

von Klaus Holzer

Abb. 1: So kennen wir die Maibrücke seit 2001

Ein Fluß bedeutet für eine Stadt immer zweierlei: er verbindet und trennt gleichzeitig. Er verbindet, weil es sich anbietet, an beiden Ufern zu siedeln, er trennt, weil man nicht einfach auf die andere Seite gehen kann. Dazu braucht es eine Furt, ein „Bohlenwerk“, dann eine Brücke. Das kann man besonders schön an dieser Darstellung der Seseke als Gemarkungsgrenze erkennen. Nur Kamen liegt nördlich und südlich des Flusses, weil hier eine Furt die Querung erlaubte, weswegen Nord-Südreisende zwischen Lippe und Hellweg immer hier durchkamen, und die ersten Siedler dies als Chance begriffen.

Abb. 2: Die Seseke als Gemarkungsgrenze

Der Fluß war also für die Gründung Kamens von grundlegender Bedeutung: man konnte sich nur niederlassen, wo es die 4 W gab: Wasser, Wald, Weide, Wege. Wasser als allgemein lebenswichtigen Stoff, aber auch Fische, Krebse und Muscheln im Fluß; Boden zur Anpflanzung von Getreide; Weide für das Vieh, auch als Winterfutter; Wald als Lieferant für Bau- und Feuerholz, das darin lebende Wild für die Ernährung, aber auch Beeren, Pilze usw. Außerdem war ein Fluß wichtiger Transportweg, der auch noch passierbar war, wenn „normale“ Wege und Straße schon im Schlamm versanken und unpassierbar waren.

Abb. 3: Das Mühlentor 1777

Es wird im Laufe von Kamens früher Geschichte eine nicht geringe Anzahl mehr oder minder kleiner Brücken gegeben haben, meist waren das vermutlich einfache Stege. Eine stärkeres Bauwerk wird es wohl schon früh am Mühlentor1 gegeben haben, dem wichtigsten Stadttor. Mit dem Heranwachsen Kamens im 13. Jh. zur befestigten mittelalterlichen Stadt wuchsen Gewerbe und Handel. Die Fuhrwerke wurden größer, damit schwerer, die Stege reichten nicht mehr aus. Es brauchte eine „richtige“ Brücke, natürlich dort, wo der Verkehr am stärksten war, am Mühlentor, der Verbindung zum Hellweg. Dennoch dauerte es bis 1695, daß die Maibrücke zum ersten Mal erwähnt wird, als „Homeybrücke“2. Wie wurde daraus unsere „Maibrücke“?

Vor allen ursprünglich sechs Stadttoren hat es befestigte Torhäuser gegeben, am Mühlentor zusätzlich eine Zugbrücke über den Fluß, am Mühlen~ und Nordentor obendrein noch Homeyen (und jeweils auch ein kleines Gefängnis). Dazu Hugo Craemer: „[Homeyen] sind feste Balkentore […] am Beginn der Brücken. […] Nachdem im 18. Jahrhundert die Befestigung durch Wall und Gräben aufgehoben wurde und der Zweck der Homeyen als Sperrmittel fortfiel, kam auch bald der Name in Vergessenheit, und der Volksmund prägte den kurzen Ausdruck Maibrücke.“3

„Homey“ kommt von hamm4, das bedeutet so viel wie Zaun, Hegung, geschütztes Gelände. Dazu gibt es eine mittelniederdeutsche Weiterbildung hameide, mittelhochdeutsch hamît, was so viel bedeutet wie Zaun, Gatter, Verhau, Schlagbaum, Sperre, das kann auch ein Pfahl- oder Pfostenwerk sein. Hierbei handelt es sich um ein ursprünglich fränkisches Wort, das ins Altfranzösische übernommen wurde, von dort zurückentlehnt wurde und so die Betonung auf die zweite Silbe legte: haméide. Die erste Silbe wurde damit tonlos, konnte also später entfallen: meide, meie.5 Die Voraussetzung für dieses verkürzte Wort hatte natürlich der Umweg über das Altfranzösische geliefert. Die Zeit ging über eine Sache hinweg, ein verstümmeltes Wort blieb zurück und gab unserer Brücke ihren heutigen Namen.6

