Kamener Köpfe: Dr. Walter Elger

von Klaus Holzer

Dr. Walter Elger, geb. 25. Dez. 1938

Abb. 1: Dr. Walter Elger, geb am 25. Dezember 1938 in Kamen

Exkurs 1: Als Thomas Robert Malthus (14. oder 17. Feb. 1766 – 23. Dez. 1834) im Jahre 1798 seinen „Versuch über das Bevölkerungsgesetz“ formulierte, wonach die Bevölkerungsgröße durch die verfügbare Nahrungsmittelmenge begrenzt und bestimmt sei, waren seine Grundannahmen zwar falsch, doch hatte er ein Problem erkannt, das bis heute im Kern nicht gelöst ist. Er postulierte, die Bevölkerung wachse in geometrischer Progression, also in gleichbleibenden Wachstumsraten bei immer größeren absoluten Werten, die Nahrungsmittelproduktion dagegen in arithmetischer Progression, also mit gleichbleibenden absoluten Zuwächsen. Daher reiche die Erde irgendwann nicht mehr aus, alle Menschen zu ernähren. Hunger führe zwar zu erhöhter Sterblichkeit, doch sei sexuelle Enthaltsamkeit zusätzlich vonnöten. Auf dieser Grundlage kam es bereits im 19. Jh. in den USA zu ersten Überlegungen von Geburtenkontrolle. Daß Malthus damit die Menschen insgesamt überforderte, ahnte er möglicherweise schon, doch gab es zu seiner Zeit eben noch keine anderen Möglichkeiten.

Obwohl Malthus also mit seiner Theorie falsch lag – heute ernährt die Erde etwa 7,5 Milliarden Menschen, für 2050 sind 10 Milliarden prognostiziert – hatte er doch ein Problem erkannt, das sich auch uns Heutigen stellt. Die Grundfrage ist geblieben: Wie können wir eine ständig wachsende Erdbevölkerung auf den ständig abnehmenden Landressourcen ausreichend ernähren? Wenn wir das Klimaproblem mal außen vor lassen.

Diese Frage war in den 1960er Jahren besonders virulent und wurde unter den Stichworten „Familienplanung“ und „Geburtenkontrolle“ behandelt. Konrad Adenauers, in einem anderen Zusammenhang gemachtes, Diktum „Kinder kriegen die Leute immer“ erweist sich aus heutiger Sicht als falsch, zu unserem Glück. Doch gilt das nur für hoch entwickelte (Industrie)Gesellschaften, in vielen Ländern, vor allem Afrikas und Südamerikas, sind die Geburtenraten immer noch exorbitant hoch, das Problem verschärft sich weiter. Geburtenkontrolle scheint nötiger denn je. Doch stehen ihr ökonomische, ethische, religiöse, traditionelle Ansichten entgegen. Dabei gibt es den Willen zur Aufklärung, die Mittel zur Durchführung. Die Hormonforschung der 1960er Jahre brachte den entscheidenden Durchbruch.

Man mag es kaum glauben, aber unser kleines Kamen ist in diesem Zusammenhang der Ausgangspunkt einer entscheidenden Entdeckung, auch wenn dieser Zusammenhang weder beabsichtigt war noch auf den ersten Blick offenkundig, und schon gar nicht der große Plan. Er ergab sich einfach.

Am 25. Dez. 1938 wird Walter Elger (WE) hier geboren (ein weiteres Kamener „Weihnachtskind“, 374 Jahre nach Johannes Buxtorf), zweites von vier Kindern des Kamener Zahnarztes Dr. Walter Elger und seiner Frau Irmgard. Walter wurde Schüler des Städtischen Neusprachlichen Gymnasiums Kamen und hatte das Glück, auf zwei Lehrer zu stoßen, die seinen Lebensweg prägen sollten. Da war zum einen Günther Heermann, (1924 – 2006) durch den WE verstand, daß diszipliniertes Arbeiten, verbunden mit guten Kenntnissen der Muttersprache, grundlegende Voraussetzung für alles ist. Zum anderen aber auch Karl „Egon“ Seliger (1914 – 1991), der als Biologielehrer in seinen Schülern eine Begeisterung für die Biologie zu wecken wußte, wie es nur Naturtalente unter den Lehrern vermögen.

Abb.: 2: Günter Heermann

Abb. 3: Karl „Egon“ Seliger

Exkurs 2: An „Egon“ Seliger kam ab den 1950er Jahren kein Schüler des Kamener Gymnasiums vorbei. Die damals üblichen Strafarbeiten für alles mögliche Fehlverhalten ersetzte er durch das Mitbringen von 10, 20, 30, in argen Fällen schon einmal 50 oder gar 100 Regenwürmern, die als Futter für die unterschiedlichsten Tiere in seiner Biologie-Sammlung dienten. War im Winter der Boden fest gefroren, konnte man die Würmer auch durch entsprechende Mengen an Hühnerfutter ersetzen. (Was auch eine interessante Reminiszenz an das alte Kamen erzeugt: es gab damals mehrere Futtermittelhandlungen in Kamen, und zwar weil viele Kamener noch selber Hühner und anderes Getier hielten.) Er konnte alles gebrauchen. Unter den solcherart geplagten Schülern kursierten Rezepte, wie man auch im Winter an Regenwürmer kommen könne, allein um Egon zu überraschen, (außerdem kostete Hühnerfutter Geld, und das hatte keiner): man müsse ein Fleckchen Erde mithilfe eines Minus- und eines Pluspols einer Batterie unter elektrischen Strom setzen, dann würden die Würmer nur so aus der Erde springen. Ein todsicheres Rezept. 

