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Die Sedansäule von 1872 auf dem Marktplatz in Kamen

von Klaus Holzer

Am 2. Sept. dieses Jahres vor 150 Jahren ging eine Schlacht mit dem Siege Deutschlands zu Ende, die auch für Camen (mit C noch bis 1903) erhebliche Veränderungen brachte. Der deutsche Sieg in der Schlacht bei Sedan im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 war ein wichtiger Schritt hin zur Gründung des Deutschen Reiches, das als letzte große Nation Europas mit der Krönung des Königs in Preußen, Wilhelm I, zum Deutschen Kaiser am 18. Jan. 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles Wirklichkeit wurde. Der Krieg war zwar noch nicht zu Ende, immerhin aber gab es nach der Kapitulation von Paris am 28. Jan. 1871 einen Waffenstillstand, aber erst am 10. Mai d.J. den Friedensvertrag von Frankfurt. Aus dieser Abfolge der Ereignisse wird schon deutlich, daß das deutsch-französische Verhältnis auf viele Jahre hinaus belastet sein würde, die „Erbfeindschaft“ weiter bestehen würde. Und da ist noch nicht die Rede von der Wiedereingliederung Elsaß-Lothringens ins Deutsche Reich (1681 hatte Louis XIV die Freie Reichsstadt Straßburg mit Elsaß und Lothringen im Zuge seiner Reuninonspolitik Frankreich eingegliedert) und fünf Milliarden Goldfrancs als Reparationsleistung an Deutschland. Immerhin ging es unter den Königen und Kaisern einigermaßen ritterlich zu. König Wilhelm war selber auf dem Kriegsschauplatz anwesend, mußte wie alle anderen auch schon einmal auf dem Fußboden schlafen, und zu essen gab es auch nicht immer Gutes und genug. Dem unterlegenen französischen Kaiser wurde ein Salonwagen einer preußischen Eisenbahngesellschaft zur Verfügung gestellt. Er durfte auf einem Schloß in Kassel wohnen. Wilhelm berichtete aus „Vendresse, südl. Sedan, 3.Sept. 1870, an Königin Augusta in Berlin“ über seine Sicht auf den Sieg bei Sedan. U.a. zitiert er in seiner Depesche über die Kapitulation des französischen Kaisers dessen Worte: „N’ayant pas pu mourir à la tête de mes troupes je dépose mon épée à Votre Majesté.“ (Da es mir nicht gelungen ist, an der Spitze meiner Truppen zu sterben, überreiche ich hiermit Eurer Majestät meinen Degen.) Und die Jugend Berlins bekränzte preußische Denkmäler. 

Abb. 1: Napoleon übergibt König Wilhelm seinen Degen

Die Meldung von diesem Sieg erreichte Camen umgehend. Pfarrer Friedrich Pröbsting, der Autor einer umfänglichen Geschichte Camens, schrieb in seinen Erinnerungen (1902/03): „ Als die Nachricht vom Sieg bei Sedan und von Napoleons Gefangennahme zu uns kam, ließ ich einen Tambour kommen, stellte mich an die Spitze unserer Schuljugend, und unter dem Siegesgeläute aller Glocken zogen wir singend durch die Straßen der Stadt. Alsbald strömten die Menschen scharenweise zusammen, und eine wunderbare, freudige Bewegung ging durch das ganze Volk, groß und klein. Einer beglückwünschte den andern und dankte Gott. Am Mittag versammelte der Bürgermeister von Basse die Bürger auf dem Markt, ließ die herbeigeholte Musikkapelle patriotische Weisen spielen und las die Siegesdepeschen vor. Dann hielt ich der versammelten Menge eine feurige Rede und weissagte, daß nun auch die verlorenen deutschen Brüder im Elsaß und in Lothringen sich wieder mit uns vereinigen müßten. Hochbegeistert brachten wir dem tapferen Heere, unsern Brüdern im Felde und dem König Wilhelm unsere Huldigung dar.“


Abb. 2: Familie von Basse: Julius von Basse (vorn rechts) war von 1847 bis 1877 Bürgermeister von Camen ; Hugo von Basse steht hinten in der Mitte (s. Anm.)

Der hier erwähnte Bügermeister (Julius) von Basse war zu diesem Zeitpunkt schon 25 Jahre lang im Amt. Als überzeugter Patriot betrieb er von Stund an die Errichtung eines Denkmals, das auf Camens Markt stehen und Ort vieler zukünftiger patriotischer Feiern sein sollte. Sofort fing man an, bei allen Gelegenheiten Geld für diesen Zweck zu sammeln, und schon im folgenden Jahr war die notwendige Summe beisammen. Am 2. Sept. 1872 fand die feierliche Einweihung statt.

Abb. 3: Die Sedansäule im Jahre 1878

Abb. 4:  Eine Sedanfeier wohl in den 1880er Jahren

Der Gesamteindruck der Einweihungsfeier wird Im „Hellweger Anzeiger und Bote, verbunden mit dem amtl. Kreisblatt für den Kreis Hamm“ (HA) in einem Artikel vom 5. Sept. 1871 mit den folgenden Worten wiedergegeben: „Der Gesammteindruck war ein ungemein wohlthuender und befriedigender. Es war ein rechtes Volksfest. Keine Klasse, kein Stand des Volkes blieb unbetheiligt; vom kleinsten Kinde bis zum alten Krieger, […] wurden lebhaft ergriffen von dem Ernst und der Freude des Tages.“ Die „hohen Ideen der Vaterlandsliebe, der Treue, der Freiheit, der Ehre […] fanden hier ihre Befriedigung“. 

Abb. 5: Die Säule um 1910: die Kirche Hl. Familie steht seit 1902 neben dem Schiefen Turm

Nach morgendlichem Kirchgang, Glockenläuten und dem Lied „Nun danket alle Gott“ strömte ganz Camen (lt. einer Zählung von 1871 hatte Camen damals 3723 Einwohner) zum Marktplatz, wo das vom Paderborner Bildhauer J. Hellweg erschaffene Denkmal seiner Enthüllung wartete, theatermäßig inszeniert. Zuerst erinnerte Pfarrer Bertelsmann an die Entstehungsgeschichte des Denkmals und und zählte alle diejenigen auf, die zu seiner Aufstellung wesentlich beigetragen hatten. „Dann gab er das Zeichen zum Fallen der Hülle, die Schützen präsentirten das Gewehr und mit tausend stimmigem Hoch auf Kaiser und Reich wurde das Denkmal begrüßt. Das enthüllte Denkmal übergab er nun der Stadt zum Eigenthum und forderte Alt und Jung auf, es zu schonen und zu hüten […].“ 

Abb. 6. Eine Sedanfeier vor 1900

Es besaß einen „kräftigen Sockel“, eine „schlanke Säule“, ein „kunstreiches Kapitäl“ und einen „starken wehrhaften Adler“, (HA 5.9.1872) der selbstredend seinen scharfen Schnabel gen Westen richtete, wo der „Erzfeind“ wohnte. Die Inschriften lauteten: „Fest steht und treu die Wacht am Rhein.“ Und: „Mit Gott für König und Vaterland.“ (zit. nach Göhrke, S.158) Aber es gab zwei weitere Platten, die „zerschlagen und als Trümmer abtransportiert“ (HA, 8.11.1956) wurden. Die auf der Nordseite des Sockels trug die Inschrift: „Die Stadt Camen und die Gemeinden Bergcamen, Derne, Lerche, Overberge, Rottum, Südcamen ihren im Kriege gegen Frankreich 1870–1871 gefallenen Söhnen in dankbarer Erinnerung gewidmet.“ Die auf der Südseite: „Es starben den Heldentod für Kaiser und Reich“, dann folgten die Namen von 12 Gefallenen aus Kamen, fünf aus Overberge und einem aus Bergkamen (HA, 8.11.1956).  

Anschließend feierten alle zusammen „auf dem Festplatze der schönen Wiese des Herrn Reinhardt mit Spielen und Wettkämpfen“ für Erwachsene und Kinder. Den Abschluß des Tages bildete ein Fackelzug.

Abb. 7: Die Gaststätte von Wilh. Reinhardt, als Schützenhof bekannt

Diese Camener Sedanfeier war ein so großer Erfolg, daß Unna voller Neid fragte: „Wann wird endlich unsere Stadt zur Errichtung eines so oft ausführlich berathenen ja beschlossenen Denkmals kommen?“ (HA 3.9.1872)

Ganz ohne einen Mißton ging es bei aller Freude dennoch nicht zu. Im HA vom 11. Sept. 1872 wird zum Beleg für breiteste Beteiligung aller Camener aufgezählt, welche Religionsgruppen sich am Fest beteiligten: Die lutherische Gemeinde (es wird extra erwähnt, daß die Lutherkirche „mit ihren Glocken, deren eine aus in dem letzten Kriege und von Sr. Majestät der Gemeinde zum Geschenk gemachten Kanonen gegossen, eingeläutet worden ist“) mit ihrem Pfarrer und ihrem Lehrer, der katholische Lehrer, der jüdische Lehrer, die Lehrerin an der höheren Privattöchterschule und die 2 Lehrerinnen an der größeren ev. Schule. In der kath. Kirche aber sei „kein Dankgottesdienst abgehalten“ worden und die kath. Lehrerin habe sich sich nicht nur vom Feste ferngehalten, sondern sogar in demonstrativer Weise unterrichtet, was allerdings in der folgenden Ausgabe (HA 14.9.1872) in einem Leserbrief heftig bestritten wurde. Wer wollte schon seine patriotische Gesinnung in Frage stellen lassen?

Abb. 8: Die Sedansäule – Kristallisationspunkt auf dem Marktplatz

„Sedan“ war so gelungen, daß es von nun an jedes Jahr ein solches Fest geben sollte, da waren sich die Camener einig. Klaus Goehrke (S. 158) schreibt dazu: „Nach dem Sieg über Frankreich und der Ausrufung des Kaiserreichs wurden Stadt und Land von einem patriotischen Rausch erfaßt.“ An der Choreographie brauchte nicht viel geändert zu werden: ohne die Pfarrer und Gottesdienste in ihren Kirchen, ohne Turner und Schützen, Kriegervereine, die vielen anderen Vereine und vor allem ohne die Schulen war ein solches Fest nicht vorstellbar. Ein gewöhnlich dreifaches Hoch auf Kaiser und Vaterland, Ehre und Treue, dazu Musik, Fahnen, Fackelzug, Tanz bei Reinhardt – wenngleich uns Heutigen der Grundtenor solcher Veranstaltungen nicht mehr gefällt, läßt sich doch nicht leugnen, daß sie ein großes Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen imstande waren. Der HA vom 10. Sept. 1873 faßt es so zusammen: „Solch’ ein Fest müssen wir jedes Jahr haben, so hörte Schreiber dieses Manchen sprechen, und er stimmt selbst in diesen Wunsch ein.“

Um zu zeigen, welch groteske Formen übersteigerter Nationalismus zu jener Zeit annehmen konnte, sei hier ein Beispiel aus Unna zitiert. Unter dem Datum 7.9.1870 in der Ausgabe des HA vom 10.9.1870 wird von einem Hauptmann von Esebach, 94. Inf.–Rgmt., aus Unna berichtet, gefallen in der Schlacht bei Wörth, der seiner Gattin, einer geborenen v. Pappenheim, einen Brief zustellen läßt, in dem er schreibt: „Wenn das Kind welches sie erwarte ein Knabe sein sollte, so solle sie diesen nichts anderes werden lassen als Soldat, ‘denn es sei schön, fürs Vaterland zu sterben’“.

Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg freilich erhielt diese patriotische Gesinnung einen erheblichen Dämpfer, selbst eine notwendige, von den Kriegervereinen wiederholt angemahnte Reparatur des Adlers unterblieb, das Denkmal wurde gar versetzt, „um den Marktplatz aufzuwerten“ (Goehrke, S. 158). 

Abb. 9: Die Säule nach ihrer Umsetzung Anfang der 1930er Jahre

Was Wunder, wenn auch den Kamenern aller Sinn für Parolen vergangen war (doch schon 1933 änderte sich das wieder. Parolen schrie man wieder, wenngleich anders gefärbte. Aber das ist ein anderes Kapitel):  der Steckrübenwinter 1916/17, die Kapitulation des gerade erst gefeierten, noch jungen Reiches 1918, der Kaiser im Exil in Holland – hier halfen keine Sedanfeiern und Hochrufe mehr. Das Denkmal blieb noch bis 1956 stehen, wenn auch wohl nicht mehr alle Kamener wußten, wofür es stand.

Dann kam der Zweite Weltkrieg, erneut die Kapitulation, nicht mehr hat sich ein Kaiser ins Exil geflüchtet, dafür der Weltverderber selber umgebracht. So unterschiedlich die Figuren, so gleich das Verhalten in der Niederlage: der Verantwortung entziehen sich beide.

In diesem Krieg wird das Sedandenkmal beschädigt und die Diskussion über seinen Wert setzt erneut ein. Inzwischen hat sich der Wind gedreht, die Bilderstürmer bilden plötzlich die Mehrheit. Die Stadtverwaltung holt bereits im Mai 1951 die ersten Angebote von Bauunternehmen für einen Abriß des Sedandenkmals ein, stellt aber gleichzeitig klar, daß es nicht um eine Zerstörung gehe, sondern es im Stadtpark wieder aufgestellt werden solle (Westfalenpost, 17.11.1956). Allerdings scheute der Bauausschuß die Kosten, so daß das Vorhaben erst einmal zurückgestellt wurde. Außerdem riß die Diskussion über den Sinn des Abrisses nicht ab, „zumal in der Kamener Innenstadt kein anderes Mal an die Opfer der Kriege erinnert und es in Kamen eine schöne Sitte der Vereine geworden war, hier inmitten der Stadt der Toten zu gedenken“ (HA, 8.11.1956). Unabhängig von der öffentlichen Diskussion hatte jedoch der Hauptausschuß des Rates der Stadt Kamen am 19. Jan. 1956 mit der großen Mehrheit von SPD und CDU diesen Abriß beschlossen, aber nur unter der Voraussetzung, den „Tafeln mit den Namen der Toten einen würdigen Platz zu geben“ (HA, 8.11.1956). Drei Gründe wurden für die Entfernung vorgebracht: das Denkmal sei nur noch ein Torso; es bilde keine Zierde für den Marktplatz; es stelle ein Verkehrshindernis dar (!). Vor allem das letzte Argument stellte bereits die Weichen für „Kamen – die schnelle Stadt“, die anderthalb Jahrzehnte später mit der Flächensanierung der Nordstadt begann und der „autogerechten Stadt“ den Weg ebnete.

Das Protokoll der Sitzung des Kulturausschusses des Rates der Stadt Kamen vom 8. Okt. 1954 geht präzise auf die Vorstellungen ein, die mit einer Neukonzeption des Gedenkens an die Toten der Kriege verbunden sein soll: auf der Fläche südlich des Schiefen Turms oder in der Mulde zwischen den beiden großen Kirchen solle ein Ehrenmal entsprechend den örtlichen Gegebenheiten gestaltet werden, das „den Angehörigen aller Verbände Gelegenheit zu Gedenkfeiern und Kranzniederlegungen geben und gleichzeitig das Andenken der Toten wahren“ solle. Eine noch zu bestimmende Inschrift solle dem Gedenken „aller gefallenen Soldaten, aller Bomentoten (sic!) und zivilen Kriegsopfer, aller durch Flucht und Vertreibung Umgekommenen, aller durch Opfer des nationalsozialistischen Terrors und aller Opfer des sowjetischen Terrors dienen“.

Abb. 10: Arbeiter beim Abbruch der Säule am 7. Nov. 1956

Entsprechend dem Beschluß vom 19.1.1956 rückte am Morgen des 7. Nov. 1956 eine Dortmunder Abbruchfirma auf dem Marktplatz an und begann, das Denkmal, das, stadtbildprägend, 84 Jahre lang dort gestanden hatte abzureißen, abends „gegen 17.30 Uhr verließ die letzte Fuhre mit den Steinresten des Kriegerdenkmals von 1870/71 den Kamener Marktplatz“ (HA, 8.11.1956).

Abb. 11: Arbeiter beim Abbruch der Säule am 7. Nov. 1956

Seitdem ist der Marktplatz mehrfach umgestaltet worden, doch einen zentralen Ort hat es darauf nie wieder gegeben. Der Platz ist in der Mitte leer geworden, wahrscheinlich weiß kaum noch jemand, daß es dieses Denkmal einmal gab oder gar, wofür es stand. Der Krieg von 1870/71 ist vergessen, trotz seiner für die deutsche Geschichte großen Bedeutung, gab es doch vorher kein Deutschland, nur ein Gebiet mit einer einheitlichen Sprache, wenn auch in viele Dialekte zergliedert, das aus mehreren Dutzend voneinander unabhängiger Königreiche, Herzogtümer, Freier Reichsstädte usw. bestand.

In vielen Diskussionen zur deutschen Geschichte wird, zu Recht, die Bedeutung von Zeitzeugen betont, gleichzeitig bedauert, daß diese aussterben. Es gibt nur noch wenige Überlebende des Holocausts, die aus eigener Erfahrung über das Grauen in den Konzentrationslagern berichten können. Wenn wir nun auch noch fortfahren, die „steinernen Zeitzeugen“, mögen sie für Ereignisse oder Personen stehen, zu beseitigen, stellen wir auch alles, wofür sie stehen, dem Vergessen anheim und werden geschichtslos. Und einer Stadt, die arm ist an stadtbildprägenden Monumenten, stünde so etwas heute gut zu Gesicht. Der Verlust dieses und der vielen anderen Monumente, die seit Kriegsende in Kamen beseitigt wurden, schmerzt. Aus Geschichte lernt man nur, indem man sich ihrer erinnert, im Guten wie im Schlechten.

Vielleicht ist das die Lehre, die wir aus der Geschichte der Sedansäule von 1870/71 ziehen können, besonders im Hinblick auf die gegenwärtige öffentliche Diskussion?