 Wir müssen uns eine solche Toranlage wohl so vorstellen, daß, um eine möglichst starke Sicherung zu erhalten, Tore durch ein Vortor geschützt wurden, damit eventuelle Angreifer schon früh abgefangen werden konnten. Einen weiteren Zweck dürfte ein Homey ebenfalls gut erfüllt haben. An Markttagen (seit der Mitte des 13. Jh. drei Wochenmärkte, zwei Jahrmärkte!) herrschte an diesem Stadttor reger Verkehr. Am Homey mußten Händler die Akzise7 entrichten, was gewissermaßen eine Standgebühr für den Markt war. Und die Argumentation der Stadt lautete einfach: Händler wollen bei uns Waren verkaufen, also Geld aus der Stadt mitnehmen. Je nach Wert ihrer Waren sollen sie zum Wohle der Stadt beitragen. Man hatte schließlich das Marktrecht. Kaufleute und Bauern wollten zum Markt und ihre Waren verkaufen. Es gab gute Geschäfte, weil die Kamener sie schon sehnsüchtig erwarteten. Schließlich gab es nicht nur Waren, die man brauchte, sondern, besonders auf den Jahrmärkten, Unterhaltung durch Gaukler und Musiker, vor allem aber auch Neues aus aller Welt, was damals so viel bedeutete wie aus der weiteren Umgebung. Hansekaufleute konnten tatsächlich aus der „weiten Welt“ berichten. Der gewöhnliche Bürger kam nicht weit aus Dorf oder Stadt hinaus.

Abb. 4: Marktgeschehen; hier eine französische Darstellung von ca. 1400

Aber natürlich wurde eine so stabile Brücke auch für ganz andere Zwecke benutzt. Hugo Craemer schreibt 1929: „[…] bildeten auch die Schweine einen wertvollen Bestandteil bürgerlichen Besitzes. Sie wurden ebenfalls im Sommer zur Weide, im Herbst zur Mast getrieben, und zwar von dem Schweinehirten. Davon erzählen die Flurnamen Schweinsstraße vor dem Mühlentore, das Schweinemersch ebenda, An der Saustraße und im Saukamp […]. Während diese Orte der Sommerfütterung dienten, fand in der Meynheit8 die Mästung statt. […]. Zur Eichelmast ins Große Holz durften nur die Schweine der Vögte und Ritter eingetrieben werden. So hatte der Hering-, später Edelkirchenhof, die Mastgerechtigkeit mit 20 Schweinen im Hohen Holz, mit 3 Schweinen in der Lerker (Anm.: Lercher) Mark. Die Zahl der einzutreibenden Schweine war genau festgelegt. Der Eintrieb für die Schweine der Bürger fand nur im Herbst über die Maybrücke statt. Im Schweinemersch unter der alten Linde trug der Sekretarius die Besitzer der Borstenträger in das Mastbuch ein. Hier erhielten die Schweine auch das Brandmal. Mit großem Jubel wurden im Spätherbst die gemästeten Tiere hier wieder in Empfang genommen.“9 Und es läßt sich gut vorstellen, daß gefeiert wurde, und vermutlich haben nicht alle frisch gemästeten Borstentiere die Heimkehr lange überlebt.

Abb. 5: Schweine bei der Eichelmast

Bis 1923 war die Maibrücke Kamens einzige Straßenbrücke, entsprechend hoch war der Verschleiß der Substanz, zumal seit 1909 auch noch die Straßenbahn, die Kleinbahn UKW, über sie führte. Daher verwundert es nicht, daß sie 1923 so marode war, daß sie für allen Verkehr gesperrt werden mußte. 

Abb. 6: Die marode Maibrücke, ca. 1910

Jetzt rächte es sich, daß man so wenig weitsichtig gewesen war, es fehlte eine zweite Brücke. August Siegler schreibt 1926/27: „Bei dem Neubau der Maibrücke zeigte es sich, wie notwendig es war, daß neue Wege über die Seseke geschaffen wurden. Im Jahre 1921 brach man zuerst die halbe alte Brücke ab, um den Neubau ohne Unterbrechung des Verkehrs, der gerade damals sehr stark war, durchzuführen. Jedoch konnte der stehengebliebene Rest der Brücke bei der äußerst starken Inanspruchnahme nicht standhalten, zumal die Stützmauer an der Westseite abgebrochen war, wodurch der restliche Brückenteil seinen festen Halt verloren hatte. Eines Tages versagte die Brücke ihren Dienst. Sie konnte ohne große Gefahr nicht mehr befahren werden. Zum Glück hatten die Bauleiter die Gefahr frühzeitig genug erkannt und sperrten die Brücke für Fuhrwerke. Es dauerte einige Tage, bis durch lange T-Eisen wieder eine feste Grundlage für einen Brückenweg geschaffen war.“