Legendär auch der Versuch, dem kein Schüler entging: auf Bananenmatsch setzte Egon ein Pärchen Drosophila mit bestimmten Merkmalen, wie z.B. Geschlecht, Flügellänge, Augenfarbe usw. Der Schüler mußte dann nach einiger Zeit, in bestimmten Abständen, die Nachkommenschaft zählen – wir reden hier von ca. 15.000 winzigen Fliegen – und die Verteilung der Merkmale in den folgenden Generationen errechnen. Ein probates Mittel, um Gregor Mendels Vererbungslehre zu belegen. Man mußte nicht nur furchtbar viel zählen, man hatte auch keine Ahnung, welche Merkmale das Elternpaar aufwies und mußte dann noch das richtige Ergebnis bringen!. Das machte Schummeln schwer, aber nicht unmöglich. Hier war wahrer Forschergeist gefragt, weil Egon nicht leicht hereinzulegen war.

Und, nur bei wenigen beliebt, die AG Sezieren. Zu den monatlichen Sitzungen brachte Egon Tiere mit, Hunde, Katzen, Vögel, Igel, alles was er tot am Straßenrand gefunden hatte. Sagte er wenigstens. Und dann saß man zu zweit, zu dritt oder zu viert an einem toten Tier und schnibbelte an dem Inneren herum, identifizierte Organe, trennte sie heraus, reinigte sie, beschrieb sie, nahm Gewebeproben und betrachtete sie unter dem Mikroskop usw.

Und allgemein standen Schüler Schlange (man mußte dann in den Pausen nicht das Schulgebäude verlassen, heute wie damals wichtig), um die Riesenmenge an lebenden Tieren zu füttern: Vögel in den Volieren, Fische in den Aquarien, darunter ein großer Wels, der mit jüngsten Mäusen gefüttert wurde, nachdem man diese mit einem kräftigen Schlag auf eine Tischkante getötet hatte, sie am Schwanz haltend. An Mäusen bestand kein Mangel, 2.000 waren es gewiß, die in den vielen Terrarien lebten: „normale“ Mäuse und weiße, zimtfarbene Mäuse, solche mit weißer Schnauze, mit weißen Ohren, weißer Schwanzspitze, zwei oder vier weißen Pfoten usw. Das Ziel waren zimtfarbene Mäuse mit weißem Schachbrettmuster. Mendel!

Wie sollte ein naturbegeisterter Kamener von einem solchen Unterricht nicht mitgerissen werden?

„Egon“ verstand es wie kein zweiter, seine Begeisterung für die Biologie auf seine Schüler zu übertragen. Wohl kein zweiter Lehrer des Städtischen Neusprachlichen Gymnasiums Kamen übte einen größeren Einfluß auf die Lebenswege junger Menschen aus als er. Seinetwegen studierten viele Biologie und wurden selber Biologielehrer.

1957 ergab sich für WE die Möglichkeit, von Frl. Jellinghaus am Schlachthof einige Bienenvölker samt dazugehöriger Ausrüstung zu übernehmen. Das kostete ihn die damals unglaublich hohe Summe von DM 100,-, eine Investition, die sich allerdings nach einem Jahr durch den Verkauf seines ersten Honigs amortisiert hatte. Aus der Zeit stammt sein Spitzname „Dralle“: in Wilhelm Buschs „Schnurrdiburr oder Die Bienen“ taucht ein reichlich chaotischer Imker namens Hans Dralle auf. Während seines ganzen Lebens blieben Bienen Dralles Hobby, noch heute stehen sechs Völker in seinem Berliner Garten. Großstadtbienen nur als Mode, die sich nach Natur sehnende Großstadtromantiker halten? Die auch „urban gardening“ betreiben? Nicht mit Dralle!

Abb. 4: Hans Dralle

1960 macht WE Abitur, will Biologie studieren. Doch wie macht man das? Es gab schon so etwas wie eine Studienberatung, doch wußte der Berater über das Studium der Biologie genau so wenig wie Walter, riet ihm stattdessen zu Medizin. Walter ging nach Münster und wurde stud. med. Gemeinhin machte man als Medizinstudent damals das Physikum, eine Zwischenprüfung, nach dem 5. Semester. WE bekam die Note 2, war unzufrieden, ging zu seinen Prüfern und erklärte ihnen, er könne diese Note nicht akzeptieren, er sei besser. Man einigte sich darauf, ihn sich noch einmal vorzunehmen. Fünf Professoren prüften ihn auf Herz und Nieren. WE bekam seine 1!

1964 fand er es an der Zeit, sich um ein Promotionsthema zu kümmern. Ein Arzt ohne Doktortitel war damals unvorstellbar, „Arzt“ und „Doktor“ sind ja auch heute noch synonym. Doch Geld war knapp. Da erzählte ihm jemand: „Geh doch zu Schering nach Berlin. Die bezahlen dich sogar dafür.“ Damals war Schering ein Pionier auf dem Gebiet der Hormonforschung, und WE wurde als Student im Institut für Endokrinologie unter der Leitung von F. Neumann angestellt.

Es war ein Glückstreffer! Schon sechs Wochen nach seinem Antritt bei Schering 1964 landete WE einen Volltreffer! Er ist der Entdecker des Zweiten Sexualhormons! Er steht in der ersten Reihe der großen Sexualforscher. Und er entwickelte das weltweit erste bedeutsame Antiandrogen, aus dem später die Produkte Androcur und Diane hervorgingen. 