Anm.: Beim Tode Julius von Basses 1877 schrieb Pröbsting in seiner Camener Stadtgeschichte (1901): „Er hat sich die Dankbarkeit und Liebe seiner Bürger in hohem Maße erworben, denn er führte sein Amt sorgfältig und gerecht; war ein Freund und Berater der Hilfsbedürftigen und Armen, ein vorsichtiger und sparsamer Verwalter der städtischen Finanzen und in jeder Hinsicht ein Ehrenmann. Dabei war er durch und durch ein königstreuer Mann und ein Patriot.“ 

Abb. 12: Adolf von Basse mit seiner Frau

Nach seinem Tod folgte ihm sein Sohn Adolf von Basse (Abb. 2., hinten links) im Amt und versah dieses bis 1913. Vater und Sohn waren zusammen 66 Jahre Bürgermeister von Camen! Adolf von Basse liegt auf dem alten Kamener Friedhof begraben.

Zu Hugo von Basse (vgl. Abb. 2) steht im HA vom 17. Sept. 1870 unter dem Datum 16. Sept. 1870 die Meldung: „Lieutenant v. Basse aus Camen, vom II. Bataillon, 18. Inf.–Reg., todt, gefallen bei Metz.“

Abbildungen:

Abb. 1: Wikipedia

Abb.  2, 7, 9 & 12: Archiv Klaus Holzer

Abb. 3, 4, 5 & 6: Stadtarchiv Kamen

Abb. 8: Fr. Pietsch, Methler

Abb. 10: HA 8.11.1956, (Schlüter), bearb. von Stefan Milk

Abb. 11: WP 8.11.1956 (Archiv Stadt Kamen)

Literatur:

1. Fritz Pröbsting, Erinnerungen aus meinem Leben, Würzburg, o.J.

2. Fr. Pröbsting, Geschichte der Stadt Camen und der Kirchspielsgemeinden, Hamm 1901

3. Hellweger Anzeiger und Bote, verbunden mit dem amtl. Kreisblatt für den Kreis Hamm (HA), Ausgaben von Sept. 1870, Sept. 1871, Sept. 1872, Sept. 1873

4. Klaus Goehrke, Burgmannen, Bürger, Bergleute, Kamen 2010

5. Westfalenpost, 17.11.1956

6. Kulturausschuß des Rates der Stadt Kamen, Protokoll vom 8.10.1954

7. Hauptausschuß des Rates der Stadt Kamen, Protokoll vom 19.1.1956

KH

Das Geheimnis der Turmspitze ist enthüllt

von Klaus Holzer

Abb. 2: Blick von der Turmspitze über Kamen (Panorama)

Daß Kamen die Pauluskirche hat, weiß jeder Kamenser. Daß Kamen von 1873 bis 1983 eine Zeche namens Monopol hatte, weiß auch (noch fast) jeder Kamenser. Daß diese beiden Kamener Wahrzeichen auch miteinander zu tun hatten, wissen vielleicht nicht so viele.

Am 14. Mai 1922 zogen die Bergleute von Monopol die neuen Glocken in den Turm hinauf. Entgegen allen Gepflogenheiten wurde die mittlere Glocke ihnen zum Dank und zu Ehren „Glückauf-Glocke“ getauft. Daß es heute ein weithin sichtbares, wenngleich unbekanntes Zeichen der Verbundenheit gibt, weiß vermutlich niemand außer denen, die es veranlaßt haben. Immer sehen wir die neue Messingkugel (besonders schön bei Nacht, wenn sie im Dunkel zu schweben scheint) mit der auf ihr stehenden Wetterfahne. 

Aber wer nimmt schon wahr, daß die Wetterfahne, wie es für evangelische Kirchen nicht untypisch ist, auf einem Kreuz befestigt ist? Und die Inschrift auf diesem Kreuz ist natürlich nicht zu erkennen: „Zeche 1949 Monopol“. Und von unten auch nicht, wie angefressen die Wetterfahne ist, die, wie auch die Turmkugel, aus vergoldetem Kupfer besteht.

Abb. 3: Die ganze Turmspitze

Das erkennt man erst, wenn das Auge einer Drohne sich der Kirchturmspitze nähert, ihr so nahe kommt, wie es kein Mensch kann. Dann erkennt man die Einzelheiten und erhält einen atemberaubenden Blick über die Stadt. Und wie der Turm von oben aussieht – wer hat das schon einmal gesehen?

Abb. 4: Der Turm von oben

Wo kommt die Inschrift her, was hat sie zu bedeuten? Der Pauluskirchturm wurde durch zwei Bomben am 24. Februar 1945 stark beschädigt, sämtliche Fenster im Chor wie im Langhaus wurden zerstört. Es dauerte bis 1953, bis die Kirche vollständig wiederhergestellt war. Der Kamener Kirchenhistoriker Wilhelm Wieschhoff schreibt im November 1982 in seiner kleinen Ergänzung zur Geschichte der Pauluskirche: „Das Turmkreuz ist eine Spende der ehemaligen Zeche Monopol aus dem Jahre 1948.“ Offenbar geht die Schenkung auf das Jahr 1948 zurück, wurde aber erst 1949 umgesetzt. In der Sache hat Wieschhoff sicher recht. Die Verbundenheit zwischen den Bergleuten von Monopol und der Pauluskirche war anscheinend so groß, daß sie selbst nach einem Vierteljahrhundert noch eine Bindung zur Kirche verspürten und das Kreuz selbst schmiedeten und der Kirche schenkten. Damit sie nach der kriegsbedingten Beschädigung im alten Glanz wiedererblühen möge, das älteste Gebäude Kamens und das Wahrzeichen der alten Stadt.

Hier sei noch etwas nachgetragen (vgl. Artikel „Pauluskirche“ unter www.kulturkreiskamen.de): 

Im Jahre 1995 wurde der Turm grundsaniert und seine Höhe neu vermessen. Ergebnis: Vom Erdboden bis zur höchsten Spitze der Wetterfahne beträgt die Turmhöhe etwa 60m, 50 cm mehr als vor der Sanierung 1995.

KH

Alle Photos Archiv KamenWeb

Kämerstraße & Kugelbrink

von Klaus Holzer

Wilhelm Hellkötter leitet den Namen „Kämerstraße“ von der alten Verbindung über die Sesekefurt ab, von der Kamens Besiedelung ausging. Er glaubt, eine alte Form „Kemm, Kimm“  belegen zu können, die sich zum plattdeutschen „Kämm-Strote“ entwickelt habe, woraus dann das hochdeutsche „Kämerstraße“ geworden sei. Verifizieren läßt sich das bisher aber nicht. 

Abb. 1: Kämerstraße

Die Kämerstraße hieß ursprünglich wohl Bergcämer Straße. Sie war die wichtigste Nordverbindung Kamens und führte durch das Bergcämer Tor auf die (Berg)cämer Heide, die erstmals schon 1363 als „Bergcämer parte“ erwähnt wird. Das war ein zusammenhängendes Wald– und Heidegebiet von fast 50 qkm Ausdehnung, in der alle Anlieger, darunter auch die Camener, Huderecht besaßen (Hude = Hütung, auch auf den Platz der Hütung übertragen), d.h., dort durften sie ihr Vieh zur Weide und zur Mast treiben. Daran erinnert heute noch die „Kamer Heide“ in Overberge.

Abb. 2: Kämertorstraße

Dieses Kämer Tor hatte für die Kamener eine große, sehr praktische Bedeutung. Sie waren Ackerbürger, die ein eigenes Stückchen Land vor der Stadtmauer besaßen. Und sie wollten dieses Land leicht und schnell erreichen können, daher brauchte es möglichst viele Durchgänge durch die Stadtmauer, auch zur Ausübung ihres Huderechts, mehr als die vor allem für den „Fernverkehr“ geeigneten großen Tore in alle Himmelsrichtungen (vgl.a. Artikel Nordstraße). 

Abb. 3: Die letzte Gaststätte vor dem Bergcämer Tor: Tillmann

Abb. 4: Die Rückseite der Postkarte (s. Abb. 3)

Abb. 5:  Altes Torschreiberhaus

Abb. 6: Gleich vor dem Kämertor: Jühe

Außerhalb der Stadtmauer führt die Kämerstraße geradeaus weiter nach Norden, nach Bergkamen. Diese Verlängerung hieß ursprünglich der „richte Weg“, d.h., der gerade, kürzeste Weg in die Bauerschaft Bergkamen. Um 1910 erhielten die bebauten Feldmarken erstmals amtliche Straßenbezeichnungen. Der „richte Weg“ hieß von nun an Schützenstraße, weil er direkt zum Heim und Schießplatz des Kamener Schützenvereins, der „Schützenheide“, führte. (Bei der Teilung der Reck-Camenschen Gemeinheit , auch Heide genannt) erhielt die Stadt Camen „etwa 8 Morgen auf der Linkamps-Heide. Letzteres Grundstück wurde der Stadt als Schützenplatz zugeteilt.“ Friedrich Pröbsting, 1901) 1945 wurde sie in Heidestraße umbenannt, seit Anfang 1970 heißt sie Fritz-Erler-Straße. Das Umdenken bei der Vergabe von Straßennamen wird deutlich: früher gab es den örtlichen Bezug, heute steht oft die Politik bzw. ein Politiker im Vordergrund.

Abb. 7: Umzug vor der Schützenheide

Hellkötter gibt an, daß dieser Weg so stark befahren wurde, daß die Fahrrillen bis zu eineinhalb Meter tief gewesen seien, was das Befahren oft unmöglich gemacht habe. Fußgänger gar mußten am Rande der Ackerstücke entlanglaufen. Das traf besonders die Ausmärsche des Schützenvereins, der natürlich solche Wege für die Marschaufstellung zu Schützenfesten nicht benutzen konnte. Diese Märsche führten deshalb über den „krummen Weg“, der aber nicht so genannt wurde, weil er so viele Krümmungen aufgewiesen hätte (was er auch tat), sondern weil dieses Stück Land lt. einer Urkunde von 1508 „Am krummen Boome“ hieß. Das war ein krummer Grenzbaum in der Nähe der Landwehr, der das Kamener Gebiet vom Bergkamener abtrennte und auf der Höhe des Weges an der Stelle stand, wo sich Kugelbrink und Schillstraße (1910), später Schillerstraße (1945), vereinigen. 1971 wurde diese Straße Bergkamener Straße genannt.

Die Verbindung vom Langebrüggentor zum Kämertor führte vom Langebrüggentor über das „Bollwerk“, verlief zwischen den vorhandenen Burgmannshöfen hindurch, in einem Schwenk um die Grafenburg der märkischen Grafen herum zur Kämerstraße (ein kurzes Stück zwischen Weststraße und Rottstraße hieß Judengasse) zwischen Reckhof und Edelkirchenhof hindurch und dann stracks nach Norden. Straße und Tor waren also Bestandteil der täglichen Wege vieler Kamener, da ist es wahrscheinlich, daß das lange Wort „Bergkämer“ zu „Kämer“ verkürzt wurde. Bis 1660, als das Langebrüggentor zugemauert wurde (vgl.a. Artikel Maibrücke) – abreißen kam nicht in Frage, weil die Stadtmauer sonst ein Loch bekommen hätte – standen den Ackerbürgern sechs Stadttore zur Verfügung. 

Abb. 8: Kugelbrink

Wie deutlich wurde, ist die Kämerstraße nicht sinnvoll vom Kugelbrink zu trennen. Der Name gibt Rätsel auf, und die Sache wird nicht einfacher durch die vielen bekannten, unterschiedlichen Schreibweisen. Doch der Reihe nach. 

Von Kamen aus führten in die alte Bauerschaft Bergkamen eigentlich nur zwei Wege, der „richte Weg“ und der „krumme Weg“, die am Kämertor bei der Kamener Stadtmauer zusammenliefen. Die Wahl des Weges für die täglichen Geschäfte und Besuche, den Schul- und den Kirchgang (Kinder trugen grundsätzlich nur Holzschuhe, ihre Schulbücher wurden durch Riemen zusammengehalten; die Erwachsenen trugen „gute“ Lederschuhe meist auch nur sonntags beim Kirchgang), fiel nicht schwer. War es trocken, nahm man den „richten Weg“, der zwar unbequem war, weil ausgefahren, aber kürzer, war es naß, dann wurde der „krumme Weg“ genommen, der länger, doch besser passierbar war. Wer nimmt schon einen freiwillig längeren Weg? Natürlich ist der dann geschont, und damit besser passierbar.

Die beiden Namenbestandteile in dieser Form lassen sich relativ einfach erklären. „Kugel“ könnte sich auf die Hügelkuppe beziehen (Franz Petri), aber auch auf die „Gugel“, die im MA häufige, kapuzenartige Kopfbedeckung (Ferdinand Brandenburg). Dieser glaubt auch eine Erklärung für die Schreibweise „Kuchenbrink“ gefunden zu haben, ein Flurstück dahinter heißt „Pfannkuchen“. Weitere Formen sind Auf dem Kuckenbrink, Am kurzen Brink und Kükenbrink, die aber von allen Autoren zum Thema als Verballhornungen zurückgewiesen werden, obwohl es sie in amtlichen Verlautbarungen gibt. Es ist eben zu bedenken, daß es früher keine einheitliche Schreibung gab, jeder Schreiber lokale Varianten in die Akten eintrug. Hugo Craemer erwähnt weiterhin Kugenbrinnk, Kukenbrink und Kugenbrink, die alle zwischen 1750 und 1827 in Gebrauch gewesen seien, doch sind sie einander so ähnlich, daß nur von abweichenden Schreibweisen und nicht grundsätzlich anderen Namen die Rede sein kann. 

Das zweite Element, „brink“, ist leichter zu definieren, handelt es sich dabei doch klar um eine erhöhte Lage am Ortsrand (vgl.a. englisch brink = Rand), wo oft Kötter angesiedelt waren, sog. Brinksitzer. Da „Brink“ bereits als erhöhte Lage definiert ist, ist es allerdings nicht ganz einsichtig, warum das mit „Kugel“ ein zweites Mal geschehen sollte.

Abb. 9: Gastwirtschaft zur deutschen Eiche (links die „Kaisereiche“)

Hier oben stand früher einmal der „krumme Boom“, ein Grenzbaum in der Nähe der Landwehr zwischen Kamen und Bergkamen. Getreu der damaligen patriotischen Gesinnung pflanzte die Stadt Kamen am 22. März 1897 zum Andenken an den hundertsten Geburtstag des Heldenkaisers Wilhelm I. (vgl. dazu auch den Artikel „Stadtpark“) an der Grenze auf der Höhe des Kugelbrinks die Kaisereiche. Als dann noch ab 1909 die Kleinbahn UKW (die Straßenbahn) hier eine Haltestelle einrichtete, entstand an dieser Stelle, in der Schillerstraße 90, ein Lokal, „Die Kaisereiche“, das sich schnell zu einem beliebten Ausflugslokal entwickelte. Spezialitäten waren der „Kaiserwein“ (das war Himbeersaft bzw. -sirup mit Wasser aus dem Hausbrunnen) und Kaiserplätzchen (was wir heute „Amerikaner“ nennen). Nach dem Krieg wurde dieses Lokal „Gastwirtschaft zur deutschen Eiche“ genannt und war noch einige Zeit recht populär, wurde aber 1992 abgebrochen. Die Eiche, der Baum, fiel gleichzeitig einer Straßenbegradigung zum Opfer.

Von den nicht wenigen Erzählungen, die sich um „Die Kaisereiche“ ranken, sei nur eine erzählt. In der „guten, alten Zeit“ gab es viele reisende Vertreter, z.B. „in Zigarren“. Da soll es vorgekommen sein, daß spontan eine fröhliche Reisegesellschaft entstand, wo der Reisende in Zigarren Fahrer, Schaffner und Mitreisende einlud, auf ein Bier, einen Münsterländer (Korn) oder einen Kaiserwein mit ins Lokal zu kommen, Fahrplan hin oder her.

KH

Quellen:

Wilhelm Hellkötter, Das „fünfte Viertel“, Heimatkundliches aus Alt-Kamen – von der Kämerstraße, dem „richten“ und „krummen“ Wege. Lokalzeitung (?), um 1950

Franz Petri, Grenzbaum am Kugelbrink, Auf dem krummen Weg zur Schule – mit Kaiserwein und Kaiserplätzchen, in Heimatbuch Kreis Unna, 1993

Ferdinand Brandenburg, Flurnamen, 5 Folgen im Hellweger Anzeiger, Feb. bis April 1944

Hugo Craemer, Alt-Kamen im Lichte seiner Orts- und Flurnamen, Zechenzeitung, 1929

Friedrich Pröbsting, Geschichte der Stadt Camen und der Kirchspielsgemeinden von Camen, Hamm 1901 

Abbildungen: Photos 1, 2 & 8 Klaus Holzer; Abb. 5: Familie Flögel; Abb. 6: Stadtarchiv Kamen; Abb. 3 & 4: unbekannt; Abb. 7: Schützenverein Kamen, Wolfgang Freese; Abb. 9: Photo Deutsche Eiche,  Herr Aschhoff, besorgt von Dieter Linkamp, Bergkamen

Zum Namensjubiläum – 100 Jahre „Pauluskirche“

von Klaus Holzer

Zum Namensjubiläum – 100 Jahre „Pauluskirche“

Abb. 1: Der Turm der Pauluskirche 

Der Turm der Pauluskirche ist das älteste Gebäude der Stadt, zwischen 1100 und 1130 als Wehrturm und Fluchtburg gebaut. Er ist gut 60 m hoch, Turmstapel und Helm je 30 m. Erbaut ist er aus Anröchter Sandstein, die Mauern sind an manchen Stellen bis knapp unter drei Meter dick. Die Länge im Innenraum beträgt 38,40 m, die Breite 17,80 m.

Abb. 2: Kamen in der Uraufnahme von 1827 mit dem Kernoval (unten)

Direkt davor befand sich früher der Funkenhof, der Anfang Kamens als eines besiedelten Ortes. Hier stand die erste Burg der Grafen von der Mark, die auch diese Kirche bauen ließen, eine „ecclesia propria“ (= Eigenkirche; dafür hatte der Graf auch das Recht der Investitur: er ernannte die Priester), weil es wohl hohen Bedarf an Gottesdiensten und geistlicher Betreuung, aber keine ausreichenden kirchlichen Strukturen gab. Immerhin aber wurde eine Pfarrei in Kamen schon 1188 in einer Urkunde des Erzbistums Köln erwähnt. Natürlich war die Pauluskirche vor der Reformation einfach eine christliche Kirche – die Unterscheidung in katholisch und evangelisch kam ja erst nachher – und hieß St. Severinskirche. Dieser Name wurde von ca. 1130/35 bis in die 1590er Jahre verwendet. 