Abb. 7: Die Bahnhofstraße mit Straßenbahn (Kleinbahn UKW) von der Maibrücke aus

Und weiter: „Bis zur Fertigstellung dieser Notbrücke war die Stadt mit Fuhrwerken nur auf Umwegen zu erreichen und zu verlassen. Die schwache Holzbrücke im Osten der Stadt (Anm.: die heutige Ängelholmer9a Brücke) war dem Ansturm nicht gewachsen und mußte bald für Fuhrwerke polizeilich gesperrt werden, um weiteres Unheil zu verhüten. Aller Fuhrverkehr mußte nun über Westick oder Derne–Heeren geleitet werden, weil Kamen nur den einen Verkehrsweg hatte, der nun nicht benutzt werden konnte. Da seit Beginn des Brückenbaues fast ein Jahr vergangen war, wurde Herr Bergrat Funcke, der seit einiger Zeit in Wittbräucke wohnte, gebeten, als Vorsitzender des Vorstandes der Seseke–Genossenschaft dahin zu wirken, daß Kamen bald aus dieser Verkehrsnot erlöst und die Fertigstellung der Brücke beschleunigt würde. Diese Bitte hatte den Erfolg, daß die Brücke nun in einigen Wochen fertiggestellt wurde. Das war im Juni 1921. Die überstandenen Schwierigkeiten haben aber doch ihren Nutzen geschaffen. Man hatte allgemein die Ansicht gewonnen, daß der bisherige Zustand nicht bestehen bleiben durfte, daß weitere Wege über die Seseke angelegt und zur Verwirklichung solcher Anlagen Opfer gebracht werden mußten.“10

Abb. 8: Die frühere Binde–, dann Vinckebrücke 

Abb. 9: Die Vinckebrücke wird 2018 abgebrochen 

Und da man nun schon einmal dabei war, die gesamte Situation neu zu regeln, wurde auch gleich noch ein reine Fußgängerbrücke gebaut, die Bindebrücke.11 Und da man sich sicher war, daß durch die Regulierung der Seseke die Hochwassergefahr im wesentlichen gebannt war, konnte man auch die Straßenbrücke Rathenaustraße, heute Koppelstraße, und Hindenburgdamm (heute Sesekedamm) – Ostenallee (damals ohne Namen) neu bauen.

Abb. 10: Die Maibrücke mit Verkehr, 1985

Die Maibrücke blieb noch bis 2001 eine Brücke, über die unterschiedslos aller Verkehr geleitet wurde, Fußgänger, Fahrradfahrer, PKW, Linienbusse und mancher LKW. So kam es, daß sie im Jahr 2002 wieder saniert werden mußte, wieder nicht nur als Einzelmaßnahme, sondern im Rahmen eines Gesamtkonzeptes. Um den dichten Verkehr zu entzerren, sperrte man die Maibrücke für allen motorisierten Verkehr und baute die Partnerschaftsbrücke 2001 ganz neu, nur wenige Meter flußaufwärts. Durch den Bau von zwei Kreisverkehren – Bahnhofstraße/Sesekedamm und Poststraße/Sesekedamm/ Partnerschaftsbrücke – zusammen mit dem Verkehrsschluß Innerer Ring wurde eine ganz neue Verkehrsführung geschaffen, die Maibrücke entlastet. Im Jahre 2018 wird sie de facto Bestandteil des neuen Sesekeparks.

Abb. 11: Brückenpfeiler mit Bleier, früher einmal Hochwassermarke

Auf beiden Seiten der Maibrücke sind ihr Name und der Kömsche Bleier in die Pfosten eingemeißelt. Aus dem Fischmaul tritt eine waagerechte Linie aus, die von vielen für eine Marke gehalten wird, die den Höchstwasserstand der Seseke angibt. Das trifft jedoch nicht mehr zu, sie ist viel zu niedrig. Die alte Hochwassermarke, die früher am alten Rathaus angebracht war, traf es da viel besser.12

Und auch wenn der Kömsche Bleier heute nicht mehr in der Seseke schwimmt13, er ist noch lebendig, lebt in den Plastiken von Lothar Kampmann zwischen Mai– und Partnerschaftsbrücke und Winfried Totzek am Beginn des Fahrradweges an der Ängelholmer Brücke.

Abb. 12: Der Kömsche Bleier von Lothar Kampmann

Abb. 13: Der Kömsche Bleier von Winfried Totzek

KH

Abbildungen:

Abb. 1, 8, 9, 11, 12, 13: Photo Klaus Holzer; Abb. 2: aus Theo Simon, Kleine Kamener Stadtgeschichte, Kamen 1982; Abb. 3, 6, 7: Stadtarchiv Kamen; Abb. 4 : aus Jörg Schwarz, Stadtluft macht frei. Darmstadt 2008; Abb. 5: Wikipedia; Abb. 10: Archiv Klaus Holzer

 

1 Durch dieses Stadttor, über diese Brücke, lief die Verbindung zur wichtigsten Handelsstraße des MA, die schon zur Römerzeit existierte, dem Hellweg, der Verbindungsstraße zwischen Brugge an der Nordsee und Nowgorod in Rußland. Daher verlor das älteste Stadttor, das Langebrüggentor, auch Wünnenporte genannt, erstmals im Jahre 1342 erwähnt, an Bedeutung und wurde 1660 abgerissen.