Abb. 5 & 6: Hommage à Walter Elger

Die Entwicklung eines Embryos zum Männchen oder Weibchen beginnt bereits kurz nach der Befruchtung. Sie hängt vom Fehlen bzw. Vorhandensein eines bestimmten Hormons ab. Dieser Umstand selber ist seit langem bekannt. Um aber verstehen zu können, wie die Geschlechtshormone in allen Entwicklungsstufen funktionierten, war früher ein äußerst schwieriger chirurgischer Eingriff nötig, die Hypophysektomie. Dieser wurde durch die Entdeckung WEs überflüssig, weil man nun das Antiandrogen einfach in den Körper einsetzen konnte. Er lieferte dabei den Nachweis, daß in der embryonalen Sexualentwicklung neben Testosteron ein zweites Hormon eine entscheidende Rolle spielt.

Wie muß man sich das nun konkret vorstellen? Das Antiandrogen hebt die Wirkung des Testosterons auf das Hirn auf. Die An– oder Abwesenheit von Testosteron bestimmt männliches oder weibliches Verhalten in einem Lebewesen. Es ist z.B. weibliches, mütterliches Verhalten, ein aus dem Nest gefallenes Junges dorthin zurückzuholen, was ein Männchen natürlicherweise nicht tut. Wird das Testosteron jedoch durch das Antiandrogen zerstört, entwickelt das Tier weibliches Verhalten.

Dieses Thema ließ WE fortan nicht mehr los. Es wurde das Thema seiner Doktorarbeit. Als er sie fertiggestellt hatte, schickte er sie dem damals berühmtesten Hormonforscher zur Begutachtung zu, dem Franzosen Joost. Der hatte bis dato Rattenföten (!) die Hoden wegoperiert! Diese entwickelten sich daraufhin immer weiblich. Er schloß daraus, daß es noch ein zweites Hormon geben müsse und blieb, trotz scharfer Anfeindungen aus den USA, bei seiner Hypothese, konnte sie aber nicht beweisen. Als Joost WEs Dissertation liest, ist er begeistert. Hier ist der ihm fehlende Beweis! Mit dem Hemmstoff kann manches verändert werden, manches auch nicht, aber die Dissertation aus Deutschland beweist die Existenz dieses zweiten Hormons. Als Joost kurz darauf einen Vortrag zum Thema in Mailand hält, beginnt er mit folgenden Worten: „Zum ersten Mal in meinem Leben halte ich nicht meinen eigenen Vortrag, sondern den eines Studenten aus  Deutschland.“ 

Abb. 7: WEs Dissertation auf Deutsch in einer französischen Fachzeitschrift

WEs Entdeckung erregt internationales Aufsehen, seine Dissertation wird als bisher einzige Arbeit im renommiertesten französischen Fachmagazin auf Deutsch publiziert (was er heute für einen Fehler hält. Die Veröffentlichung auf Englisch hätte für eine raschere und größere Verbreitung gesorgt). Noch als Student kam WE auf die erkleckliche Anzahl von 10 Veröffentlichungen, der Gradmesser für erfolgreiche Wissenschaft. Diesen Teil seines Lebens als Wissenschaftler nennt WE heute den „Operettenteil“, wohl weil alles so leicht ging und so schön und unwirklich war wie in einer Operette.

Nach dem medizinischen Staatsexamen im August 1966 in Münster folgt die Promotion in Berlin ein gutes Jahr später. 

Titel der Dissertation: „DIE ROLLE DER FETALEN ANDROGENE IN DER SEXUALDIFFERENZIERUNG DES KANINCHENS UND IHRE ABGRENZUNG GEGEN ANDERE HORMONALE UND SOMATISCHE FAKTOREN DURCH ANWENDUNG EINES STARKEN ANTIANDROGENS.“


Abb. 8 & 9: : Zusammenfassung von WEs Dissertation

Noch im selben Monat wurde diese Arbeit in den „Archives d’Anatomie Microscopique et de Morphologie Expérimentale“ veröffentlicht, in Tome 55, No. 4 (1966): 658 – 743. 

Abb. 10: WEs Promotionsurkunde

Daß die Benotung seiner Dissertation am 4. Dezember 1967 „summa cum laude“ lautet, ist bei diesen Umständen kein Wunder, eine bessere Note gibt es aber nun einmal nicht. Wie bedeutend seine Entdeckung ist, ergibt sich auch daraus, daß WE schon im Jahr darauf, 1968, den Schoeller-Junkmann-Preis erhält, die höchste in Deutschland zu vergebende Auszeichnung der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie. Da lag sein 30. Geburtstag noch vor ihm! Er erhielt sie zusammen mit seinen Berliner Kollegen H. Steinbeck und F. Neumann für ihre Arbeit zum Thema „Studies of normal and disturbed sexual differentiation“ („Studien in normaler und gestörter sexueller Differenzierung“). Bemerkenswert: Sein Name steht an erster Stelle. Noch bemerkenswerter: Heute steht sein Name oft an letzter Stelle, durch ein „und/and“ hervorgehoben. Das bedeutet so viel wie: Übervater, Eminence grise, Elder Statesman. Mehr geht nicht.

Abb. 11: Veröffentlichung in einer der wichtigsten wissenschaftlichen Zeitschriften:  Elsevier

Der junge Arzt kommt für kurze Zeit nach Kamen zurück, famuliert am Kamener Krankenhaus, operiert gar, ohne jede Erfahrung, weil der Ärztemangel riesig war. „Haarsträubend“ nennt er das rückblickend selber. Heute undenkbar. 