Abb. 3: Der heilige Severin (von Köln)

St. Severin ist der Schutzheilige Kölns, gestorben 397, sein Tag ist der 23. Oktober. Kamen gehörte bis 1821 zum Erzbistum Köln, seitdem zu Paderborn. Severin wurde als Schutzpatron gegen Hochwasser verehrt, was auch für Kamen äußerst passend war, herrschten doch hier oft Überschwemmungen. Nach ihm benannt, gibt es jedes Jahr im Herbst in Kamen die „Severinskirmes“.      

Die heutige Kirche ist die vierte an dieser Stelle: die erste war eine Holzkirche auf einer ehemaligen heidnischen Opferstätte. Sie stammte vermutlich aus der Zeit Karls des Großen, der nach der Zwangschristianisierung der Sachsen (Wendepunkte in diesem Prozeß waren: 723 die Fällung der Donareiche in Fritzlar/Nordhessen durch Bonifatius, 772 die Fällung der Irminsul, einer großen Säule in Obermarsberg, frühmittelalerliches Heiligtum der Sachsen, und die Taufe des Sachsenherzogs Widukind im Jahre 785) die alten Gaue in neue Kirchspiele ordnete, dabei aber die Grenzen unangetastet ließ, und auf alten heidnischen Opferplätzen christliche Kirchen errichten ließ, auch um zu zeigen, daß die heidnischen Götter durch den neuen christlichen Gott besiegt waren. 

Abb. 4: Der Romanische Maueransatz 

Die zweite, eine romanische Kirche stand bis 1376 – im Dachstuhl des Kirchenschiffs kann man den Dachansatz des romanischen Schiffs erkennen – ihr Turm steht noch heute. Im Jahre 1376 brannte diese, vermutlich einschiffige, romanische Hallenkirche ab. Und weil nun neu gebaut werden mußte und keine Kirche für die Gottesdienste zur Verfügung stand, gestattete der Kölner Erzbischof für vier Jahre die Benutzung von Tragaltären. 

Abb. 5: Die einzig erhaltene Abbildung des gotischen Kirchenschiffs

Abb. 6: Das gotische Kirchenschiff  (Skizze des Abrisses)

Da inzwischen die Gotik, deren neue Bauverfahren viel größere und leichtere Bauten mit großen Fenstern ermöglicht, auch nach Kamen gekommen war, wurde das alte durch ein neues, jetzt gotisches Kirchenschiff (= die dritte Kirche an dieser Stelle) ersetzt. Die Maße im Inneren: 44,50 m lang, 20,90 m breit, 14 m hoch. Der auffälligste Unterschied zum vorhergehenden Langhaus sind die durch die neue Bauweise möglich gewordenen großen Fenster und die Zwerchhäuser (gaubenähnliche Dachaufbauten) auf dem Dach, die in Nord-Südrichtung gebaut und daher recht windanfällig waren. Der Turm blieb stehen, er hatte wohl ursprünglich eine romanische, d.h., flachere Turmabdeckung. Weil der alte, romanische, Turmhelm nun für das neue Kirchenschiff viel zu klein war, die Proportionen nicht mehr stimmten, erhielt der Turm vor 1380 die noch heute erhaltene, gen Westen geneigte Turmhaube: so entstand unser „Schiefer Turm“, der heute als Wahrzeichen Kamens dient. Die Spitze ist zwei Meter aus dem Lot, bei 30 m Höhe des Helms!

Abb. 7: Beispiel eines  romanischen Helms: die Margaretenkirche in Methler, etwa zur gleichen Zeit wie der Pauluskirchturm erbaut

Die Legende will wissen, daß der Baumeister beim Bau unachtsam war und ihm der Turmhelm mißlang. Als er das bemerkte, habe er sich an einem Strick im Gebälk des Turmhelms aufgehängt. Eine weitere hübsche Anekdote ist: als der Brauch aufkam, in Weiß zu heiraten, fragte der Pastor eine Braut, ob sie denn auch noch Jungfrau sei, was diese bejahte. Da aber der Turm alles wußte, krümmte er sich aus Scham über die Lüge, nahm sich aber vor, sich wieder gerade aufzurichten, wenn einmal wieder eine in Weiß gekleidete Braut bei der Heirat Jungfrau sein sollte. 

Diese Neigung aber ist wohl gewollt: Wenn der Turmhelm einmal fallen sollte, würde er nicht auf das Schiff fallen. Zwei Annahmen stehen im Raum, die aber nicht widersprüchlich sind: Der Turm ist gegen die Hauptwetterseite, daher auch gegen die Hauptwindrichtung geneigt; Kirchtürme waren immer weit und breit die höchsten Gebäude, mit einem metallenen Kreuz, Hahn, einer Wetterfahne auf der Spitze, in die oft der Blitz einschlug. Brannte nun der Turm, konnte man auf diese Weise seine Fallrichtung bestimmen. Wie auch immer, wer einmal die höchst komplizierte Konstruktion des Dachgebälks gesehen hat, versteht unmittelbar, daß der Baumeister kein Stümper war, sondern ein Meister seines Fachs. 

Abb. 8: Der Dachstuhl des Turmhelms

Vor der damaligen Severinskirche befand sich Kamens frühester, d.h., eigentlicher öffentlicher Platz, der auch die Funktion eines Marktplatzes hatte, gleichzeitig aber, und vor allem, zur Demonstration kirchlicher Macht diente. Das ärgerte die Kamener, als sie das Stadtrecht erhielten – 1284 besaß Kamen ein eigenes Siegel,  bereits seit 1247 eine eigene Stadtmauer – setzten sie einen noch größeren Marktplatz vors Rathaus: Zeichen erwachenden Bürgerstolzes. Und unser Marktplatz ist ja selbst heute noch für eine Stadt wie Kamen richtig groß. (vgl. Abb. 2)

Die Größe des Kirchturms beweist Kamens Bedeutung im MA. Er war zu der Zeit von Kamens Anfang der bei weitem sicherste Ort der kleinen Siedlung. Bei Gefahr, z.B. durch marodierende Banden, floh man in den Turm, (daher auch die Redewendung „türmen gehen“, wenn man sich in Sicherheit bringen will), selbst Vieh wurde hineingetrieben, hinter diesen dicken Steinmauern konnte ihm nichts passieren. Anfangs wurden in diesem Turm alle wichtigen Dokumente aufbewahrt: Kirchenbücher, Verträge, Besitzurkunden, Nachweise über Bürgschaften u.a., aber auch das Wichtigste: das Saatgut für das kommende Jahr, das vor Mäusefraß und Feuchtigkeit geschützt werden mußte.

Abb. 9: Ein Treppengang in der romanischen Mauer 

Am Trinitatissonntag (28. Mai) 1553 war Hermann Hamelmann der erste, der die Lehre nach Luther verkündete. Der Pfarrer und Kamener Chronist Friedrich Pröbsting glaubte, daß Geldgier und Lotterleben der Pfarrer und die allgemeine sittliche Verrohung der Grund für den Zulauf zur Reformation gewesen seien: „Leider gab die Geistlichkeit oft ein böses Beispiel. So liegt eine Urkunde vor vom 11. Nov. 1536, durch welche das Nonnenkloster dem Vikar Wegener ein Wohnhaus für seine natürlichen Kinder überließ; desgl. ein Kontrakt vom 4. Dez. 1530, wonach derselbe Vikar für seine Kinder ein Scheffel* Land (Anm.: * in Kamen ca. 1700 qm (lt. Schütte): = die Fläche, die mit einem Scheffel Korn eingesät werden konnte, ist also auch vom Scheffel als Maßeinheit abhängig (in Hamburg ca. 4200 qm) kaufte. Auch bezeugt ein Urteil des Magistrats vom Jahre 1555, daß die beiden Vikare Gert Klotmann und Jürgen Crappe sich wegen grober Unsittlichkeit/Laster mit Geldstrafen abfinden mußten.“ Und sein Vorgänger als Stadtchronist, Friedrich Buschmann kommentiert: „Daß dergleichen Verhandlungen ungescheut und ungerügt gepflogen werden konnten, zeugt unverkennbar von einer beklagenswerten religiösen Gleichgültigkeit, und einem eingerissenen, sehr großen Sittenverderben.“ 

Abb. 10: Eine Grabplatte der Familie  von der Recke im Turmeingang

Der Droste von der Recke verwies Hamelmann auf Anweisung des Herzogs von Kleve, Nachfolger der ausgestorbenen Linie der Grafen von der Mark, der Stadt. Erst zwei Jahre später zog die Reformation ein, als die Pfarrer Johannes Buxtorf und Hermann Schomburg und der angesehene Kamener Bürger Johann Wagner den Durchbruch schafften, bis die Lehre nach Luther offiziell eingeführt wurde. Buschmann schreibt: „Allmählig ward der Marschall, Freiherr von Reck, auch für die gereinigte Lehre gewonnen, und trat im Jahre 1567 zu den Evangelischen über. Jetzt ermunterte er selbst die Prediger Buxtorf und Schomberg, die evangelische Lehre freudig auszubreiten, die Sacramente nach Christi Worten deutsch zu administriren und deutsche Lieder singen zu lassen.“ 

In den folgenden 60 Jahren gab es aber nur zwei normale Ernten, daher herrschte große Not. Frost und Schnee reichten bis weit ins Frühjahr hinein, setzten schon im Spätsommer erneut ein, die Sommer waren verregnet, Getreide und Gemüse verfaulten auf dem Feld, Menschen und Vieh verhungerten. In Unkenntnis der naturwissenschaftlichen Ursachen vermutete man als Ursache die Strafe Gottes für sündiges Leben und schloß sich der strengen Lehre Calvins an. So erhoffte man sich wieder Gottes Wohlgefallen und vermied, eine Hexe als Sündenbock zu verbrennen, was damals weit verbreitete Praxis war. 1589 kam der erste Reformierte Prediger, Heinrich Bock, nach Kamen. Die Reformierten entfernten alle 11 Seitenaltäre und auch den Namen des Hl. Severin. Ab jetzt hieß sie die Reformierte Kirche. Bis 1613 durften auch die Katholiken ihren Gottesdienst in ihr feiern, danach zerstritt man sich und die Katholiken hatten jetzt nur  noch das Klosterkirchlein gegenüber. Auch die wenigen verbliebenen Lutheraner – 1715 waren es nur noch 10 Familien – waren nunmehr heimatlos.

Abb. 11: Die Pauluskirche noch mit der Turmuhr von 1839 (vor 1920)

Um die Reformierte Kirche herum lag früher der Kirchplatz, auf einem Teil, dem Kirchhof, wurden auch die Toten bestattet, hier waren sie „näher bei Gott“. Dort fand man in den 1920er Jahren Überreste von Baumbeerdigungen, die aber leider, da man sie unsachgemäß behandelte – man maß ihnen damals keinen Wert bei – zu Staub zerfielen. Selbst noch in den 1950er Jahren, als der Grund für die Verlegung der Kanalisation aufgerissen wurde, fand man dort menschliche Knochen.

Über einen Eintrag im ältesten Kirchenbuch Kamens ist noch zu berichten: unter dem 17. Dez. 1624 steht eingetragen: „Spring ins Felt des Soldaten Söhnlein ist Hanß Jürgen genanndt“. Hierbei handelt es sich offenbar um den Sohn des Titelhelden des Romans „Der seltzame Springinsfeld“ von Hans Christoffel von Grimmelshausen, des bekannten Romanautors aus dem Dreißigjährigen Kriege. Dieser ist also keine Romanerfindung, sondern war als Soldat in Kamen. Er war zunächst brandenburgischer Soldat, d.h., protestantisch, was durch die Kirchenanmeldung belegt ist, später kaiserlicher Soldat also katholisch – man verdingte sich als Landsknecht eben dort, wo es zuverlässig am meisten Geld zu verdienen gab, und dieser Verdienst bestand oft genug in Plündereien, daher war es ratsam, sich dem Sieger anzuschließen, dann konnte man öfter plündern – und daran beteiligt, Dortmund, Hamm, Unna und Kamen einzunehmen. Als „Jäger von Soest“ führte er hier viele Raubzüge aus.

Abb. 12: Hans Jakob Christoffel von  Grimmelshausen 

Abb. 13: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch (1669)

Sowohl die romanische wie die gotische Kirche wurden gebaut, als Kamen auf dem Höhepunkt seiner Größe stand, die zweitwichtigste Stadt der Grafschaft Mark war, nach Hamm, der Residenz der Grafen. Spenden kamen von bedeutenden und reichen Kamener Hansekaufleuten aus Lübeck und Bergen. Doch mit dem Niedergang Kamens – durch Brände, Epidemien, Veränderung der Handelswege: nach der Entdeckung Amerikas von der Ostsee weg hin zum Atlantik verlor die Hanse an Bedeutung – wurde die finanzielle Last, die eine solche Kirche immer bedeutete, zu hoch.

Zu Beginn des 18. Jh. wurde eine preußische Garnison nach Hamm verlegt, eine Abteilung nach Kamen, alles Lutheraner, die die wenigen verbliebenen Kamener lutherischen Familien verstärkten, so daß es 1714 zur Gründung einer lutherischen Gemeinde kam und 1744 zur Einweihung der Lutherkirche als preußische Straßenkirche, fortan die „kleine evangelische Gemeinde“. 

Abb. 14: Die Lutherkirche 

Im Zuge der napoleonischen Kriege, 1796, wurde die Kirche als Korn- und Materiallager benutzt. Die französischen Soldaten trieben ihre Pferde hinein, raubten das silberne Abendmahlgerät und richteten in der ganzen Kirche großen Schaden an. Bis zu dieser Zeit war der Turmhelm mit Blei gedeckt, doch Blei war wertvoll, es konnte zu Munition u.a. verarbeitet werden. 1795 wurde es durch den billigeren Schiefer ersetzt, der 200 Jahre lang das Bild des Turms weithin prägte. Erst 1995 erhielt das Dach wieder seine Originalbedeckung, Blei, und zwar 32.600 kg! Seither schimmert er wieder mattsilbrig und vermittelt, zusammen mit der neuen Messingkugel auf der Spitze, den würdevollen Eindruck, der in einem Gedicht über „De scheiwe Turm von Camen“ zum Ausdruck kommt (vgl.a.Artikel „Kamen im Gedicht“ unter www.kulturkreiskamen.de)

Schon 1817 gab es die erste Anordnung einer Kirchenunion vom König in Preußen (seit 1815 gehörte Kamen zur Preußischen Provinz Westfalen). 1824 treten die beiden Kamener evangelischen Gemeinden der Preußischen Union bei und heißen nur noch die größere und die kleinere evangelische Gemeinde bzw. Kirche. Allerdings änderte das kaum etwas am kirchlichen Alltag in Kamen, man war und blieb getrennt.

1841 wurden so starke Veränderungen am Mauerwerk, an den Säulen und in einigen Gewölben sichtbar, daß ein Gutachten des Wegebaumeisters Hassenkamp aus Unna und des Kirchenbaumeisters Kriesche aus Hamm feststellte, „daß der Zustand der Kirche in verschiedenen Teilen wirklich recht baufällig und gefährlich erscheint.“ Sofortige Maßnahmen wurden für unbedingt erforderlich gehalten. 

Im selben Jahr erstellte Bauinspektor Buchholz aus Soest zusammen mit Hassenkamp einen  Zustandsbericht: „Alle Mauern sind nach außen gewichen, die Säulen haben sich nach außen geneigt und stehen durch Schwerpunktsverlagerung kurz vor dem Verlust ihrer Standfestigkeit. Die Gewölbe aus Ziegelsteinen sind voller Risse und hängen teilweise nur noch an Verankerungsbalken der Dachkonstruktion.“ Die Kirche wurde sofort geschlossen. Am 28. November 1841 fand der letze Gottesdienst in der gotischen Kirche „im Vertrauen auf den Schutz des Herrn“ statt. 

Jetzt zahlte es sich doch noch aus, daß die beiden evangelischen Kamener Kirchen seit 1824 durch die Union locker miteinander verbunden waren, konnte jetzt sonntäglicher Gottesdienst in der, allerdings viel zu kleinen, Lutherkirche abgehalten werden. Allerdings gab es immer wieder Probleme wegen der geringen Zahl an Sitzplätzen. So blieb die weiter entfernt wohnende Landbevölkerung häufiger den Gottesdiensten fern, weil man sehr früh aufzustehen hatte, den Weg hin und zurück zu Fuß zu machen – die größere Gemeinde umfaßte damals Camen, Bergcamen, Overberge, Lerche, Rottum, Derne und Südcamen – und obendrein in der Kirche noch zu stehen hatte. Zu der Zeit hatte Kamen 2772 „Seelen“.

Die Kirchengemeinde hatte das Geld für die Reparatur nicht, fungierten Kirchen doch zu damaliger Zeit auch als Sozialämter und kümmerten sich um die Armen. Die Stadt bzw. die Bürgerschaft hatte große Schwierigkeiten, das Geld für die Instandsetzung aufzutreiben. Zumindest das Geld für den Abbruch trieb man auf, indem man alles Material, Steine und. dergl., und die Einrichtung gut verkaufte. Derweil verarmten die Menschen, weil wieder einmal Mißernten und die Kartoffelfäule Nahrung knapp und teuer werden ließen. Gleichzeitig wurde die Köln-Mindener Eisenbahn gebaut, auch das wieder ein Glücksfall, hatten doch viele Menschen dadurch Arbeit und ein regelmäßiges Einkommen, so daß auch Spenden viel reichlicher flossen, als zu erwarten gewesen war. Allerdings reichte alles Geld nicht für den Putz der Außenwände. Der wurde erst 1986 nachgeholt, der Anstrich gar erst 2013/14.