Klares Zeichen für die Bedeutung des Hellwegs ist auch der Unnaer Goldschatz: 1952 wurden in Unna fast 250 Goldstücke gefunden, die um 1375 vergraben worden waren. Darunter finden sich Gulden aus Prag, Wien, Salzburg, Budapest und Lübeck, dazu „goldene Schilde“ aus Paris und Antwerpen sowie ein seltener englischer Noble: allesamt Ausdruck der weitreichenden Handelsbeziehungen schon im 14. Jh., die es ohne den Hellweg nicht gegeben hätte.

Das große Haus mit dem Wandgemälde einer Mühle (Bahnhofstraße 51) war früher tatsächlich eine solche, zuletzt die Mühle Ruckebier. Sie wurde 1973 abgerissen. Die ursprüngliche Mühle gab es wahrscheinlich schon vor der Stadtgründung (Wassermühlen waren in Europa vermutlich schon seit dem 10. Jh. bekannt), sicher schon im 13. Jh.

Vor der Mühle war der Mühlenkolk (Kolk = Strudel im Wasser, Höhlung am Flußufer; auch afries. Grube, Loch, Wasserloch; verw. mit „Kehle“, architekt. „Hohlkehle“), in dem Frauen noch bis in das 20. Jh. hinein ihre Wäsche ausspülten: das viele Soda, das zum Waschen von Wäsche benötigt wurde und die Haut der Hände stark angriff, mußte gründlich ausgespült werden. (vgl.a.Artikel Mühlentorweg)

2 Es gab bei uns früher auch den Familiennamen Homeyer. Es darf angenommen werden, daß ein Vorfahr früher einmal in einem solchen Homey Dienst geschoben hat.

3 Zechen-Zeitung der Schachtanlagen Grillo und Grimberg, Gelsenkirchener Bergwerks AG., 5. Jg.,  1929, Nr. 6

4 Hier steckt auch unser „Hemsack“ drin. Ein hamm ist ein von zwei Flußläufen bzw. ~armen umgebenes, d.h., geschütztes Gelände, bei uns sind das Seseke und Körne; vgl. a. Hamm, Hamburg, Bopparder Hamm u.a.

5 Leopold Schütte, Wörter und Sachen aus Westfalen 800 bis 1800, 2. überarb. u. erw. Auflage, Münster 2014; 

Pauls Derks, Universität Essen, 2013

6  vgl.a.Artikel Mühlentorweg

7 Eine Steuer, die auf die Einfuhr von Waren erhoben wurde. Die Stadtmauer und ihre Tore hatten im Dreißigjährigen Krieg ihren Sinn verloren, verfielen und wurden früher oder später abgerissen. Als Kamen 1701 preußisch wurde und 1717 die Akzise wieder eingeführt wurde, erhielten beide vorübergehend wieder ihre Bedeutung, vor allem die Homeyen, weil bei Betrieb hier die Akzise bezahlt werden mußte. Ende des Jahrhunderts wurde sie wieder abgeschafft. Man hatte ihre den Handel behindernde Wirkung erkannt.

Wie wichtig diese Steuer aber für den städtischen Haushalt war, zeigt die Aufstellung, die Pröbsting für 1605 gibt: von 940 Thalern stammen 432 aus der Accise!

8 was der Allgemeinheit gehörte: die Allmende

9 Zechen-Zeitung der Schachtanlagen Grillo und Grimberg, Gelsenkirchener Bergwerks AG., 5. Jg.,  1929, Nr. 8)

9a Bis Ende der 1920er Jahre Holzbrücke, dann bis 1969 Eisenbrücke mit Betonelementen, danach die heutige Brücke, seit 2013 Ängelholmer Brücke.

Die heutige Ostenallee war damals ein unbefestigter Weg, hatte auf einer Seite einen ehemaligen Stadtgraben, auf der anderen wild wachsende Weißdornbüsche, mehrere Meter hoch. Wenn sie im Winter vom Schnee beladen heruntergedrückt wurden, erschien dieser Weg als Hohlweg. Er hatte keinen Namen, wurde aber inoffiziell von vielen Schwarzer Weg genannt.

10 Siegler, August, Die Entwicklung der Stadt Kamen. Rückblick, Vergleich, Ausblick. Rückblick auf 50 Jahre: 1873 – 1926. Abgedruckt in: Zechenzeitung1926/27 (in 7 Folgen). Hier: 2. Teil

11 vgl.a. Artikel „100 Jahre Sesekeregulierung“

12 vgl.a.Artikel „100 Jahre Sesekeregulierung“

13 Meine Anfrage an den Lippeverband, ihn aus Beständen in Unnas Partnerstadt Döbeln wieder in der Seseke anzusiedeln, wurde abschlägig beschieden.