Daß WE danach wieder nach Berlin will, zu Schering, ist selbstverständlich. Er genehmigt sich eine Urlaubswoche auf Sylt, dann geht’s dahin zurück, zu den besten damals vorstellbaren Arbeitsbedingungen. Und dann ging es für den jungen Wissenschaftler steil aufwärts auf der Erfolgsleiter:

bis 1973 wieder in seiner „alten“ Gruppe in Neumanns Department for Experimental Endocrinology“ (Abteilung für Experimentelle Endokrinologie)

1971 – 1980 die ersten vier Jahre Leiter der Gruppe „Prostaglandine“

ab 1974 ihr Leiter; die Gruppe wird 1986 umbenannt in „Experimental Gynaecology & Fertility Control (Experimentelle Gynäkologie und Fruchtbarkeitskontrolle)

1975 – 1991 Mitglied und Vorsitzender der Projektgruppen Gestagene und Antigestagene

1975 – 1991 Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin: „Reproduktive Physiologie und Pharmakologie“

1980 – 1986 Vorsitzender der Forschungsgruppe Vorklinische Reproduktionsforschung

1982 – 1990 Mitglied eines Komitees innerhalb der Schering AG, die Forschung, Entwicklung und Vermarktung der gesamten präklinischen pharmakologischen und chemischen Forschung koordinierte

1988 – 1991 Vorsitzender der Einsatzgruppe „New Estrogen“ (Neues Östrogen)

Und zu allen seinen Aufgaben kam 1975 noch hinzu, daß die Schering AG WE als ihren Repräsentanten zur WHO, der Weltgesundheitsorganisation, entsandte, wo er bis 1991 in verschiedenen Arbeitsgruppen mitarbeitete: Prostaglandine, Antiprogestine, Reproduktive Toxikologie.

In seinem langen Leben als Wissenschaftler hat WE in Firmen mitgearbeitet, meist in leitender wissenschaftlicher Funktion, hat Lehraufträge erhalten und durchgeführt, hat seinen Mann gestanden in internationalen Organisationen, hat viele Arbeits- und Forschungsgruppen wie auch Delegationen geleitet, hat 16 Jahre lang Schering bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) repräsentiert, war der entscheidende Gutachter beim Schweinefutterskandal vor dem Gericht in Arnheim/NL, erhielt Gastprofessuren in den USA und in Indien, war Berater für viele Institutionen und Firmen, wurde oft zu Gastvorträgen eingeladen, die immer großes Fachpublikum anzogen, erhielt über 200 Patente, verfaßte über 150 Publikationen, die zitiert wurden, schrieb viele Artikel für Fachbücher – und das alles neben seiner Tätigkeit als Forscher im Labor!

Am 30. September 1991 endete WEs Arbeit bei der Schering AG. Wie konnte es nach dieser erfolgreichen Zeit zu einem solchen abrupten Ende der Zusammenarbeit kommen? Werfen wir einen Blick zurück auf die Entdeckungen und Entwicklungen, die WE in seiner Zeit bei Schering machte.

Als Leiter der Gruppe „Prostaglandine“ entdeckte er den Wirkstoff Sulproston, der zu dem Medikament/Produkt NALADOR führte, in Zusammenarbeit mit dem US-Pharmariesen Pfizer. Dieses Medikament wird bei postpartum Blutungen in der pathologischen Schwangerschaft  eingesetzt und stoppt nachgeburtliche Blutungen nach Totgeburt.

Während dieser Zeit wurde ein Prostaglandin entwickelt, das die Synchronisierung des Zyklus bei Schafen erlaubt. Was müssen wir uns darunter vorstellen? Ein Schäfer, z.B. in Spanien oder Wales, hat eine Herde Schafe, sagen wir 400 Tiere. Alle weiblichen Tiere sollen trächtig werden, davon lebt die Herde und auch der Schäfer: die Herde soll sich reproduzieren. Wenn nun jedes als Muttertier in Frage kommende Schaf zeitlich einen anderen Zyklus hat, ist die Trächtigkeit nicht gewährleistet. Gelingt es nun, alle Zyklen zu synchronisieren, kann durch künstliche Besamung gleichmäßige Trächtigkeit (und mit kontrolliert-erwünschten Erbmerkmalen) erzielt werden. Was für den Schäfer eine enorme Erleichterung darstellt und sein wirtschaftliches Überleben ermöglicht. Diese Lizenz wurde an ein spanisches Unternehmen vergeben.

Die Gruppe Gestagene und Antigestagene entdeckte und entwickelte unter WEs Leitung den Wirkstoff „Drospirenon“, aus dem die „Pillen“ YASMIN, PETIBELLE und ANGELIQ hervorgingen, und die Verkaufsschlager Lilopriston und Onapriston. Nach WEs Aussage ist Drospirenon heute (2018) der Wirkstoff, der das ehemalige Schering-Werk, heute Bayer-Werk, in Bergkamen gutes Geld verdienen läßt. Unter dem Vorsitz WEs entwickelte die Arbeitsgruppe „Neues Östrogen“ die Wirkstoffe Cyclodiol und Cyclotriol.

Drospirenon war anfangs ein umstrittenes Präparat. In den 1950-70er Jahren gab es sehr viel potentere Wirkstoffe für die Antibabypille, die allerdings eine relativ hohe Dosierung verlangten und daher nicht ohne Nebenwirkungen waren. Diese Dosis von 3 – 4 mg pro Tag konnte durch Drospirenon auf 0,5 mg pro Tag gesenkt werden. Es war wesentlich besser verträglich, weil es zwei Dinge in einem Durchgang regulierte, den Salz– und den Wasserhaushalt des Körpers während der Schwangerschaft. Doch wollte Schering dieses Produkt zunächst nicht haben, obgleich es patentiert worden war. Offenbar verkannte man die großen Möglichkeiten, die in Drospirenon steckten und verfolgte daher die im Patent liegenden Rechte nicht. Im Gegenteil, man stritt sich mit WE, der immer von seiner Entdeckung überzeugt war, auseinander. 