Abb. 15: Grundriß und Aufriß der klassizistischen Kirche

Die Grundsteinlegung war am 26. August 1845. Am 22. März 1849 wurde sie feierlich eingeweiht, wurde der klassizistische Neubau (die vierte Kirche) als Saalkirche fertiggestellt und eingeweiht. Kosten: 16.200 Taler. Die Westwand besteht immer noch aus den alten Sandsteinen, das restliche Mauerwerk dieses Neubaus besteht aus 340.000 Ziegeln (Feldbrand), die im Mersch „vor dem Ostentor in der Nähe der Seseke“ gebrannt wurden und und mit einer extra dafür gebauten Kleinbahn zur Baustelle gebracht wurden. Dieser Raum wurde gegenüber der gotischen Kirche deutlich verkleinert und innerhalb ihrer Grundmauern errichtet, auf dem Schutt der abgerissenen Kirche, der sich als nicht sehr standfest erwies, so daß bei den umfassenden Restaurierungsarbeiten zwischen 1978 und 1982 die Säulen sich als nicht mehr tragfähig erwiesen und auf den gewachsenen Boden als neues Fundament gestellt werden mußten. Jeder Kirchgänger und Besucher kann den Höhenunterschied an den drei Stufen erkennen, die er vom Turm aus zum Chorraum hinauf- und beim Betreten des Turmaufgangs wieder hinabsteigen muß. 

Zur Originalausstattung dieser Kirche gehörte auch ein 2 m x 2,85 m großes Altarbild von Christian Zucchi (1811 – 1889), das über dem Altar aufgehängt wurde. Es stellt die „Tröstung des Heilands am Ölberge“ dar. Zucchi war ein aus Mainz stammender Maler, der die Tochter des damals bekannten Kamener Gastwirtes Grevel, später Bergheim, heiratete. Diese Tochter soll auch das Modell für den Engel abgegeben haben. Zucchis Lohn waren 200 Taler, eine erhebliche Summe. Die Familie Grevel beförderte das Gemäldeprojekt durch eine größere Geldspende. (zu Zucchi vgl.a. den Artikel über Christian Zucchi unter www.kulturkreiskamen.de)

Abb. 16: Das große Altargemälde von Christian Zucchi

Abb. 17: Blick in den Innenraum in den 1950er Jahren

Nach dem Eröffnungsgottesdienst hieß es in einer Klage von 10 Kamener Bürgern an den „ehrwürdigen Kirchenvorstand“: „Durch die Klagen unserer Frauen und Töchter veranlaßt, teilen wir mit, daß die Kirchensitze der südlichen Seite unserer neuen Kirche, welche für Frauen bestimmt sind, einen so schlechten Anstrich erhielten, daß unsere Frauen und Töchter bei jedesmaligem Kirchgang ein Kleidungsstück durch nie trocken werdende Ölfarbe verderben. Der Anstrich klebt dermaßen an den Kleidern, daß sogar schon Stücke von Seidenzeug beim Aufstehen an den Bänken hängen geblieben sein sollen.“

Neben der Komik dieser Klage wird hier noch eine interessante Einzelheit deutlich: die Frauen saßen von den Männern getrennt, hier auf der Südseite, die auch die Evangelienseite hieß, die Männer auf der Nordseite, die auch Epistelseite hieß.

Wie sehr die Kirche den Kamenern ans Herz gewachsen war, wie sehr diese sich immer wieder mit ihr beschäftigten, wie teuer sie ihnen war, erinnert Buschmann sich: „Was die kirchlichen Gebäude betrifft, so ist aus dieser Zeit na­mentlich zu melden, daß im Jahre 1892 eine große Reparatur an der Kirche u. an dem alten Thurm vollzogen worden ist, was einen Ko­stenaufwand von ca. 16 000 M verursacht hat. Zuerst wurde der Thurm und das Kirchendach ganz neu beschiefert; dann wurde der alte schadhafte Kalkbezug des Thurmes abgestoßen u. das ganze Mau­erwerk des Thurmes mit Cement überzogen. Hierbei wurden die alten romanischen Formen in Cement wiederhergestellt, u. namentlich die alten Verzierungen in den Schalllöchern erneuert. Der Sockel der Kirche wurde cementiert, ebenso das Gesimse, u. im Innern wurde die Kirche neu in Holzfarbe gestrichen und die Wände farbig ge­tüncht.

Damals stand die Kanzel rechts und viel höher. Erst durch den Einbau der neuen, niedrigeren hölzernen Decke von 1897 mußte die Kanzel gekürzt werden. Diese hölzerne Decke ist ein besonderes Kunstwerk, von höchster handwerklicher Qualität und mit motivreicher Farbgestaltung, von zwei Kamener Handwerkern nach dem Entwurf des Architekten Fischer aus Barmen hergestellt, dem Schreiner E. Starke und dem Maler J. Edelmann. Daß es überhaupt zu dieser neuen Decke kam, lag an folgendem Ereignis: „im Jahre 1897  ereignete es sich eines Ta­ges während einer Taufhandlung, daß ein schweres Stück Mörtel von der mit Spalierlatten u. Kalkmörtel angefertigten Decke der Kirche herabfiel“, zum Glück aber niemanden verletzte. Und das bei einer Kirche, die, vollbesetzt, 950 Leute faßte!

Abb. 18: Die Kassettendecke (Ausschnitt)

Am Ende des Ersten Weltkrieges, im Jahre 1919, wurde das Kirchenwesen in Deutschland grundsätzlich neu geregelt und das heute noch gültige Prinzip der Kirchensteuer eingeführt. Im folgenden Jahr entstand auch in Kamen durch die Union der „größeren evangelischen Kirche“, der Reformierten Gemeinde, mit der „kleineren evangelischen Kirche“, der lutherischen Gemeinde, eine unierte Kirchengemeinde. Man einigte sich darauf, die große Kirche von nun an gemeinsam zu nutzen und gab ihr zum 1. Mai 1920, vor 100 Jahren, den Namen „Pauluskirche“. Das war der Kompromißname zwischen Lutheranern und Reformierten, die keinen Heiligennamen wollten: Paulus ist ein Apostel.

Die älteste Glocke der Pauluskirche hängt außen am Turmhelm und war wohl ursprünglich eine Uhrglocke. Sie soll 1343 bei einem Raubzug des damaligen Grafen von der Mark und seinem Arnsberger Kollegen in Menden erbeutet worden sein. Sie überlebte die Jahrhunderte wohl vor allem deshalb, weil sie an so unzugänglicher Stellen hing. Sie trägt die Inschrift: „Jesus is dei Name myn, tho gade deinste ich bereit sin Ao XV(c)XXXVII“ (1537), was vermutlich auf einen Umguß hindeutet.  

Abb. 19: Die älteste Glocke außen am Turmhelm

1917 wurden zwei der drei Bronzeglocken aus dem 17. Jh. im Rahmen der kaiserlichen patriotischen Aktion „Gold gab ich für Eisen“ für die Kriegsfinanzierung requiriert und zwei von ihnen eingeschmolzen. Die dritte entkam diesem Schicksal, weil der Krieg inzwischen zu Ende war. Sie wurde verkauft, u.a. mit diesem Geld ließ man drei neue Stahlglocken in Apolda in Thüringen gießen. Die größte Glocke ist dem Namengeber der Pauluskirche gewidmet, dem Apostel Paulus. Sie hat einen Durchmesser von 1,95 m und ein Gewicht von 3.275 kg. Ihre Inschrift: „Hart wie Stahl ist unsere Zeit, unsagbar schwer des Volkes Leid. Gott schenke uns deine Barmherzigkeit. 1922. 

Abb. 20:  Die Paulusglocke

Die zweite Glocke heißt Glückaufglocke, ein Dank an die Kamener Bergleute, die halfen, die schweren neuen Glocken im Mai 1922 in den Turm hinaufzuziehen und aufzuhängen. Sie hat einen Durchmesser von 1,67 m und ein Gewicht von 2.044 kg. Ihre Inschrift: „Geopfert für des Vaterlandes Wehr 1917. Erneuert zu Gottes Ehr 1922.“

Die dritte Glocke heißt Johannesglocke, hat einen Durchmesser von 1,47 m und ein Gewicht von 1.253 kg. Ihre Inschrift: „O Land, Land, höre des Herr Wort. 1922.“

1928-30 wurde der Turm umfassend restauriert und wieder in seinen Originalzustand versetzt.

Im Zweiten Weltkrieg, am 25. Februar 1945, fielen zwei Bomben auf die Südwestecke des Turmes, prallten zwar ab, richteten dennoch erheblichen Schaden am Dachstuhl des Turmhelms an. Dabei wurden die 1906 gefertigten Chorfenster mit ihrer figürlichen Verglasung zerstört. Die Bomben beschädigten gleichzeitig das im Oktober 1927 dicht vor dem Turm aufgestellte „Löwendenkmal“ zum Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs; es wurde 1946 abgerissen. Die Beseitigung der Kriegsschäden dauerte bis 1953. 

1945 wurde die Turmuhr ausgebaut, die die Stadt der Kirchengemeinde 1893 geschenkt hatte. Leider konnte sie nicht mehr repariert werden, im Innenraum der Kirche ist sie heute ausgestellt.

Abb. 21: Der Turm mit den Kriegsschäden

Der Düsseldorfer Kunstmaler und Restaurator Puttfarken gestaltet die neuen Chorfenster, die die Gemeinde wegen ihrer Farbenpracht und Detailfülle erfreuten, solange ein Kreuz über dem Altar hing.

Abb. 22: Das Altarkreuz, das jahrzehntelang den Blick auf die Chorfenster ermöglichte

Im Zuge der Innenraumrestaurierung zwischen 1978 und 1982 wurde aber, verfügt durch das Landesdenkmalamt in Münster, das Altarbild von Christian Zucchi wieder über dem Altar aufgehängt, das 1906, weil es die schönen Chorfenster verdeckte, auf die südliche Empore verbannt worden war. Leider verdeckt es heute die zwei unteren Teile des mittleren Fensters. (vgl. Abb. 16)

Abb. 23: Blick in den Innenraum im Jahre 2020

Abb. 24: Christi Geburt; eins der neun Motive der Chorfenster von Puttfarken

Die Motive der Fenster Puttfarkens zeigen Szenen aus dem Neuen Testament und zeigen von links nach rechts
(Blickrichtung zum Altar): 

Linkes Fenster oben: Geburt Christi (Lukas 2, 1-20; Mitte: Taufe Christi (Markus 1,9-11; unten: Versuchung Christi (Matthäus 4,1-11

Mittleres Fenster oben: „Auge Gottes“, Symbol der Dreieinigkeit; Mitte: Christus der Auferstandene, der Erlöser; untern: Symbole des Abendmahles: Ähren, Trauben, Kelch

Rechtes Fenster oben: Petrus ruft: „Herr, hilf mir!“ (Matthäus 14,27-29); Mitte: Heilung der beiden Blinden (Matthäus 9, 27-30; unten: Kreuztragung (Johannes 19, 17)

Der Turm ist, wie alle alten Kirchen, eine ewige Baustelle (haben Sie den Kölner Dom schon einmal ohne Baugerüst gesehen?). Restaurierungen hat es in den Jahren 1821, 1864 (erster Blitzableiter), 1890/92, 1928/29, 1953 und 1995 gegeben. So gibt es einen Bericht des Kirchenvorstandes vom Januar 1820 an den Bürgermeister, in dem es heißt, „daß die notwendige Reparatur des Kirchturmes, der in der Höhe stark ausgewichen und dergestalt beschädigt ist, daß bereits einige sehr schwere Steine, mit großer Gefahr für die Vorbeigehenden heruntergefallen sind.“ Woraufhin der Turm mit Kalkmörtel „berappt“ (verputzt) wurde.

1973 begann die Restaurierung des Dachstuhls, der Dachhaut, Dachrinnen, ein moderner Blitzableiter wurde eingebaut. Und ein paar Jahre später, zwischen 1978 und 1982, wurde die ganz große Sanierung der Kirche in Angriff genommen, der gesamte Innenraum wurde auf den Zustand von 1897 zurückgeführt. Es wurde ein neues Fundament gelegt, gleichzeitig eine Fußbodenheizung eingebaut; es wurde die Kassettendecke von 1897 wieder hergestellt und das Altarbild von Christian Zucchi wieder an seinem ursprünglichen Platz über dem Altar aufgehängt; die Wände wurden farblich neu gestaltet, die Fenster (außer Chor) von Wilhelm Buschulte (1923 – 2013) aus Unna erneuert, die unaufdringlich eine angenehme Helligkeit zulassen; die beim Einbau des Fußbodenheizungen

Abb. 25: Die Fenster im Langhaus von Wilhelm Buschulte 

gefundenen Grabplatten der von der Reckes an den Wänden des Turmeingangs wie auch des Innenraums angebracht (vgl. Abb. 10); die Reckes waren eine der bedeutendsten Familien in unserer Gegend, deren Stammsitz Haus Reck in Lerche war. Jahrhundertelang hatte sie das Drostenamt (ein hohes Hofamt, später oft erblich) in Kamen und Unna inne; der Altar, die Kanzel und das Taufbecken von 1848/49, dem Jahr der Einweihung, blieben erhalten, doch wanderte die Kanzel zur nördlichen Chorarkade, ihre Standsäule wurde, den neuen Höhenverhältnissen angepaßt, verkürzt; am 26.9.1982 wurde die neue Orgel der Fa. Führer aus Wilhelmshaven eingebaut, sie hat 37 klingende Register, drei Manuale und ein Pedal;

Abb. 26: Die Führer-Orgel

1986 bekam die Pauluskirche auch ein Kunstwerk für ihren Außenbereich: das „Steinzeichen“ aus Baumberger Sandstein von Werner Ratering (1954 – 2017), eine mit dem Preßlufthammer vor Ort hergestellte überlebensgroße Figur, die an einen Pfarrer im Talar erinnert. Die Figur wendet sich von der Kirche aus an die Welt und verkündet die christliche Botschaft.

Abb. 27: „Steinzeichen” von Werner Ratering

Und schließlich wurde 2014 das 1986 endlich verputzte Kirchenschiff auch noch gestrichen. Heute bietet sich Kamens ältestes Bauwerk, sein Wahrzeichen, in denkmalwürdigem Zustand, doch zeichnet  sich klar ab, daß weitere Maßnahmen notwendig sein werden. Die im Jahre 2007 aufgebrachte schützende Kunststoffhaut zeigt deutliche Wasserschäden, es wurde eben vor 900 Jahren keine Feuchtigkeitssperre eingebaut. Und im Frühjahr 2020 mußte im Gebälk des Turmhelms der Holzwurm mit den Namen „Totenuhr” bzw. „Bunter Pochkäfer”bekämpft werden.  Die lange Geschichte der Turmreparaturen ist noch lange nicht zu Ende, wird nie zu Ende sein. Hoffentlich.

Abb. 28: Endlich gestrichen: das Langhaus

Spenden für den Erhalt des Turmes können auf Konto DE55 4435 0060 1800 0070 70  eingezahlt werden.

Fachbegriffe:

Droste = Verwalter einer Drostei: eines landesherrlichen Territorialamtes (auch: Truchseß = eines der vier klassischen Hofämter, eine Art Quartiermeister, da Landesherren damals viel auf Reisen waren, oberster Aufseher über die fürstliche Tafel; die anderen Hofämter: Schenk, Marschall, Kämmerer;)

Kirche ← ahd kiriha/kiliha ← griech kyriakós = zum Herrn gehörig (kyrios = Herr)

Eigenkirche = ecclesia propria: von einem Laien, meist aus dem Adel des Frankenreiches auf privatem Grund errichtete Kirche. Der Grundherr hatte das Recht der Investitur, ohne Einspruchsrecht des Bischofs

Hallenkirche: Schiffe von annähernd gleicher Höhe unter einem gemeinsamen Satteldach, Säulen im Innenbereich tragen nur Lasten, nicht das Gebäude

Saalkirche: einschiffiges Kirchengebäude

Zentralbau: die Hauptachsen sind gleich lang

Basilika (griech. Königshalle): ursprünglicher Name für ein großes, zu Gerichtssitzungen/Handelsgeschäften bestimmtes Gebäude; heute in der Regel romanische Basiliken; auch: Bau von eminenter Bedeutung

Literatur: 

Buschmann, Friedrich, Geschichte der Stadt Camen, Camen, 1841

Buschmann, Friedrich und Pröbsting, Friedrich, „Fortsetzung der Chronik über die Stadt und das Kirchspiel Camen“, o.O., 1899

Kistner, Hans-Jürgen, Ein seltsamer Springinsfeld, Grimmelshausen und seine Bedeutung für Kamen, Kamen o.J.

Pröbsting, Friedrich, Geschichte der Stadt Camen und der Kirchspielsgemeinden von Camen, Hamm, 1901

Simon, Theo / Franik, Leonhard, Die Pfarrkirche Hl. Familie in Kamen, Paderborn, 2002

Wieschhoff, Wilhelm und Finger, R., Die Baugeschichte der Pauluskirche (ursprünglich St. Severinskirche), Kamen, 1982, in: Festschrift zur Wiedereröffnung der Pauluskirche in Kamen

Wieschhoff, Wilhelm, Von der Severinskirche zur Pauluskirche, Abbruch und Neubau der größeren evangelischen Gemeinde zu Camen (ehemals St. Severin) in den Jahren 1841 bis 1849, Kamen 1998

KH

Bildquellen: Abb. 1, 4, 8, 9, 10, 18, 19, 20, 22, 23, 25, 26, 27, 28: Photos Klaus Holzer; Abb. 2: Heinz Stoob, Westfälischer Städtetatlas, Nr. 10, Dortmund 1975; Abb. 3, 12, 13: Wikipedia; Abb. 5, 17 21: Stadtarchiv; Abb. 6 & 15: Wilhelm Wieschhoff; Abb. 7: Original Ev.-luth. Kirchengemeinde Methler, Ausschnitt von KH; Abb. 11 & 14: Archiv Klaus Holzer; Abb. 16: Stefan Milk; Abb. 24: Ev. Kirchengemeinde Kamen

Klosterstraße & Schwesterngang

von Klaus Holzer

Am Kirchplatz stoßen diese beiden Straßen zusammen, und auf den ersten Blick ist erkennbar, was für einen Hintergrund diese Namengebung hat. Schwestern und Kloster – hier hat mal eines gestanden. Auch wenn das vielleicht gar nicht so klar ist, wie es den Anschein hat, denn eigentlich war es ein Beghinenhaus, aus dem später ein Kloster wurde. Für die Kamener war es immer das „Kloster“. Und so ist die Geschichte dieser beiden Straßennamen auch die Geschichte des „Klosters“.

Gegenüber der Pauluskirche, die ja vorreformatorisch einfach eine christliche Kirche, St. Severin, war, wurde schon zu Beginn des 15. Jh. ein Frauenkonvent1 gegründet, und zwar ursprünglich als ein Beghinenhaus. Dieser Konvent war kein Nonnenkloster, da die Frauen nicht in Klausur lebten, sondern einer außerhäuslichen Tätigkeit nachgingen. In städtischen Dokumenten ist von dem „Süsterhaus“ (= Schwesternhaus) auf der Vlotowe, Vlotauwe oder Marienove (Flußaue bzw. Marienaue) die Rede, d.h., das Haus lag nahe dem Flußufer. Es wird in einer Urkunde vom 14. Oktober 1411 zum ersten Mal erwähnt. Das waren „Jungfrauen und Witwen“ aus der Bürgerschaft Kamens, d.h., sie entstammten Kamener Bürger- und Burgmannenfamilien und wollten ein christliches Leben leben, jedoch ohne Klostergelübde. Sie legten ein Gelübde auf Zeit ab, das wohl jedes Jahr erneuert wurde. Es war ihnen gestattet, aus der Gemeinschaft wieder auszuscheiden und sich ein bürgerliches Leben aufzubauen.

Abb. 1: Die Pauluskirche, vom Schwesterngang aus gesehen (die Arkaden wurden um 1930 gebaut und in den 1960er Jahren abgerissen)

Die Bewegung der Beghinen stammt vom Beginn des 12. Jh. (der Name wird erst ab dem 15. Jh. von ihnen selbst gebraucht, sonst „Schwestern/Brüder/Brüdergemeinden“, „Waldenser“) in den Niederlanden, heute Belgien und Holland, und kam im Laufe des späten 13. Jh. nach Deutschland. Ursprünglich handelte es sich um religiöse Arbeits- und Lebensgemeinschaften, Brüder- (die nannten sich Begharden) und Schwesternhäuser, in denen arme und alte Personen unentgeltlich Wohnung, Heizung und Licht erhielten. Sie widmeten sich dem Gebet, aber auch der tätigen Nächstenliebe. Diese Stifte hatten große Ähnlichkeit mit den heutigen evangelischen Frauenstiften/Diakonissenhäusern.

Beghinenhäuser nahmen vor allem Witwen, Waisen, Frauen aus Arbeiter-, Handwerker- oder einfacheren Kaufmannsfamilien und dem niederen Adel auf. Soweit sie konnten, verdienten Beghinen sich ihren Lebensunterhalt durch alle möglichen Handarbeiten, Krankenpflege, Leichenwäsche und sonstige Tätigkeiten wie Waschen und Nähen. Sie übernahmen mit ihrer karitativen Tätigkeit Aufgaben – den Sozialstaat gab es noch nicht –, die sonst Klöster und die Kirche ausübten, ihnen fehlte aber der klösterliche Charakter und daher standen ihnen auch nicht deren Immunitätsprivilegien zu, d.h. ohne den Schutz, den die Kirche Klöstern gewährte.

Sie konnten aus dem Konvent wieder austreten und z.B. heiraten, während „richtige“ Nonnen „mit Jesus verheiratet“ waren, und das ein Leben lang, durch ein „ewiges Gelübde“ gebunden. Wirtschaftlich wurden die Beghinen sehr erfolgreich, was oft auf den Unwillen und Widerstand der örtlichen Handwerker traf, denen eine echte Konkurrenz erwuchs. Der Erfolg machte auch selbständig und selbstbewußt, was zusätzlich den Neid anderer erweckte. Und was machte man um diese Zeit in einer solchen Situation? Man warf diesen Frauen einen ketzerischen und unmoralischen Lebenswandel vor, vor allem, weil sie sich organisatorisch nicht von der römischen Kirche abhängig machten. Auf dem Vierten Laterankonzil 1215 wurde festgelegt, daß neue geistliche Gemeinschaften grundsätzlich nur nach bereits bestehenden Ordensregeln leben durften.

Seit 1311 erfolgten Maßnahmen, die man als Unterdrückung, aber auch als seelsorgerisches Verhalten verstehen konnte, war doch auch ein Motiv päpstlichen Handelns, diese Gemeinschaften nicht in Häresie2 abgleiten zu lassen. Am 7. März 1319 erließ Papst Johannes XXII. eine Bulle, die denen, die die 3. Regel des Hl. Franziskus annehmen wollten, Gnade zusicherte. 

Am 12. Februar 1453 wurden alle damals noch bestehenden Konvente wieder in die Kirche aufgenommen und ihnen die Rechte der Tertiarierinnen3 verliehen. Es war Kunne Hake, Oberin des Hauses in Kamen, die am 22. 9. 1470 (andere Quellen nennen den 4. Oktober 1470) die dritte Regel annahm, die für Laien galt, (die erste galt den Klosterbrüdern, den Mönchen, ursprünglich nach Franz von Assisi Minoriten genannt, die ihr Leben Gott weihten; die zweite den Nonnen, die „mit Christus verheiratet“ waren), wodurch das Beghinenhaus in ein Tertiarierinnenkloster umgewandelt wurde. Insgesamt gewannen durch diesen Akt Frauen– und Laienfrömmigkeit an Gewicht.

Daraufhin erhielten sie den Schutz von Johann I., Herzog von Kleve und Graf von der Mark (seit 1417 gehörte Kamen zu Kleve, Mark und Kleve gehörten schon seit 1391 zusammen), der sie gleichzeitig von Steuern und Landesdiensten befreite. Die Beghinen konnten im großen und ganzen so weitermachen, ihr weltliches mit einem religiösen Leben verbinden, mußten aber städtische Auflagen akzeptieren. Offenkundig waren bei dieser Angelegenheit wirtschaftliche Aspekte entscheidend. Z.B. wurde die Zahl der Schwestern auf 12 begrenzt, von denen 6 aus Kamen stammen mußten; behielt die Stadt die Hälfte des Vermögens, das jede neue Schwester ins Stift einbrachte, für sich ein, übernahm aber dafür die bauliche Unterhaltung des Klostergebäudes; verlangte Anteile an den Pfründen des Konvents; erlaubte später nur noch die Aufnahme von Kamener Frauen in den Konvent und bekam Mitspracherecht darüber eingeräumt wie auch bei der dauerhaften Aufnahme nach dem Noviziat4. So wurde der Konvent klein und unbedeutend gehalten. Bei allen Konflikten zwischen Stadt und Konvent setzte sich die Stadt durch.

Abb. 2: Katharina von der Mark

Bürgermeister und Rat der Stadt Kamen hatten auf Wunsch des Landesherrn 1473 die Einrichtung des Klosters „zur Ehre Gottes, aller Heiligen und besonders des hl. Franzikus und zum Schutze der Stadt“ genehmigt.

Seit 1470 wohnte Katharina, eine natürliche (= uneheliche) Schwester Herzogs Johann I. im Beghinenhaus. Sie besaß ein beträchtliches Vermögen, das sie für den Bau eines neuen Klosterhauses und einer Kapelle stiftete. Am 22.11.1475 wurde dieses Kirchlein feierlich eingeweiht. Dazu schreibt der Kamener Stadtchronist Friedrich Pröbsting: „Gott in seiner Mutter unter dem Geheimnis des Mitleidens in ihrer Seele zu ehren.“ Natürlich war wieder Anröchter Sandstein das Baumaterial. 1479 bekamen die Schwestern einen eigenen Geistlichen, ab 1481 erhielten sie ihren eigenen Kirchhof. Statt des eigenen Geistlichen, der ja auch hätte unterhalten werden müssen, ließen die Schwestern die geistlichen Handlungen jedoch durch einen der vielen Kamener Vikare vornehmen, bis 1622 im reformierten Kamen der letzte katholische Vikar an der Pest starb. Danach wurde das Stift vom Franziskanerkloster in Hamm geistlich betreut. Die Conventualinnen  sahen sich „genöthigt, zur Besorgung ihrer geistlichen Bedürfnisse jedesmal, in der dritten und vierten Woche, einen Geistlichen aus dem Franciscanerkloster zu Hamm, welches dafür jährlich ein kleines Geschenk an Korn erhielt, kommen zu lassen“. (Essellen)

Abb. 3: Lageplan des Klosters (Erläuterungen am Ende)

Eine besonders schwere Zeit hatte das Stift in der Zeit der Reformation zu bestehen, da fast alle Kamener Bürger sich nach 1553 dem lutherischen, ab etwa 1590 dem Reformierten Glauben zuwandten. So wurde der kleine Konvent zu einer „katholischen Insel inmitten eines protestantischen Meeres“ (Pröbsting). Die St. Severinskirche wurde protestantisch, die kleine Konventskirche zur einzigen katholischen Kirche.

Es kam zu einer Reihe weiterer, auch gerichtlicher Auseinandersetzungen zwischen Stadt und Konvent, Kamener Bürger belegten die Pfründen des Konvents und zahlten keine Pacht mehr an ihn. Doch der Konvent hielt durch. Später wurde sein Kirchlein katholische Pfarrkirche, der Konvent selber zur Keimzelle der heutigen katholischen Kirchengemeinde.

Das Ende begann 1803. Das Kloster (so wurde das Stift nun allgemein genannt) wurde am 4.7.1818 endgültig geschlossen, nachdem nach dem Reichsdeputationshauptschluß vom 25.2.1803 beim Reichtstag in Regensburg  durch Säkularisation4  (das war die letzte große Entscheidung durch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation) alle Kloster- und Kirchenvermögen durch den preußischen Staat eingezogen worden waren, man noch die Drangsalierung durch die französischen Besatzungstruppen (Napoleon) überstanden hatte. Teile Deutschlands wurden nach den napoleonischen Kriegen zunächst französisch, damit deutsches Territorium enteignet. Als Entschädigung dafür bekamen die deutschen Fürsten, deren Territorien beschnitten worden waren, Kompensation aus Kloster- und Kirchenvermögen. Auch das Kamener Kloster wurde enteignet, alle Landgüter konfisziert. Die Gebäude wurden von der neu etablierten katholischen Kirchengemeinde6 übernommen. Buschmann schreibt hierzu: „Des Königs Majestät geruhte allergnädigst, der neuen Gemeinde das sämmtliche noch vorhandene Klostergut, bestehend in den Gebäuden, dem Klostergarten, 2 anderen Gärten, einem Weidekamp, 161 Scheffeln Ackerland, 20 Morgen Waldung, 13 Thlrn. jährlicher Renten und 460 Thlrn. in Kapitalien, worauf im Ganzen an Schulden 330 Thlr. lasteten, zu schenken.“ Das reine Vermögen wurde auf „13415 Thaler und 55 Stüber“ (Pröbsting) taxiert.

Das Klosterkirchlein wurde 1841 wegen Baufälligkeit geschlossen, sein Nachfolger erst am Weihnachtstage 1848 mit einem feierlichen Gottesdienst geweiht. Doch war ihm kein langes Leben beschieden. Erste Bauschäden zeigten sich schon während des Baus, bald entstanden Risse in den Mauern, und durch den Bergbau wuchs die katholische Gemeinde unaufhörlich. Nachdem 1902 die neue, große Kirche Hl. Familie konsekriert worden war, dämmerte das Klosterkirchlein noch ein paar Jahre vor sich hin, wurde 1907 abgerissen.

Abb. 4: Die Pfarrkirche von Osten: das Klosterkirchlein von 1848

Und daher erinnern heute nur noch die Namen dieser beiden Straßen an die jahrhundertelange Geschichte des Kamener Klosters.

Abb. 5: Straßenschild Schwestergang

PS: Am 11. Mai 2017 berichtete der HA, daß dem Straßenschild „Schwesterngang“ ein „n“ fehlt. Seit vielen Jahren gehen wir also an diesem Schild vorbei und bemerken diesen Rechtschreibfehler nicht. Wir lesen meistens, was wir lesen wollen. Erst ein 15-jähriges Mädchen (aber auch nur eins!) schaut genau hin und sieht die Bescherung.

Doch schon Mitte Juli ist das Mißgeschick behoben.

KH

Fußnoten:

1 In der katholischen Kirche ist ein Konvent die Versammlung aller stimmberechtigten Mitglieder eines Klosters oder die Bezeichnung für das Kloster selbst.

2 Ketzerei

3 aus lat. tertius, a, um = der, die, das dritte

4 aus lat. novicius = Neuling, d.h., die Zeit, in der ein Neuling in das Klosterleben eingeführt wurde

5 Die Überführung kirchlichen Besitzes in weltliche Hände.

6 Dieser neu formierte Pfarrsprengel (auch Kirchspiel oder Kirchsprengel: der Bezirk, in dem eine Kirche und ihr Pfarrer zuständig war) bestand  aus der „Stadt Camen, sowie den Gemeinden Heeren, Ostheeren, Werve, Alten-, Lütgen- und Nordbögge, Lerche mit Reck, Rottum, Derne, Overberge, Bergcamen, Wedinghofen mit Tödinghausen (sic), Metheler, Altenmetheler, Westick, Wassercourl und Südcamen. Die Gemeinde soll jetzt 800 Seelen zählen“. (Buschmann)

Erläuterungen zu Abb. 3:

Lageplan des Klosters:

a. Die Einfahrt im Kloster Hofe    b. Der Hof    c. Ein Brunnen

d. Der Garten  e. Ein Wasser-Graben    f. Wege

g. Zwey Abfoh(laege), wo in einen ein Abtritt befindlich

h. Das Pater-Haus    i. Die Kirche    k. Verbindung der Kirche mit

l. des Kloster Gebäudes    m. Das Bau-Haus    n. Das Oeconomie-Gebäude

Letztere beÿde Gebäude sind verkauft

Quellen:

Friedrich Buschmann, Geschichte der Stadt Camen, o.O. 1841

Moritz Friedrich Essellen, Beschreibung und kurze Geschichte des Kreises Hamm und der einzelnen Ortschaften in demselben, Hamm 1851 (S.102 – 124: Die Stadt Camen)

Friedrich Pröbsting, Geschichte der Stadt Camen und der Kirchspielsgemeinden von Camen, Hamm 1901 

Theo Simon und Franik, Leonhard, Die Pfarrkirche „Heilige Familie in Kamen“, Paderborn 2002

Wilhelm Zuhorn, Geschichte des Klosters und der katholischen Gemeinde zu Camen (Kamen 1902).

Abbildungen:

Abb. 0 & 5: Photo Klaus Holzer; Abb. 1,  2 & 4: Stadtarchiv; Abb. 3: Simon/Franik

Schleppweg

von Klaus Holzer                                                             

Abb. 1. 

Straßennamen verändern sich immer wieder im Laufe der Zeit. Der Schleppweg z. B. hat eine ganz eigene Geschichte.

Der eigentliche Schleppweg ist die jetzige Südkamener Straße zwischen der Unnaer Straße und der Dortmunder Allee. In den 1920er Jahren wurde „unter dem Schleppwege“ eine Zechensiedlung gebaut. Aus den parallel untereinander laufenden Straßen wurde dann der Obere und der Untere Schleppweg. Nach der Anlage des neuen Friedhofs in Südkamen wurde aus dem Oberen Schleppweg die Südkamener Straße. Das „Untere“ wurde gestrichen, es gab ja nur noch einen Schleppweg.    

Der Name kommt ursprünglich von Schliepweg. Die Schliepe (von schleifen, ziehen) ist ein einfaches Holzgestell, das aus zwei gleich langen Stangen besteht, die durch Querstangen verbunden sind. Darauf nagelt man ein paar Bretter, dann läßt sich diese Konstruktion einfach ziehen. Mist aus dem Stall oder andere Dinge, mit denen man für kurze Wege die Radkarre nicht benutzen bzw. beschmutzen wollte, kamen auf die Schliepe. 

Was hat das nun mit dem Schleppweg zu tun? Dazu müssen wir wieder einmal einen kleinen Umweg in die Geschichte machen.

Ein Stück oberhalb des Schleppweges, am jetzigen Südweg, stand ein gegen Dortmund gerichteter Galgen, eine deutliche Warnung an Fremde, Gauner und Mörder. 

Kam es wirklich einmal zu einem Todesurteil, wurde der Nachrichter1 tätig, wurde das allgemein wie ein unterhaltsames Schauspiel betrachtet, das man sich natürlich nicht entgehen lassen wollte. Die Bürger zogen mit Kind und Kegel und Proviant zum Richtplatz, oft Rabenstein genannt, weil die Raben sich an den menschlichen Kadavern gütlich taten, und zertrampelten den Bauern ihre Äcker. Damit es auch eine richtige Belustigung gab, wurden die Delinquenten oft auf dem Schafott noch eine halbe Stunde dem Volk dargeboten. Manchmal wurde der Kopf noch „aufgesteckt“, d. h. zur länger andauernden Abschreckung auf einen Pfosten gesteckt, oft auch zusammen mit der rechten Hand.

Abb. 2. Auf dem Schindanger (Darstellung aus Hessen)

Zur Abschreckung blieben die Kadaver lange am Galgen hängen, und was dann nach Wochen noch übrig war, mußte jetzt irgendwie unter die Erde, allerdings nicht unter die geweihte auf dem Kirchhof, dort durften nur getaufte Unbescholtene beerdigt werden.

Und hierbei kam die Schliepe zum Einsatz. Nur die Ärmsten der Armen waren zu diesem Dienst bereit. Einen eigenen Wagen oder eine Karre hatten sie nicht, auch hätte ihnen niemand seine geliehen. Statt der Querbretter spannte man zwischen die Stangen ein altes Tuch, in dem später die Leiche eingewickelt wurde.

Doch wohin damit? Wie gesagt, auf den Kirchhof konnte sie nicht, ein gehenkter Verbrecher bekam kein christliches Begräbnis, er „kam ja auch nicht in den Himmel“. Es ist nicht immer ganz klar, wo eine solche Leiche verscharrt wurde. In Kamen gibt es leider keine Quelle, die uns Heutigen hierüber Auskunft geben könnte. Doch gab es offenbar unterschiedliche Verfahrensweisen. Am weitesten verbreitetet war das Verscharren auf dem Schindanger2, dem „Anger, an dem das gefallene Vieh geschunden wurde“ (Grimmsches Wörterbuch; „schinden“ heißt: die Haut abziehen, nämlich den Tierkadavern). Das machte der Schinder, heute nennen wir ihn „Abdecker“.