Aus heutiger Sicht spricht alles für WE und Drospirenon. Seit 2020 nimmt die Zahl der Veröffentlichungen über dieses Hormon stark zu, weil seine Vorzüge immer deutlicher zutage treten, vor allem, weil es ohne die Nebenwirkungen, die bei allen anderen Kontrazeptiva auftreten, sehr wirksam ist. WE wird in allen seinen Aussagen zum Thema bestätigt. 

Was besonders erstaunlich ist: In WE, mittlerweile 84 Jahre alt, und nicht mehr bei bester Gesundheit, regt sich erneut der jugendliche Forscherdrang: Er denkt über neue Anwendungsmöglichkeiten „seines“ Wirkstoffes nach. Wie kurzsichtig war doch Schering, wie weitsichtig WE, der durch nachfolgende Forschergenerationen in vollem Umfang bestätigt wird.

Wenn man verstehen will, warum das so war, muß man auf die Stimmung Anfang der 1980er Jahre zurückblicken. Abtreibung und „die Pille danach“ waren ein kontroverses Thema.

Exkurs 3: 

Die Grundlagen für die Antibabypille legte der gebürtige Österreicher-Bulgare, naturalisierter US-Amerikaner, Dr. Carl Djerassi schon 1951. In den folgenden Jahren entwickelte er mit den Pharmakologen Gregory Pincus und John Rock die erste hormonell wirkende Pille zur Schwangerschaftsverhütung, die 1957 in den USA zugelassen wurde. Als die Debatte über die Moral und die Pille in Europa in den 1960er Jahren an Fahrt aufnahm,, war „Die Pille“ also eigentlich schon etabliert. Und Fortschritt, so er einmal in der Welt ist, läßt sich nicht mehr zurücknehmen, ideologischer Streit hin oder her.

Professor Etienne-Emile Baulieu hatte schon 1980 die Abtreibungspille für die Firma Roussel-Uclaf erfunden, eine Tochterfirma der deutschen Höchst AG. Die Franzosen brachten die Pille 1988 unter dem Arbeitsbegriff RU 486 auf den Markt. Sie sollte die Geburtenkontrolle ermöglichen, auch und vor allem in den Ländern der Dritten Welt.

Sie stellten sie den Frauen unter strengen Auflagen zur Verfügung. „Die Pille danach“ ein willkommenes Mittel, die geschätzten 40 bis 60 Millionen Abtreibungen jährlich auf der Welt durch eine sanfte Methode ersetzen zu können. Immerhin gab es wegen der Illegalität viele Todesfälle bei von Pfuschern oder den betroffenen Frauen selbst vorgenommenen Abtreibungen. Sie wurde als Heilsbringer begrüßt, erlaubte sie Frauen doch ein stärker selbstbestimmtes und dazu noch ungefährlicheres Leben. Dagegen standen die Gegner der Abtreibung, die sie als „Insektenvertilgungsmittel gegen das menschliche Leben“ verteufelten, gar das Wort „Mord“ in den Mund nahmen. Und natürlich befürchteten manche auch Sittenverderbnis. Dabei spielte u.a. die Geschichte der IG Farben, wozu auch Höchst gehört hatte, während der nationalsozialistischen Zeit eine Rolle. Zu schnell tauchte die Erinnerung an die Euthanasie-Programme der Nazis in diesem Zusammenhang auf. Daher wollte Höchst die Pille auf keinen Fall in Deutschland anbieten.

Schering wollte dieses Anti-Progesteron-Präparat (Progesteron ist ein Eierstockhormon) zunächst nur zur Behandlung von Brustkrebs oder Endometriose, einer Wucherung der Gebärmutterschleimhaut, auf den Markt bringen. Für die Indikation Abort, also Abtreibung, sei das Mittel derzeit nicht vorgesehen, hieß es. Das stand in Gegnerschaft zu der Absicht des Entdeckers und Erfinders dieses Mittels, WE. Der war der Repräsentant der Schering AG bei der WHO in Genf, die sich intensiv mit dem Thema Geburtenkontrolle auseinandersetzte. Auch hier ging es kontrovers zu, doch mit einem politischen und wirtschaftlichen Hintergrund, der die internationale Kooperation zum Wohle der Menschheit z.B. im Rahmen der WHO in ein ganz schlechtes Licht taucht. Und wie so oft waren es auch in diesem Fall die Amerikaner, die unter dem Vorwand moralischen Handelns ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen durchzudrücken versuchten. Es war eine prekäre Zeit der notdürftig erhaltenen Ost-West-Balance. Bei der WHO, die für den Bereich der Geburtenkontrolle so etwas wie die Weltregierung darstellte, intervenierten die USA gegen RU 486. 

Das gehörte in WEs Arbeitsgebiet. Vehement vertrat er die Position der WHO, die dieses Thema vorantrieb, weil sie erkannt hatte, daß ohne Vorsorge auf diesem Gebiet der Bevölkerungszuwachs sich zu einem Problem entwickeln würde. In dieser Situation stellt das Schering-Team um WE nun seinen neuen Wirkstoff in Genf vor. Er verspricht, das eben erkannte Problem in den Griff zu bekommen. Hier setzten die Amerikaner an und betrieben intensive Lobbyarbeit, um die WHO zu stoppen. Das macht man am besten, wenn man direkt zum Hersteller geht und ihm droht, er werde Probleme mit seinen Medikamenten bei Zulassung und Absatz in den USA haben, dem größten Markt für pharmazeutische Produkte. Ob die Abtreibungspille sich durchsetzen würde, hing jedoch wesentlich davon ab, ob und unter welchen Bedingungen diese Pille ihren Weg dorthin finden würde. Hier war aber die militante „Right-to-Life“-Bewegung besonders aktiv, die „eine Art sozialen Bürgerkrieg gegen Abtreibungskliniken entfesselt hatte und sich gegen jede Art von Abtreibung“ wandte (Der Spiegel, 23.9.1991).