Mancherorts wurden sie wohl auch auf dem Armenfriedhof verscharrt. Dieser lag meistens vor der Mauer und war für Fremde bestimmt, die kein Geld für die Stolgebühren3 hatten, für Ungetaufte und Ausgestoßene.  

Abb. 3. 

Und es steht zu vermuten, daß das Verscharren manchmal auch sehr profan auf einem sogenannten Filleplatz2 vorgenommen wurde. In Kamen lag einer, der für die Mühlenschicht4, auf dem Gebiet mit der Flurbezeichnung Steinacker, ein Stück unterhalb des Schleppweges. Ein solcher Filleplatz wurde angelegt, weil Schlachtreste und Tierkadaver nun einmal da waren und daher entsorgt werden mußten. Dort stand er unter der Aufsicht der zuständigen Schicht, der Mühlenschicht, so daß man sicher gehen konnte, daß von einem solchen Filleplatz keine Seuchengefahr ausging.

Vielleicht wurden die armen Sünder in Kamen  auch dort verscharrt, wer weiß? 

KH, unter Verwendung eines Artikels von Edith Sujatta

Abbildungen: Abb. 1 & 3: Photo Klaus Holzer; Abb. 2: Elfriede Koch, Sozialnetz Hessen

1 Nachrichter – synonym mit Scharfrichter

2 Schon in germanischer Zeit ein Stück Grasland vor oder nahe einer Siedlung, das allen gemeinsam gehörte. Dort gab es gemeinschaftliche Feste, Backen oder Schlachten. Der Schindanger hieß in Kamen Filleplatz und diente dem Abdecker zur Beseitigung von Tierkadavern, was aus hygienischen, d.h., gesundheitlichen Gründen enorm wichtig war.

3 Vor der Einführung der Kirchensteuer 1919 die Gebühren, die der Priester für alle Tätigkeiten nahm, zu denen er die Stola umlegen mußte, das waren die sog. Kasualien wie Taufe, kirchliche Trauung und kirchliche Begräbnisfeier. Ausgenommen von der Stolgebühr waren immer: Kommunion bzw. Abendmahl, Beichte, Kranken- und letzte Ölung. Mancherorts gibt es noch heute Stolgebühren.

4 Kamen war früher in Schichten eingeteilt, Nachbarschaften, die jeweils einem Stadttor zugeordnet waren, für das sie verantwortlich waren. Es gab eine Fülle von öffentlichen und sozialen Pflichten innerhalb solcher Nachbarschaften.

Die Kamener Sesekebrücken

von Klaus Holzer

Die Bedeutung von Brücken ist für die Entwicklung von Städten, Handel und Verkehr kaum zu überschätzen. Ohne sie hätte ein Fluß immer Hemmnis, Trennung bedeutet. Die Kunst des Steinbrückenbaus war mit dem (west)römischen Reich Ende des 5. Jh. untergegangen. In den folgenden zwei Jahrhunderten, während der Zeit der Völkerwanderungen, gingen viele weitere Kulturtechniken verloren. Erst um die Zeit Karls d.Gr. begann zaghaft eine Wiederbelebung aller Bereiche menschlicher Zivilisation, darunter auch der Brückenbau. Zunächst waren es einfache Holzbrücken, weil Holz eben das reichlich zur Verfügung stehende Baumaterial war und es leichter zu beherrschen ist als Stein. Aber Holz ist kein so beständiger Werkstoff wie Stein, es verrottet, wird von Fluten leichter fortgespült, kann auch brennen. Erst zu Beginn des 12. Jh. begann der Steinbrückenbau in Deutschland. Die beiden großen Steinbrücken von Regensburg (Baubeginn 1135) und Würzburg (Baubeginn ebenfalls im 12. Jh.) waren die ersten. Und nicht zufällig waren das 12. und 13. Jh. auch die Zeit der vielen Stadtgründungen.

Obgleich Kamen ebenfalls an einem Fluß entstand, war hier alles viel bescheidener. Es gab jahrhundertelang keine Brücke, nur eine Untiefe, die Sesekefurt, gegenüber dem „Bollwerk“, das seinen Namen dem Bohlenweg verdankt, den findige Ursiedler hier über die Furt und den breiten Sesekesumpf legten. Erst 1695 wird in einer Kamener Urkunde die Maibrücke erwähnt, die damit Kamens älteste bekannte Brücke ist. Natürlich wird es auch früher schon Brücken gegeben haben, kleine Holzbrücken, ohne die keine Gemeinde auskam, überall gab es Bäche und andere Rinnsale, die, auch mit Karren, zu überwinden waren, wenn man seinen täglichen Geschäften nachging.

Kamen hat viele Brücken (und Unterführungen): Fußgängerbrücken, Straßenbrücken, Autobahnbrücken, Eisenbahnbrücken, Flußbrücken, die Hochstraße, die gleich über mehrere, unterschiedliche Verkehrssituationen hinüberführt. Insgesamt sind es 83 Brücken (lt. Vermögensbilanz der Stadt Kamen von 2016). Die meisten von ihnen haben keinen eigenen Namen, finden sich einfach im Verlauf von Straßen oder Trassen. Anders verhält es sich mit den Kamener Sesekebrücken, die zwar in der Regel auch keinen Namen führten, bis auf wenige Ausnahmen: Maibrücke, Vinckebrücke und, natürlich, die Fünfbogenbrücke, die schönste von allen (war einmal: vgl. Artikel „Fünfbogenbrücke“).

Doch zum Jubiläum der Kamener Städtepartnerschaften mit Montreuil-Juigné in Frankreich und Ängelholm in Schweden im Jahre 2013 machte der Kultur Kreis Kamen den Vorschlag, allen bis dahin namenlosen Kamener Brücken den Namen einer Partnerstadt zu geben. Was besonders einleuchtend war, als es seit 2001 bereits die „Partnerschaftsbrücke“ gab. So geschah es. Von der Fünfbogenbrücke an sesekeabwärts heißen die Brücken folgendermaßen:

1. Montreuil-Juigné-Brücke: Sie verbindet die Wittenberger und die Henri-David-Straße. Sie wurde 1975 gebaut, ist 13,5 m lang und 2,40 m breit. Fußgänger und Fahrradfahrer im Kamener Osten wissen die Abkürzung zu schätzen.

Abb. 1: Brücke von Montreuil-Juigné

2. Unkeler Brücke: Diese Brücke liegt in der Schneise, die der frühere Kamener Stadtbaurat Gustav Reich (vgl. Artikel dazu unter „Kamener Köpfe“) vor dem Krieg als Umgehungsstraße plante, um den starken Verkehr, den er voraussah, aus der Kamener Altstadt herauszuhalten. Wäre es zur Ausführung dieser Planung gekommen – wer weiß, vielleicht wäre Kamen die doch trennende Hochstraße erspart geblieben? So aber ist ein relativ breiter Grünstreifen, stellenweise parkartig, übriggeblieben, der ein kleines Naherholungsgebiet darstellt. Diese Schneise führte als direkte Fortsetzung des Ostrings durch Kamens Osten und sollte im Süden in die Unnaer Straße münden. Die Holzbrücke wurde 1983 gebaut, ist 19 m lang, 3,50 m breit.

Abb. 2: Unkeler Brücke

3. Ängelholmer Brücke: Sie war bis in die 1920er Jahre als kleine Holzbrücke für den Verkehr aus den östlichen Richtungen vorhanden, wurde anschließend (vgl.Suleçinbrücke) von Gustav Reich erneuert. Noch 1953 wird sie als Wirtschaftsbrücke neu gebaut Seit der Sesekedamm eine Art innerer Ring ist, der die Innenstadt entlastet, ist auch diese Strecke stark frequentiert. Die heutige Brücke ist 10,00 m lang und 16,70 m breit.

Abb. 3: Ängelholmer Brücke

Ihre Vorgängerbrücke war eine reine Wirtschaftsbrücke, wie sie für den damaligen Gebrauch geeignet war, gleich lang, aber nur 3,00 m breit. 

Abb. 4: Wirtschaftsbrücke

4. Beeskower Brücke: Sie ist eine Fußgänger- und Radfahrerbrücke, wurde 1981 gebaut als Nachfolgebrücke einer Vorgänger-Holzbrücke, sie ist 10,35 m lang und 2,00 m breit. Sie kürzt den Weg zwischen Innenstadt und Mersch beträchtlich ab.

Abb. 5: Beeskower Brücke

5. Partnerschaftsbrücke: Die Bogenbrücke aus Stahlbeton wurde 2002 in Betrieb genommen, damit die Maibrücke vom Verkehr entlastet werden konnte. So wurde eine bessere Verteilung des innerstädtischen Verkehrs durch den vorgelagerten Kreisverkehr erreicht. Es konnte der „Verkehrsschluß Innerer Ring“ angelegt werden, der die Bahnhofstraße entlasten sollte, die ab 2010 umgebaut und nach Fertigstellung im Dezember 2012 in Betrieb genommen wurde. Die Entlastung der Bahnhofstraße wurde nicht erreicht. Die Brücke ist 16,50 m lang und 11,00 m breit.

Abb. 6: Partnerschaftsbrücke

6. Maibrücke: Die älteste Kamener Straßenbrücke, 1695 zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Wahrscheinlich war das eine einfache Holzbrücke, denn eine Urkunde im Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem vom 3.8.1737 belegt einen „staatlichen Zuschuß zum Bau der (meine Hervorhebung) Sesekebrücke“. Dennoch wird nicht klar, was für eine Brücke das genau war, denn nur 60 Jahre später, in einer Urkunde vom 10.7.1798, bestätigt die Stadt Kamen den Empfang eines Darlehens „zur Bezahlung der Baukosten der (meine Hervorhebung) neuen Steinbrücke über die Seseke“ (beide Male ist die Rede von „der“ Brücke, also war es die einzige). In der heutigen Form gibt es sie seit 1923. Bis dahin war sie immer noch die einzige Kamener Straßenbrücke. Während ihrer Reparatur mußten Bauern, die zum Markt wollten, weite Umwege über Rottum bzw. Weddinghofen in Kauf nehmen. Sie lag beim Mühlentor, das zusätzlich durch eine Homey geschützt war, die auch zur Einnahme der Akzise genutzt wurde. Diese Brücke wurde naturgemäß stark frequentiert, da über sie aller Verkehr zwischen Lippe und Hellweg verlief. (vgl.a. Artikel „Maibrücke“, darin „Homey“). Die heutige Brücke ist nach der Sanierung im Jahre 2002 eine Plattenbrücke aus Beton mit Stahlträgern. Sie ist 10,50 m lang und 13,70 m breit.

Das vorliegende Detail der technischen Zeichnung zur Erneuerung der Maibrücke stammt vom Mai 1921 und ist noch von der Seseke-Genossenschaft Dortmund erstellt. Erst 1925 vereinigten sich Seseke-Genossenschaft und Lippeverband.

Abb. 7: Plan der Maibrücke von 1921

Abb. 8: Die neue Maibrücke

7. Vinckebrücke: Sie wurde 1923 als direkte Verbindung zwischen vorgelagerten südlichen städtischen Bereichen und der Altstadt gebaut, da die Maibrücke wegen ihrer notwendigen Sanierung bzw. (fast) Neubau längere Zeit geschlossen war, außer für die Kleinbahn UKW, die Straßenbahn. Ihr Bau bedeutete eine deutliche Zeitersparnis für Fußgänger (und das waren die meisten Leute damals) aus Südkamen und Kamen-Süd zur Innenstadt. Der zur Vinckebrücke führende Weg links der Seseke hieß 1949 noch Vinckestraße und reichte von der Bahnhofstraße bis zum Schwesterngang, die Klosterstraße mündete an der kath. Schule (Josefschule) in die Vinckestraße.

Abb. 9: Die Bindebrücke im Bau

Als die Binde(Vincke)brücke 1923 gebaut wurde, herrschte Inflation, lag die Wirtschaft am Boden. Zum Bau verwendete man offenbar minderwertiges Material, denn schon im Herbst 1930 war sie so marode, daß sie gesperrt werden mußte. Diese Sperrung geschah ohne Ankündigung und ohne Beschilderung, weswegen die vielen Fußgänger zwischen Süden und Westen der Stadt, hauptsächlich Schulkinder und Kirchgänger plötzlich davor standen, umkehren mußten und viel Zeit einbüßten. Erst nach einer Woche wurde die Sperrung beschildert. Die Empörung bei den Kamenern und in der Kamener Zeitung war groß. Als Ersatz für die alte Brücke sollte es zunächst nur ein Provisorium geben, weil mit einer „fahrbaren Brücke in absehbarer Zeit zu rechnen“ sei (Ratsvorlage vom 2.3.1931). Kosten des Provisoriums: knapp 1.000,00 Reichsmark, „wenn ein Teil der erforderlichen Nebenarbeiten (…) von Pflichtarbeitern besorgt werden kann“ (dto.). 

Abb. 10: Die alte Vinckebrücke

Die alte Vinckebrücke war eine Holzbrücke, ca. 11,50 m lang und 2 m breit. Bei Regen war sie sehr rutschig.

Die neue Vinckebrücke ist eine Einfeldträgerbrücke aus Stahl und Stahlbeton. Sie 12,50 m lang und 3 m breit. Sie wurde am 15.8.2018 montiert und mit der Eröffnung des Sesekeparks am 22. 9. 2018 in Betrieb genommen.

Abb. 11: Die neue Vinckebrücke 

8. Suleçin-Brücke (Koppelstraßenbrücke): Sie wurde 1924 in Betrieb genommen. Sie war Teil der umfassenden stadtplanerischen Maßnahmen des damaligen Kamener Stadtbaurats Gustav Reich (vgl. Artikel dazu unter „Kamener Köpfe“). Die alte Maibrücke war baufällig geworden und mußte saniert werden. So wurde die Notwendigkeit einer weiteren Straßenbrücke deutlich.Sie ist 10,00 m lang und 13,20 m breit.

Abb. 12: Suleçin-Brücke

9. Eilater Brücke: Sie war bis zum Ende des Bergbaus in Kamen 1983 Bestandteil der Zechenbahn zwischen Monopol und der Reichsbahn bzw. dann der Deutschen Bundesbahn. Was sich als sehr nützlich erwies, als die Fränkische Energiegesellschaft mbH das Bergwerk zu 100% übernahm. So spürte Kamen die Auswirkungen der ersten frühen Kohlekrise seit Ende der 1950er Jahre gar nicht. Täglich rollten ganze Züge voll Kamener Kohle nach Nürnberg, an der Verladestation neben der Westicker Straße, gegenüber Pumpen-Weller, an die DB übergeben. Seit Anfang des Jahrtausends zum Rad– und Spazierweg umgebaut. Sie ist 11,52 m lang und 3,66 m breit.

Abb. 13: Eilater Brücke

10. Bandirma-Brücke: Diese ist keine Sesekebrücke, sondern führt über die Körne, den größten Nebenfluß der Seseke, liegt jedoch gleich neben ihrer Mündung in die Seseke. Da aber für alle sieben Partnerstädte eine Brücke gebraucht wurde, kam sie gerade recht, da Umtaufen vorhandener Brücken nicht in Frage kam. Die Länge beträgt 12,30 m, ihre Breite 3,80 m.

Abb. 11: Bandirma-Brücke

Nimmt man die Fünfbogenbrücke, eine Eisenbahnbrücke, hinzu, hat Kamen-Mitte also neun Sesekebrücken, die Körnebrücke am Klärwerk hier aufgenommen. Die Länge der Brücke ist 12,30, die Stützweite beträgt 3,80 und der lichte Abstand ist 3,30m

Verglichen mit der Situation in früherer Zeit, haben wir heute wirklich keinen Grund mehr, über zu wenige Brücken zu klagen, zumal uns Umwege nicht mehr halbe Tage kosten. Das Auto und andere Verkehrsmittel bringen uns schnell überall hin. Was die Reparatur einer Brücke bedeuten kann, erkennen wir, wenn wir die Diskussion über die Lippebrücke bei Werne verfolgt haben. Wäre diese während des jahrelangen Um- bzw. Neubaues komplett gesperrt worden, wären Umwege über Hamm im Osten und Lünen im Westen notwendig geworden. Und das ist dann selbst mit dem Auto deutlich spürbar, das kostet Zeit und geht ins Geld.

KH

Bildquellen:    Abb. 4 & 7: Stadt Kamen, Tiefbauamt; Abb. 9: Stadtarchiv Kamen; alle anderen: Photo Klaus Holzer

Gartenplatz und Kastanienallee

von Klaus Holzer

Abb. 1: Straßenschild

Abb. 2: Straßenschild

Die Wohnsiedlungen Gartenplatz I & II liegen nordöstlich der Stadtmauer auf einem Gelände, das einmal „Auf den Geistgärten“ bzw., das Stück direkt neben der Chaussee nach Hamm, „An den Geistgärten“ hieß und noch zu Beginn des 20. Jh. der Familie von Mulert gehörte. Der Bestandteil „Geist“ des Namens verweist auf das erste Armen– und Siechenhaus Kamens, vor 1359 gegründet und jahrhundertelang das einzige in unserer Stadt (vgl.a. Artikel „Am Geist“). Sein Besitz wuchs und wuchs, weil nicht wenige Kamener Bürger bei ihrem Tode ein gottgefälliges Werk tun wollten und dem Hospital ein Stück Land oder eine Rente, d.h., eine Stiftung von Geld überschrieben. Das ermöglichte es dem Hospital, seine laufenden Kosten zu bestreiten, und in den Gärten zog man natürlich auch Gemüse, das den täglichen Küchenbedarf deckte.

Die letzte Erinnerung an das Heilig-Geist-Hospital in Kamen ist die kleine Straße „Am Geist“, wo das Hospital einmal zwischen Nord– und Oststraße stand. Der letzte Bau wurde in den 1930er Jahren wegen Baufälligkeit abgerissen.

Die früheren Geistgärten umfaßten etwa das Areal zwischen Hammer und Friedhofstraße.