Diese Situation führt dazu, daß Schering seinen Delegationsleiter WE der WHO mitteilen läßt, daß das Produkt  noch nicht entwickelt sei, es also nicht zur Verfügung stehe. Dieser Delegationsleiter aber steht jetzt seinen Mann. In seinem Bericht von der Konferenz in Genf distanziert er sich in klaren Worten von der Entscheidung des Vorstandes der Schering AG!

Es fand also keine klinische Entwicklung statt, die notwendig gewesen wäre, um das Präparat als Abtreibungspille auf den Markt zu bringen. Schering blockierte. Nun läuft aber jedes Patent in diesem Bereich nach 20 Jahren ab, dann kann jeder das Medikament herstellen. Das ist der Markt der Generika. Daraufhin beantragte WE ein sogenanntes Notpatent, d.h., es wurden die sekundären Wirkungen betont, ein neues Patent wurde erteilt. Und es wurde ein Riesenerfolg.  Der heute noch anhält: Die Schätzungen zum Bedarf und Verkaufserfolg erwiesen sich als völlig unzutreffend. Der tatsächliche Erfolg lag um den Faktor 50 höher als die Schätzungen.

Aber das Verhältnis zwischen Schering und seinem „wertvollsten wissenschaftlichen Mitarbeiter“ (Der Spiegel, 23.9.1991) war irreparabel beschädigt, Schering stellte die weitere Arbeit an diesem Wirkstoff ein, stellte WE kalt. 

Doch welcher Forscher mag sich von seiner Firma so behandeln lassen? Ein Forscher, der durch die Entdeckung und Entwicklung vieler Wirkstoffe und Medikamente mithalf, den Namen Schering in der Welt bekannt zu machen. Der Schering durch seine Forschung wie durch seine vielen internationalen Gutachten Respekt und Renommee verschafft hatte. WE verklagte Schering. Nach einem langen Prozeß stimmte er einem Vergleich zu, der ihm eine halbe Million Deutsche Mark einbrachte, viel zu wenig, ist die Überzeugung aller Experten, doch kostet ein Verfahren Geld, Zeit und Nerven, die anders besser einzusetzen sind, zumal für einen Forscher, der auf dem Zenith seiner Schaffenskraft steht.

Am 30. September 1991 war die Zusammenarbeit von WE und der Schering AG beendet. Man trennte sich im Streit. Der Spiegel schrieb damals: Auch das Berliner Pharmaunternehmen Schering, führend in der Herstellung und Entwicklung von Hormonstoffen, hat inzwischen ein Anti-Progesteron-Präparat entwickelt, das bereits klinisch erprobt wird. Testen jedoch läßt die Firma nur die Anwendung des Medikaments zur Behandlung von Brustkrebs oder Endometriose, einer Wucherung der Gebärmutterschleimhaut. Für die „Indikation Abort”, Abtreibungen also, ist das Mittel laut Schering „zur Zeit” nicht vorgesehen. Anfragen beantwortet die Firma nur mit lakonischen Fax-Botschaften. Firmenintern aber, weiß der Freiburger Gynäkologe Professor Meinert Breckwoldt, werde „auch im Hause Schering die Diskussion kontrovers geführt” – dem Vernehmen nach so heftig, daß sich das Unternehmen von einem seiner wertvollsten wissenschaftlichen Mitarbeiter trennte, dem Hormonforscher Walter Elger.“

Im Bereich der pharmakologischen Forschung sprach sich das natürlich schnell herum. Kein Wunder, daß man sich um einen so prominenten, weil erfolgreichen Wissenschaftler riß. 

Mit dem 1. Oktober 1991 beginnt die dritte Phase im Leben des WE. Sie hat damit zu tun, daß der Kommunismus zusammenbrach, die DDR aufhörte zu existieren. Die Treuhand übernahm die gesamte DDR-Wirtschaft und wickelte sie ab. Auf Deutsch: alles wurde verkauft, manches für einen Bruchteil seines Wertes. Viele Glücksritter kamen zum Zuge, rissen sich Firmen gegen das Versprechen eines Neuaufbaus und der Erhaltung von Arbeitsplätzen unter den Nagel. Einer der zum Verkauf stehenden Betriebe war Jenapharm, das auch für Schering hoch interessant war, doch ging der Zuschlag an eine Firma aus Hamburg, die GEA, die für wenig Geld zuschlug, aber ehrlich daran interessiert war, dort Forschung zu betreiben und Arbeitsplätze zu erhalten, günstige Voraussetzungen also.

Abb. 12: Jenapharm

1991 geht WE zu EnTec (Endokrinologische Technologie mbH) nach Hamburg und wird dort Geschäftsführer im Institut für Hormon– und Fertilitätsforschung (IHF) unter Prof. Leidenberger. Hier entwickelt er sein Forschungskonzept: Wie verbindet man Grundlagenforschung mit industrieller Herstellung? Um die Ergebnisse solcher Forschung in greifbare Produkte umzusetzen, bedurfte es eines industriellen Partners im Hormonsektor. 