Abb. 3: Grabsteine der Fam. von Mulert

Der letzte Baron von Mulert verspielte und vertrank jedoch seinen Familienbesitz. Die Familie verarmte und mußte Haus und Ländereien veräußern. So kam die Stadt Kamen in den Besitz des von Mulertschen Hauses am Markt und des Geländes im Osten der Stadt. Sie gab den zwei Schwestern von Mulert dafür eine Leibrente, d.h., eine Rente bis an ihr Lebensende.

Nachdem Bürgermeister Berensmann aus Laasphe den Baurat Reich (vgl. a. Artikel Gustav Reich) nach Kamen geholt hatte, baute der ganz Kamen um: er schuf den Gondelteich und den Postteich, ließ die Koppelstraße anlegen und verwirklichte in Kamen die noch gar nicht so alte Gartenstadt–Idee des Engländers Ebenezer Howard, die dieser 1898 vorgestellt hatte. In seinem Buch 

„To-Morrow: A Peaceful Path to Real Reform“ veröffentlichte er das Modell einer Gartenstadt. Sie sollte die Trennung zwischen Stadt und Land aufheben und die Vorzüge beider in einem verwirklichen.

„Hinaus ins Grüne“ war seit der industriellen Revolution der Wunsch vieler Menschen, vor allem von Großstädtern. Das „Grüne“ verhieß Naturnähe, Ruhe, Entspannung, Gesundheit, Frieden und Harmonie. Das konnten sich aber nur die Reichen leisten. Howards sozialreformerische Idee war es, auch dem Arbeiter Wohnen im Grünen zu ermöglichen und ihm ein Stück Land zu Selberbearbeiten zu geben. Dazu ersann er seine „Gartenstadt“. 

Abb. 4: Three Magnets

Howard vergleicht Stadt und Land mit zwei Magneten, die ein Stück Eisen, den Wohnung und Beschäftigung suchenden Menschen anziehen. Diesen stellt er einen stärkeren gegenüber, die Land- und Gartenstadt, die die Vorzüge von Stadt und Land vereinigen soll, ohne ihre Nachteile.

Schon 1864 hatte es in Deutschland ähnliche Gedanken gegeben, als in Dresden die ersten sog. Schrebergärten gegründet wurden. Doch blieben diese Kleingärten ohne Einbettung in die Stadtkonzeption, meistens in die Randlage der großen Städte abgeschoben, oft direkt neben Bahngleisen.

Howard hingegen entwickelte eine neue Idee von Stadt. Seine Gartenstadt sollte eine eigenständige Stadt im Grünen werden. Da es in Deutschland, anders als in England, bereits eine Fülle von kleinen und mittleren Städten gab, wurde dieses ursprüngliche Konzept hier 1907 dahingehend abgewandelt, daß man den bestehenden Städten Gartenvorstädte, Wohnsiedlungen oder Industriekolonien angliederte oder sie im Sinne der Gartenstadtidee ausweitete.

Die beiden Wohnsiedlungen Gartenplatz I und II im Osten Kamens stellen einen Höhepunkt in Reichs Wirken dar, als Vorstadt ausschließlich für Wohnzwecke mit Gartenstadtcharakter errichtet. Daher baute er nah am Stadtzentrum, aber mit genügend Platz für Grünflächen. Die Häuser wurden karréeförmig gruppiert. 

Abb. 5: Reichs Mulde

In jede der beiden Siedlungen fügte er einen zentralen Platz ein, als Mulde ausgelegt, mit einem Springbrunnen in der Mitte, wie auf dem Platz zwischen den beiden großen Kirchen „zur Erhöhung nach oben“, hier auf Profanbauten bezogen. Die Muldenhänge wurden natürlich von allen dort wohnenden Kindern gleich beim ersten Schnee als kleine Rodelhänge benutzt. Plätze waren für Reich konstitutives Element von Stadt, Versammlungsorte, Orte der Gemeinschaft. Und natürlich ließ er ausreichend Platz für Gärten. Zwischen ihnen führt eine mit Kastanien bepflanzte Allee hindurch, die den ländlichen Charakter unterstützt und die den Anwohnern im Herbst viel Arbeit macht, ohne die sie aber in einem Hohlraum wohnten.

Abb. 6: Kastanienallee

Wie detailversessen Reich war, zeigt sich an den Einzelheiten: Einzelhäuser immer giebelständig, Doppelhäuser traufenständig; Anordnung der Gauben nach festen Regeln; Dachgestaltung; symmetrische Fassadengestaltung; Fenstergestaltung; Freisitze; einheitliches Baumaterial. 

Was an der Planung der Gartenstadt auffällt, ist die Modernität auch in unserem heutigen Sinne, und das vor 80/90 Jahren. Das war die Zeit, als Kohle und Stahl die wichtigsten Wirtschaftsträger waren, die die mit Abstand meisten Arbeitsplätze boten. Doch war die Arbeit anstrengend und schmutzig, die Luft durch Kohlekraftwerke, Verkokung und Stahlherstellung verpestet. Filter, die Kraftwerksabgase reinigten, für uns heute selbstverständlich, gab es nicht. Urlaub an der See, in den Bergen, war für die Arbeiter an der Ruhr unerschwinglich. Erholung konnte es also nur in der unmittelbaren Nähe, zu Hause, geben. Grün in der Stadt war überlebenswichtig, und die beiden Gartenstädte verfügen über viel Grün. 

Waren die Häuser in der Kamener Gartenstadt schon bei ihrer Errichtung eher für Beamte und „höhere Angestellte“ gedacht als für Arbeiter, sind sie heute sicherlich eine bevorzugte Wohnlage.  Es wohnt sich hier immer noch stadtnah, ruhig und grün. 

KH

Abbildungen: Abb. 1-3: Photos Klaus Holzer; Abb. 4: 100 Jahre Leben in der Gartenstadt, Gartenstadt Nürnberg e.V., Nürnberg 2008; Abb. 5 & 6: Stadtarchiv Kamen

Willy-Brandt-Platz

von Klaus Holzer

Manchen wird es schon verwundert haben, daß es in einer kleinen Stadt wie Kamen neben dem Markt einen weiteren großen Platz gibt, den man allerdings nur erkennt, wenn man entweder Kamener oder ein Besucher mit geschultem Blick ist. Denn eigentlich ist der Willy-Brandt-Platz (WBP) gar kein Platz, er wirkt eher wie eine etwas zu breit geratene Straße mit nicht ganz klarem Verlauf, was an der eigentümlichen Bebauung liegt. Die vorhandene Wohnbebauung stört den Platz-Charakter, weil sie von Osten nach Westen in höheren zu niedrigeren Häusern, in Kamen „Lindwurm“ genannt, den Platz durchschneidet. Es ist übrigens leicht zu erkennen, wann diese Häuser gebaut wurden: die 1970er Jahre favorisierten das Flachdach.

Abb. 1: Der Plan:  so sollte der Neumarkt aussehen

Auf dem Stadtplan wird dem Betrachter schließlich deutlich, daß es hier einmal einen großen zusammenhängenden Platz gegeben haben muß. Der Grund dafür ist in Kamens mittelalterlicher Geschichte zu finden (vgl.a. Artikel „Am Galenhof“). Kamen hatte in seinen Anfängen 10 Burgmannshöfe, einer von ihnen war der Akenschocken-, Sparren- oder auch, im Urkataster von 1827, Fetthakenhof (dazu später mehr), der dieses Gelände fast genau in der Mitte der Stadt einnahm, begrenzt von der Lutherischen Kirchstraße (schon vor 1900 Kampstraße) im Osten, der Rottstraße (seit 1985 Konrad-Adenauer-Straße) im Norden, der Weststraße mit einer Ladenzeile und rückwärtigen Gärten im Süden sowie einer Häuserreihe mit rückwärtigen Gärten an der Kämerstraße im Westen. 

Abb. 2: Ein  alter Stadtplan: der Fetthakenhof sollte neu gestaltet werden

Dieser Burgmannshof gehört zur ersten Gruppe von Höfen aus dem 12./13. Jh. und war vollständig von einem Wall mit Palisaden und einer Gräfte umgeben. Diese starke Befestigung kam nicht von ungefähr, mußten die Burgmannen doch immer Verteidigungs- (und wohl auch Angriffs-)kräfte vorhalten, da es eine ihrer Aufgaben war, das nächstgelegene Stadttor zu sichern, was auch hieß, Angreifer von außen abzuwehren.

Die Namensgeber, die Akenschockens, waren, wie alle Burgmannen, eine Familie, die entsprechend ihrer herausgehobenen Stellung oft Ratsherren und den Bürgermeister der Stadt stellte. Und auch wenn anfangs nur die Burgmannen als Bürgermeister in Frage kamen, weil das ein unbesoldetes Ehrenamt war und nur Burgmannen sich das leisten konnten, so mußten sie sich den Kamenern doch jährlich „an Petri Stuhlfeier“ (Kathedra Petri, 22. Februar) zur Wahl stellen, immer für ein Jahr (erst durch königlich preußische Verordnung wurden Bürgermeister in der Grafschaft Mark ab 1719 auf Lebenszeit bestellt). 

Zweimal ging von diesem Hof eine Katastrophe aus, die die Existenz der ganzen Stadt in Frage stellte. Man erinnere sich: zentrale städtische Lage, Fachwerkhäuser und strohgedeckte Dächer!

Der erste ganz große Brand geschah zu Pfingsten 1452, der größte aller 11 Kamener Stadtbrände. Nur der Turm der Severinskirche (heute Pauluskirche), das Rathaus und 20 Häuser blieben stehen.

Der Stadtchronist Buschmann berichtet 1841: „Kaum hatte man eine Menge der im Jahre 1452 zerstörten Wohnungen wieder aufgebaut, als auch schon neuer Jammer über die unglückliche Stadt hereinbrach. Ein von der Familie von Ackenschock zu Bynckhof, die hier in der Stadt viele Besitzungen hatte, durch Zurückhaltung rechtlicher Forderungen hart beleidigter Mann, Namens Johann Volbart, überstieg am 12. März des Jahres 1493, zur Nachtzeit, die Stadtmauer, und zündete die der Familie von Ackenschock gehörenden Gebäude an; um so dieser Familie, der er anderweit keinen Schaden zufügen konnte, einen empfindlichen Verlust zuzuziehen. In Folge dieser grauenvollen Rache brannte die halbe Stadt ab; ja sogar die Frau eines hiesigen Bürgers, Heinrich Dahrenberg, fand mit 2 ihrer Kinder in den Flammen den Tod. Die Bürgerschaft betrachtete die Familie von Ackenschock, durch ihre Ungerechtigkeit gegen den Volbart, als die Veranlasserin dieses Unglücks, und es entspann sich zwischen der Stadt Camen und den von Ackenschock eine heftige Fehde. 

Ueber die endliche Schlichtung dieses langen Streites, giebt eine, in beglaubigter Ausfertigung, noch auf dem hiesigen Rathause liegende Urkunde, folgende Nachricht. Herzog Johann II. von Cleve, ließ die streitenden Partheien, auf einen Fürstentag zu Essen, vor sich laden. Vorab mußten die beiden Partheien, die Stadt Camen, vertreten durch ihre Bürgermeister Barenbrock und Smyt, und die Familie Ackenschock, vertreten durch die zwei ältesten Söhne des Hauses, Johann und Heinrich Ackenschock, Entsagung jeder weiteren Selbstwehr, bei 500 Goldgulden Strafe, angeloben. Dann machte der Herzog, auf St. Gallen Tag 1496, den Ausspruch: die von Ackenschock hätten den durch Brand beschädigten Bürgern 590 Goldgulden zu zahlen und 100 Malter Roggen cämisch Maaß zu geben; ihren hiesigen Heuerlingen die Pächte der letzten Jahre zu erlassen; endlich auch armen Bürgern und Wittwen, die verlorenen Hausgeräthe zu ersetzen; wogegen die Stadt Camen, von den von Ackenschock ihre Briefschaften, Kleinodien und Hausgeräthe wieder herausgeben, auch den Gliedern dieser Familie, den freien Wiedereintritt in die Stadt gestatten solle.“ Auch wenn uns das MA immer als rechtlose Zeit vor Augen steht, als eine Zeit, in der das Faustecht galt, offenbar konnte auch der kleine Mann erlittenes Unrecht ersetzt bekommen.

Und im Jahre 1264 liegen die märkischen Grafen in Dauerfehde mit den Erzbischöfen von Köln, die sich die Grafschaft einverleiben wollten. Als im Laufe dieser Kämpfe Unna 1263 eingeäschert wurde, brannte der märkische Droste (Verwalter eines Bezirks) Dietrich Volenspit auch die „villa de Camene“ nieder (der westfälische Chronist Levold von Northof schreibt „forsan ea intencione, quod inimici locum ibi hospitandi non haberent“: „mit der Absicht, den Feinden keinen Ort zu bieten, an dem er sich aufhalten mochte.“ (Übers. Marc Hilligsberg), um den Kölnern jeden Anreiz zu nehmen, Kamen zu erobern.

Mitte des 17. Jh. kauft Oberstleutnant Freiherr Anselm Kasimir von Sparr den Akenschockenhof (der daraufhin seinen Namen zu „Sparrenhof“ wechselt) mitsamt den dazugehörigen Ländereien für 1000 Taler. 1693 gingen die Ländereien an Freiherrn von Bodelschwingh-Velmede, das Burgmannenhaus an verschiedene bürgerliche Familien, die gleichwohl alle damit verbundenen Privilegien behalten durften, obgleich sie keine Bewaffneten mehr vorhalten mußten: vor 1739 die Familie Bleckmann, dann Ludwig Phillip Vethake (auch Fetthake, daher zu jener Zeit der Name „Fetthakenhof“), 1759 die Familie Grevel, danach Konrad Denninghof und sein Sohn Johannes, Wirte des Schützenhofes, blieb dann bis 1927 durch Heirat im Besitz der Familie Reinhard, hieß bis 1910 Reinhards Kamp. Ein Reinhard, Friedrich David, war während der Franzosenzeit zu Beginn des 19. Jh. kurze Zeit „Maire“, also Bürgermeister von Kamen.

Abb. 3: Der Schützenhof (das Originalgebäude stammte aus dem Jahre 1624)

Abb. 4: Das Gelände als Veranstaltungsplatz

Abb. 5: Schützenfest in den 1920er Jahren

1800 fand der Umbau des Geländes mitsamt dem Haus zum „Schützenhof“ (ab 1820 so genannt) statt. 1927 erwarb die Stadt Kamen die Anlage und gewann so den Platz für die Ausweitung des Gebäudes und den Schulhof der 1923 so genannten Falkschule (vorher: Auguste-Viktoria-Schule) am östlichen Rand des Platzes, gegenüber der Lutherkirche. Und zweimal jährlich wurde hier auch Kirmes abgehalten. 1956 wurde der Schützenhof abgebrochen, nachdem das Haus 332 Jahre hier gestanden hatte.

Abb. 6: Die Falkschule

Was im MA Kamens großer Vorteil gewesen war, nämlich eine stark befestigte Stadt zu sein, wirkte sich mit dem Einzug der Industrialisierung und der Entwicklung zu einer modernen Stadt nachteilig aus, weil die Zeche Monopol mehrere große Burgmannshof-Areale aufkaufte, mit billigen und schlechten Bergarbeiterwohnungen bebaute und zugleich ängstlich darauf bedacht war, jegliche wie auch immer geartete Konkurrenz fernzuhalten. Also standen diese großen Gelände für eine zielgerichtete Stadtentwicklung nicht mehr zur Verfügung.

Nach dem Abriß des Schützenhofes ergab sich aber die Möglichkeit, wenigstens einen Teil der innenstadt auf diesem Areal zu sanieren. Das wurde Teil eines umfassenderen Planes, zumal noch nicht unbeträchtliche Kriegsschäden zu beseitigen waren. Und gleichzeitig bot sich die Chance, „Kamen, die schnelle Stadt“ (so der damalige Slogan) mit den damals für die autogerechte Stadt notwendigen Parkplätzen auszustatten, indem der gesamte Platz mit einer Tiefgarage versehen wurde. Einen „alten“ Markt hatte man, auf dem Schützenplatz sollte ein „Neumarkt“ entstehen. Dazu bedurfte es einer Verbindung der beiden Märkte. Nicht nur das Haus des Bäckers von der Heyde, Markt 23 (aus der Mitte des 18. Jh.), wurde abgerissen, sondern auch das Haus Weststraße Nr. 79 der Bäckerei Stoltefuß, bekannt als der „dicke Bölk“. Weitere Geschäfte an dieser Stelle (Dank an Rüdiger Plümpe †): Photo Betzler, Bürobedarf Riemer, Süßwaren Hussel, ein Blumengeschäft und der Juwelier Jäkel. Die Neubebauung wurde etwas nach Westen verschoben. In den Neubau zogen dann Aldi, Apotheke Blume und die Fahrschule Freeze ein. Nach dem Aldi-Laden kam Photo-Kraak, als dieser zum Neumarkt zog, wurde die Hellweg-Apotheke sein Nachfolger. Diese schloß Ende 2013, McPaper ist heute das einzige Geschäft mit Papierartikeln in Kamen. So entstand aus einem schmalen Durchgang die heutige Marktstraße.

Abb: 7: Bäcker von der Heyde (das Haus links) wurde für die Marktstraße abgerissen

Abb. 8: Der alte Durchgang: auch dieses Haus wurde für die Marktstraße abgerissen (Schreib- und andere Waren Günter Katz)

An die Stelle des damaligen Schützenhofs sollte ursprünglich der Neubau der Städtischen Sparkasse Kamen
kommen, die bis dahin an verschiedenen Standorten im Stadtgebiet untergebracht gewesen war, doch erwies sich das Grundstück als zu klein für einen Neubau, der für die Wirtschaftswunderzeit geeignet sein sollte. Daher wurde der Neubau am nordwestlichen Ende des Schützenplatzes errichtet, an seinem heutigen Standort. 

1962 zog die Sparkasse hierher. Gleich gegenüber steht ein Pavillon, der vom Reisebüro Mohr bewirtschaftet wurde, bis es ins Haus Ecke Adenauer-/Kampstraße umzog. Seitdem steht er leer. Er wurde von der Stadt Kamen gekauft, wird von der Jugendfeuerwehr und anderen als Ausstellungsraum benutzt, bis er seiner neuen Nutzung als Fahrradparkhaus mit 88 Stellplätzen zugeführt werden wird. 