Abb. 13: WE im Kreise seiner Mitarbeiter bei Jenapharm

WEs Wunschpartner war von vornherein Jenapharm, weil er dort alle Voraussetzungen für eine menschlich und wissenschaftlich gedeihliche und wirtschaftlich erfolgreiche Zusammenarbeit erkannte. Im Mai 1992 kauft Jenapharm 75% von EnTec, und erneut beginnt eine Zeit großer wissenschaftlicher Erfolge für WE. Noch im selben Jahr wird das erste Patent angemeldet, insgesamt werden es etwa 50! Er ist so erfolgreich, daß Schering schon nach zwei Jahren wissenschaftlich abgehängt, Jenapharm führend ist. In diese Zeit fällt auch die Zusammenarbeit mit der Takeda Abbott Pharmaceuticals (TAP) in Chicago, USA. 

Zusammen mit den frühen Jahren bei Schering betrachtet WE seine Jahre in Jena als die glücklichsten und fruchtbarsten seines Lebens: Harte Arbeit in einem guten wissenschaftlichen und kollegialen Umfeld, erfolgreiche Grundlagenforschung, die zu guten Medikamenten für die praktische Behandlung führte, wirtschaftlicher Erfolg, eingebunden in internationale Kooperation. Und auch die Anerkennung seiner persönlichen Leistung blieb nicht aus.

Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen IHF und EnTec wird eine Forschungsgruppe für „Reproductive Pharmacology“ (Reproduktive Pharmakologie) gegründet. Aus ihr geht wieder eine Reihe von Wirkstoffen hervor, die selbst von der FDA (Food and Drug Administration) in den USA für ihre klinische Erprobung zugelassen werden. Dazu muß man wissen, daß die FDA in den USA gefürchtet ist für ihre strengen Maßstäbe bei der Zulassung neuer Stoffe.

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Abb. 14: Eine Schering-Aktie

Im Mai 1996 jedoch geschieht etwas, das WE unangenehm sein muß: Schering kauft Jenapharm schließlich doch noch, muß allerdings inzwischen, weil es wertvolle Patente gibt, etwa 1 Milliarde DM dafür bezahlen, u.a. weil WE gerade vorher noch die Zulassung eines Medikamentes (Asoprisnil) gelingt, das die normale Menstruationsblutung unterdrücken und auch Blutungsstörungen im Zyklus der Frau verhindern kann. WE nennt das eine „Revolution für die frauenärztliche Sprechstunde“. Im normalen Zyklus ist es so, daß während Schwangerschaft und Stillen des Babys der Zyklus aussetzt, doch kommt es immer wieder zu Blutungen, die Anämie zur Folge haben. Ein Problem, typisch für die Frau in entwickelten Gesellschaften, hingegen unbekannt in Naturvölkern.

War die Arbeit bei Jenapharm schon schwierig genug, weil alte Stasi- und SED-Kader noch weitgehend das Sagen hatten, wurde es unter Schering nicht gerade einfacher, hatte man sich doch im Streit getrennt. Immerhin konnte er zunächst seine Forschung weiter betreiben. Das endete jedoch 2005, als Schering entschied, daß WEs Forschungsprojekte nun ausschließlich bei Schering in Berlin stattzufinden hätten. Das legt den Verdacht nahe, daß es Schering bei diesem Kauf vor allem darum ging, Jenapharm „platt zu machen“ (WE), daß es einer der vielen damals überall auftretenden Besserwessis war, die den Osten ausschlachten wollten. Und auch wenn diese Übernahme für WE einen schweren Schlag darstellte, sich richtig zu verhalten, war für ihn selbstverständlich: „Bis zum bitteren Ende werden wir bei laufender Liquidation unsere Pflicht erfüllen,“ weist er seine Mitarbeiter an. „Die wichtigste Aufgabe: Alle Daten zur Wirkstoffindung, die gesamte hier durchgeführte präklinische Charakterisierung der Substanzen, sind in Berichten zusammenzuführen.“ 

Offiziell ließ Schering 2003 durch den damaligen Leiter der Entwicklungsabteilung verlauten, daß das Unternehmen bis 2006 20 Millionen Euro im Entwicklungsbereich einsparen wolle, um die „Ergebnislage“ zu verbessern. Von diesen 20 Millionen sollte Jenapharm 8,5 Millionen liefern, also 42,5%, was die Schließung der Wirkstoffanlage beinhaltete. Das bedeutete, daß an langfristig angelegter Entwicklungsarbeit zugunsten kurzfristiger (wirtschaftlicher) Ergebnisse gespart wurde. Und weiter hieß das, daß der Standort Jena Arbeitsplätze verlieren sollte, die nach Berlin wandern würden, daß Jenas Bedeutung als Pharmastandort drastisch beschnitten werden würde, daß Jena insgesamt an Bedeutung verlieren würde, Patente hin oder her, Patente, die an eben diesem Standort entwickelt worden waren, Patente, die aus Jenaer Entwicklungsarbeit hervorgegangen waren, Patente, die langfristigen wirtschaftlichen Erfolg bedeuten. 

Diese Entscheidungen gegen Jena wurden von Belegschaft, Betriebsrat und anderen Arbeitnehmervertretungen wie auch der Gewerkschaft BCE scharf als politisch (gegen den Osten) und betriebswirtschaftlich („mehr als fragwürdig“) kritisiert. Über alle diese Jenapharm als Firma betreffenden Aspekte hinaus erscheint als besonders bedrohlich auch der Abfluß von Know.How aus dem Osten, der ja gerade genügend Erfahrung mit Glücksrittern und Betrügern aus dem Westen und den Besserwessis gemacht hatteGraffitto Nr. 7. Alle gemeinsam stellen sie Scherings soziale Verantwortung in Frage. 