Abb. 9: Die neue Konrad-Adenauer-Straße, früher Rottstraße 

Der gesamte Bereich wurde zur Fußgängerzone erklärt, wie das in den 1970er Jahren überall große Mode war, hatte man doch erkannt, daß eine ausschließlich auf das Auto ausgerichtete Stadt dem innerstädtischen Handel und Wandel eher abträglich war. Autos wurden auf rund um diese Zonen verlegte Parkplätze verbannt. Und für Fahrradfahrer gab es eine Extraspur auf der Konrad-Adenauer-Straße zwischen Kämer– und Kampstraße, was zu gelegentlichen Kollisionen mit Fußgängern führte, die diesen Streifen übersahen, weil sie sich eben in einer Fußgängerzone wähnten. Heute dürfen Radler immer noch dieselbe Strecke befahren, haben aber keinen eigenen Streifen mehr. Man nimmt Rücksicht aufeinander. Naja, nicht immer. Und der wunderschöne Pfarrgarten gegenüber der Stelle, wo die Konrad-Adenauer-Straße auf die Kampstraße trifft, ist längst einem großen Wohn- und Geschäftshaus mit eigener Tiefgarage gewichen.

Abb. 10: Stannat in seinem alten Lädchen

Abb. 11: Stannat im neuen Laden

Anschließend fand die weitere Bebauung statt: Stannat zog von seinem kleinen Lädchen an der Weststraße in seinen Neubau an der Ecke neben Schwakenberg (heute Pieper Stadtparfümerie und Apollo Brillen). So ganz einfach war das allerdings nicht, da das alte Häuschen durch seinen Grundstückszuschnitt einen geraden Straßenbau verhindert hätte. Erst nach langwierigen Verhandlungen einigte man sich, und das alte Fachwerkhaus verschwand. Etwas weiter nördlich, aber gegenüber, eröffnete Theo van Vügt seinen Laden mit hochwertigen Stricksachen, den er später auf Damengarderobe ausweitete. Außer Wolter gab es zwei weitere Schuhläden am Neumarkt, Deichmann und Bata; Vodafone hieß noch Mannesmann, der Bäcker noch Kamps, Robert Koch war nicht nur für seinen Schmuck- und Uhrenladen bekannt, sondern auch als Heimatforscher. (Bei seinem Laden geht es um die Ecke in einen Bereich, in dem es auch Läden gab und gibt, die sich jedoch außerhalb der eingelaufenen Strecken, quasi im toten Winkel, befinden. Wer weiß noch, was hier alles war?) „Ihr Platz“ und Schlecker konkurrierten miteinander; das „Eiscafé“ und „Lifestyle, die Adresse für junge Mode“ grenzten direkt an Wolter, heute Ernsting’s family; ein Haus weiter war die „Apotheke“, ein nach 1968 sehr beziehungsreiches Wortspiel (es gab damals die protestierende Jugend, die sich nicht im, und durch das, Parlament vertreten fühlte, sich als Außerparlamentarische Opposition = APO, verstand), ein Kellerlokal, ihm folgte  das Hollywood, das aus dem Odeon-Theater(kino) aus der Güldentröge hierherzog; im Pavillon Neumarkt 5a war der Lotto/Toto/Tabakladen zu Hause (heute ebenfalls leer, wartet auf eine neue Nutzung); es gab ein „Spielikum“ im Durchgang vom Neumarkt zur Kampstraße,

Abb. 12: Die zentrale Ansicht: der „Lindwurm”, das „Stellwerk” und der kleine Pavillon

im „Stellwerk“ gab es nacheinander verschiedene Kneipen, u.a., die Marktschänke, das Streetcafé und das Sindbad; Magda Antoni hatte an der Nordseite ihren Miederwarenladen, rechts daneben waren „bonita“ und eine Parfümerie. Es ist erschreckend, wie stark der Einzelhandel in Kamen in den vergangenen 30 Jahren geschrumpft ist, wie fast nur noch Ketten die Ladenszene beherrschen, Telephonläden, Bäcker, Friseure und leider auch viele „Billigheimer“.

Abb. 13: Blick Richtung Weststraße

Abb. 14: Blick von der Weststraße

Unglaublich, wie schnell eine Platane wächst: schauen Sie sich einmal dieses Bäumchen an! Es wurde offenbar in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre gepflanzt.

Abb. 15: Platane 2018

Nicht einmal 20 Jahre lang behielt der Neumarkt seinen Namen. 1993 wurde er in Willy-Brandt-Platz umgetauft, in ehrendem Gedenken an den charismatischen ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, SPD-Vorsitzenden, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland und Friedensnobelpreisträger, der am 8. Oktober 1992 in Unkel am Rhein starb, einer von Kamens sieben Partnerstädten. 

Abb. 16: „Markt“ auf dem Neumarkt

Ursprünglich fand der „Markt“ auf dem Markt statt, wo er traditionsgemäß hingehört. Dann bekam unsere Stadt den Neumarkt, der natürlich gleich zum Standort des „Marktes“ wurde, hier war schließlich das Neue, die Moderne. Hier blieb er, die Namensänderung zu Willy-Brandt-Platz änderte nichts. Abbildung neun zeigt, daß damals die Marktstände mit ihrer Rückseite zueinander standen, die Kunden also den großen Bogen außen herum machen mußten, um alle ihre Einkäufe erledigen zu können. Heute gehen sie zwischen den Ständen hindurch. 

Dann wurde der „Markt“ zum alten Markt verlegt, weil sich im Jahre 2005 eine ganz neue Situation ergab, als deutlich geworden war, daß der alte Belag, „das […] bunte Gemisch aus Beton, Naturstein, Klinker und Asphaltflicken“ (HA vom 26.3.2018), den Ansprüchen einer zeitgemäßen Stadt nicht mehr genügten. Am 28. November 2005 tätigten Vertreter von Rat und Verwaltung den ersten Spatenstich für eine Grundsanierung der jetzt Bummelzone genannten Fußgängerzone. Das Düsseldorfer Landschaftsarchitekturbüro Scape überplante das ganze Gelände von ca. 22.000 m2 (darin sind auch angrenzende Straßen enthalten), teilte es in vier Bauabschnitte auf, fügte Bänke ein, Bäume, Spielgeräte und ersetzte den vorhandenen Brunnen durch ein Wasserspiel unter der großen Platane an der Ecke zur Weststraße. Eine Besonderheit waren die Leucht-Intarsien im zentralen Bereich, die aber schon sehr bald defekt waren. Zu groß war wohl die Belastung durch z.B. die schweren Schaustellerfahrzeuge bei Kirmessen. Der Clou aber war der aus China importierte Granit, der das Gros der veranschlagten gut 7 Millionen Euro verschlang. Einigen Ärger gab es, als drei Vertreter der Stadtverwaltung extra zur Begutachtung dieser Steine nach China flogen. Kostenpunkt: 3.000 Euro. Die vorausberechneten Kosten für die Innenstadtsanierung betrugen ca. 7,5 Millionen Euro, als die Schlußabrechnung um 380.000 Euro günstiger wurde, erstarb der Protest. Offizieller Fertigstellungstermin war der 9. Juli 2009. Eine Befragung der Markthändler ergab, daß eine Mehrheit wegen der Enge auf dem Markt wieder zum Willy-Brandt-Platz zurückkehren wollte.

Der Markt – das Attribut „alt“ braucht er nicht mehr – ist heute das Zentrum der Außengastronomie in Kamen, bei fast mediterraner Atmosphäre läßt es sich hier gut verweilen. Der Willy-Brandt-Platz ist eher Geschäftsbereich geworden, wo von der Sparkasse bis zu den meisten wichtigen Geschäften in Kamen vieles vertreten ist, vor allem auch, weil es von hier den direkten Anschluß an das Kamen Quadrat in der Kampstraße gibt.

Nachtrag:

Abb. 17: Gerade zu erkennen, der „Mohr-Pavillon” (hellbraun)  zwischen Schlecker und der Sparkasse

Inzwischen (Stand Anfang Juli 2019) hat der WBP eine Verwandlung erfahren. Der große Pavillon, der früher das Reisebüro Mohr beherbergte, wurde umgestaltet und den Anforderungen der heutigen Gesellschaft an ökologisch orientierte Mobilität angepaßt. Er ist jetzt ein Fahrradparkhaus mit Platz für 80 Fahrräder. Gegen € 20,00 Pfand erhält der Nutzer einen Chip, der ihn zur Nutzung dieses Hauses und aller weiteren Fahrradabstellplätze im Kreis berechtigt, die von der AWO-Tochterfirma DASDIES betrieben werden.

Abb. 18 : Der kleine Pavillon

Weiterhin ist der kleine Pavillon verschwunden, in dem früher der kleine Tabak- und Lotto/Totoladen Pankoke bestand. Danach gab es mehrere Versuche, neues Gewerbe anzusiedeln, alle mißlangen. Jetzt wird es hier einen neuen Zugang zur Tiefgarage geben. Sei Verschwinden trägt dazu bei, dem WBP den überwiegenden Charakter einer Straße zu nehmen und ihn mehr wie einen „Platz“ aussehen zu lassen.

KH

Quelle der Abb.: Abb.1: Stadt Kamen; Abb. 2: Heinz Stoob, Städteatlas Bd. 10, Dortmund 1975; Abb. 3, 5, 6, 8, 16, & 17: Stadtarchiv Kamen; Abb. 4, 7, 10, 12, 13 & 14: Archiv Klaus Holzer; Abb. 9, 11, 15 & 18: Photo Klaus Holzer

Zu Abb. 15: Die Platane vor Wolter ein gutes halbes Jahrhundert später. (Photo: KH)

Die Mühlenstraẞe in Kamen-Mitte

von Klaus Holzer

Sie wissen, daß es eine Mühlenstraße in Westick gibt? Aber Sie wissen nicht, daß es auch in Kamen-Mitte (damals noch ohne „Mitte“) eine Mühlenstraße gab? Kein Wunder, gibt es sie doch seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. nicht mehr. Es handelt sich bei ihr um das obere Stück der Bahnhofstraße, vom Markt bis zur Maibrücke. Sie führte also vom Mittelpunkt der Ackerbürgerstadt zu einem der wichtigsten Handwerke einer jeden mittelalterlichen Stadt: dem Müller. Eike von Repgow legt in seinem ca. 1220/30 entstandenen „Sachsenspiegel“ dar, für wie wichtig Mühlen damals gehalten wurden. Daraus ging klar hervor: Auf Mord, Beraubung einer Kirche, einer Mühle oder eines Friedhofs steht die Strafe des Räderns! Das war die schlimmste vorstellbare Strafe. Ausrauben einer Mühle wurde mit Mord, Schändung von Kirche und Friedhof gleichgestellt!

In dieser Abbildung ist übrigens die Ähnlichkeit des Mühlrades mit dem Kammrad im Kamener Stadtwappen, das aus derselben Zeit stammt, frappierend. 

Abb. 1: Eike von Repgow, Sachsenspiegel

Die Mühlenstraße war Teil des wichtigen Straßenkreuzes in Kamen, Ost–, Nord–, Weststraße, dazu Am Geist, die Diagonale über den Markt, und die Fortführung nach Süden zum Hellweg über die Mühlenstraße. Sie führte als einzige Straße über die Seseke und war durch ihre Lage und Bedeutung wohl die am stärksten frequentierte Straße. Dreimal in der Woche war in Kamen Markt, zweimal für je eine Woche Jahrmarkt, von Graf Adolf I., Grafen von der Mark, der zwischen 1249 und 1277 regierte, zugestanden und von Graf Adolf II am 4. Juli 1346 bestätigt. Dann  strömten Händler, Gaukler und Bauern in die Stadt, um Geschäfte zu machen, die Kamener mit allem zu versorgen, was sie nicht selber herstellen konnten, sie zu unterhalten und natürlich auch mit den neuesten Nachrichten aus aller Welt zu versorgen.

Abb. 2 – 4: Kaufleute, Gaukler und Bauern hatten alle ihren festen Platz in der Stadt

Die Brücke muß man sich bis gegen Ende des 18. Jh. als einfache Holzbrücke vorstellen, die jedoch den damaligen Ansprüchen wohl genügte, schließlich waren auch die Fuhrwerke der Händler meist recht bescheidene Fahrzeuge, deren Last nicht sehr hoch war. Pferde mußten sie bei jedem Wetter über unbefestigte Straßen ziehen können, die beim leichtesten Regen zu Schlammlöchern wurden.

Abb. 5: Ein Wagen, wie ihn die Hansekaufleute benutzt haben

Preußen hatte 1717 die Akzise wieder eingeführt, eine Steuer auf Waren, die beim Eintritt in eine Stadt zu entrichten war. Das machte man nun in jeder Stadt, überall hatten Händler diese Steuer zu entrichten, was die Geschäfte beträchtlich behinderte. Schon damals taten sie daher etwas, was auch heute noch Usus ist: sie schlugen die Kosten der Akzise auf den Preis auf (heute ist das die MWSt). Schließlich erkannten die preußischen Behörden das Problem und schafften die Steuer gegen Ende des Jahrhunderts wieder ab.

Das scheint zu einem Anwachsen des Handels geführt zu haben, vielleicht auch zu größeren Fuhrwerken. Wie auch immer, es fällt auf, daß die Stadt Kamen zur selben Zeit, 1797, die Notwendigkeit erkennt, die „Homeybrücke“1 zu erneuern, und nicht nur wieder eine Holzbrücke, sondern jetzt eine richtige Steinbrücke zu bauen.

Aber Kamen ist arm, der Glanz und Reichtum der Hansezeit sind lange dahin. Man tat das, was ebenfalls auch heute noch üblich ist: man nimmt Darlehen auf. Aber es gibt noch keine Sparkassen und Banken. Man muß sich das Geld bei reichen Bürgern leihen. 

Hier eine Aufstellung dieser Darlehen:

10. Juni 1797, 500 Reichsthaler von Doktor Proebsting2, städt. Einnahmen als Pfand,

10. Juni 1797, 500 Reichsthaler von Prediger Hecking in Bönen, städt. Einnahmen als Pfand,

10. Juli 1798,  395 Reichsthaler von Stadtkämmerer Rediger, städt. Einnahmen als Pfand,

10. Juli 1798, 200 Reichsthaler vom Armenhospital in Kamen, städt. Einnahmen als Pfand, 14 Tage später von der Kriegs- und Domänenkammer in Hamm3 genehmigt. Insgesamt lieh sich die Stadt also 1595 Reichsthaler.4

Die zwei Darlehen vom Juni 1797 sind ausdrücklich zur Bezahlung der Kosten für die neue Steinbrücke über die Seseke gedacht, die beiden von 1798 ebenfalls für die Steinbrücke, doch auch, und das ist bemerkenswert, für das Straßenpflaster. 1798 wird die Mühlenstraße als erste Straße in Kamen mit einem Steinpflaster versehen!

Es dauerte lange, bis Kamen diese vier Darlehen getilgt hatte. Das an Hecking war am 15. November 1825 getilgt, das Rediger-Darlehen am 2. Dezember 1829, das des Armenhospitals am 9. Juli 1838. Von der Tilgung des Darlehens von Dr. Proebsting ist in diesen Urkunden nichts zu finden.

Im Vergleich zu der Gewaltleistung, die der Bau der Stadtmauer bedeutete, waren der Bau der Brücke und die Pflasterung der Straße sicherlich leicht zu bewältigen5. Spätestens Anfang des neuen Jahrhunderts dürfte beides fertig gewesen sein. Bis 1923 war diese Brücke die einzige Straßenbrücke in Kamen. Sogar die Kleinbahn UKW6 hat sie noch erlebt. Dann aber war sie unrettbar beschädigt. Sie mußte abgerissen und eine neue gebaut werden.

Abb. 6: Die alte Maibrücke, 1985

 2001 wurde sie saniert und vom motorisierten Verkehr befreit. Heute ist sie Bestandteil des neuen Sesekparks, der im Jahre 2018 der Kamener Bevölkerung übergeben wurde.

Abb. 7: Die neue Maibrücke

Quelle der Abbildungen:

Abb. 1: aus: Aufruhr 1225! Das Mittelalter an Rhein und Ruhr, Darmstadt 2010; das Mühlenrad (oben) auf einer Darstellung im Sachsenspiegel des Eike von Repgow aus den 1220/30er Jahren, wie es auch im Kamener Stadtwappen zu sehen ist.

Abb. 2: Bernd Fuhrmann, Die Stadt im Mittelalter, Stuttgart 2006, S. 57

Abb. 3: Bernd Fuhrmann, Die Stadt im Mittelalter, Stuttgart 2006, S. 27

Abb. 4: Stadtarchiv Kamen

Abb. 5: Archiv Klaus Holzer

Abb. 6: Wikipedia

Abb. 7: Photo Klaus Holzer

1 Zur Erklärung des Namens vgl. Artikel „Maibrücke“

2 Wahrscheinlich Dr. med. Philipp Ludwig Pröbsting, geb. 26. Mai 1735, gest. 23. April 1812, der Großvater des bekannten Stadtchronisten.

3 Die Reichs- und Domänenkammern wurden in Preußen 1723 als Provinzialbehörden eingeführt, ab 1815 in die preußischen Bezirksregierungen umgewandelt.

4 Auch wenn heute nicht mehr sinnvoll erschlossen werden kann, wieviel diese Summe seinerzeit wirklich bedeutete, wird aber im Verhältnis ersichtlich, was für eine gewaltige Summe das war, wenn man einmal die Zahlen für einen städtischen Haushalt damit vergleicht. Pröbsting führt in seiner Kamener Stadtgeschichte detailliert auf, wie die Zahlen für 1702 sind: Einnahmen – 867 Thaler, 45 Stüber; Ausgaben: 963 Thaler, 9 Stüber; das ergibt einen Negativsaldo von 96 Thalern, 4 Stübern! Auch wenn die Zahlen fast 100 Jahre später vielleicht etwas andere sind, die prekäre Situation wird deutlich. Versuch der Annäherung des Wertes des Reichsthalers um jene Zeit: 1818 erhielt ein Schullehrer, der gleichzeitig Organist und Küster war, 100 Reichsthaler im Jahr. 

5 vgl.a.Artikel „Mühlentorweg“

6 So hieß die Straßenbahn, die von 1909 bis 1950 zwischen Unna, Kamen und Werne verkehrte.

KH