Abb. 14: Verabschiedung 5.12.2003

Einen ganz großen Moment erlebte WE, als er Jenapharm verließ. Er wurde von seinen Mitarbeitern zu einem Abschiedstreffen eingeladen, wie man es eben mit einem geschätzten, ja verehrten Chef so macht. Als WE dann zu diesem Treffen kam, schossen ihm Tränen der Rührung und der Freude in die Augen: Das Hotel war voller aktueller und ehemaliger Kolleginnen und Kollegen, die heimlich eingeladen worden waren und alle, alle reisten an, auf eigene Kosten, mit Übernachtung, im Urlaub, der dafür extra zu nehmen war.

Von 2004 bis 2010 ist WE als Berater für Takeda Abbott Pharmaceuticals, Chicago, tätig, von 2006 bis 2014 ebenfalls als Berater für die 2008 gegründete EVESTRA GmbH, Berlin und San Antonio (USA), die biopharmazeutische Forschung im Bereich Women’s Health Care (Frauengesundheit) betreibt. Von 2008 bis 2014 war er als Experte Gutachter beim Gerichtshof Arnheim (NL) im Prozeß um den sogenannten MPA-Skandal. Das war ein synthetisches Progesteron, das Unfruchtbarkeit verursachen kann und das in Europa illegal Schweinefutter zugesetzt wurde (in den USA und Australien war das legal). Daraufhin wurden alle damit gefütterten Tiere gekeult.

Zusätzlich war er In all den Jahren als Visiting Scientist, etwa: Gastwissenschaftler, an renommierten Universitäten mehrfach in den USA und Indien unterwegs.

Es wird klar: WE war zeit seines Lebens im Bereich der Hormonforschung ein gesuchter Wissenschaftler. Über 200 Patente hat er in dieser Zeit erhalten, deutlich über 150 Publikationen haben ihren Weg in die wichtigsten Fachorgane gefunden. Hinzu kommen Artikel in Fachbüchern und die vielen Vorträge, zu denen er eingeladen wurde. EVESTRA sagt zu WE: „… has an international reputation as a thought leader in endochrinology, contraceptives, endometriosis and hormone replacement therapy“ („ … ist international gedanklich führend in Endokrinologie, Verhütungsmitteln, Endometriose und Hormonersatztherapie“). Noch 2018 gehörte er zum Beraterstab EVESTRAs.

So ein Leben als Wissenschaftler ist keine Arbeit von 9.00 bis 17.00 Uhr, mit der Pensionierung bei Erreichen der Altersgrenze, und dann beginnt der Ruhestand. Heute betreibt er, was er „Sofakantenforschung“ nennt. Z.B. stellt er Anträge auf Tierforschung beim Institut für Versuchstierforschung in Jena, ein, wie wir alle wissen, heute heikles Thema, das viele und gute Begründungen braucht, daher viel Arbeit macht. Das gleiche macht er für das Pendant in Phoenix, Arizona. Herausgekommen ist bisher der Wirkstoff Cyprotheronacetat, ein Antiandrogen, das für die Pille Diane verwendet wird und u.a. für eine reine Haut sorgt, Akne schon vor dem Entstehen verhindert. Und Androcur, das gegen Prostatakrebs wirksam ist. Und Proston, ein Medikament auf Prostaglandin-Basis, das postnatale Nachblutungen verhindert. Inzwischen hat sich auch gezeigt, daß Drospirenon unter den Namen Yasmin und Petitbelle zur Behandlung der Menopause geeignet ist.

Im Augenblick steht Prodrac im Fokus seiner Forschung, ein Medikament, das bioverfügbar gemacht werden soll, d.h., für Fälle, in denen ein Medikament nicht oral eingenommen werden kann. Hier gibt es bereits ein Patent, das wieder auf WE zurückgeht, weil er mit seiner immensen Erfahrung den vielen jungen Leuten in den Laboren die Richtung weisen kann, ihnen sofort sagen kann, wo eventuell ein Fehler ist, wo jemand einen Irrweg eingeschlagen hat, und weil er klare strategische Vorstellungen hat. Weil er auf den ersten Blick erkennt, wo jemand auch nur histologische Schnitte verwechselt oder vertauscht hat.

WE hat alles von seinen Vorbildern gelernt, was zu lernen war. Er hat Dinge mitgebracht, die nicht zu lernen sind, die man hat oder eben nicht. Es braucht hohe Intelligenz, doch reicht die allein nicht. Es muß die Fähigkeit hinzukommen, strategisch, d.h. vorausschauend, zu denken, ein Gefühl dafür, in welcher Richtung Erfolg zu finden ist, ein Händchen für die richtigen Entscheidungen. Über alles das verfügt WE im Übermaß.

Malthus’ vor 220 Jahren formuliertes Problem gibt es nach wie vor. Neben vielen anderen Ansätzen, es zu lösen, hat auch WE einen Weg aufgezeigt, seiner Herr zu werden.

Sein bisher letztes Patent wurde ihm 2016 erteilt. Weihnachten dieses Jahres wird WE 85 Jahre alt. Er möge noch lange fit genug sein und zum Segen der Menschheit arbeiten. Von der Sofakante in Berlin aus. Mit neuen Ideen zu Drospirenon aufwarten.

Textquellen:

Der Spiegel, 23. Sept. 1991, „Ein moralischer Skandal“

Jenapharm-Spiegel 6/2003, 17. Dezember 2003

Die Welt, 27.07.2001, Hormonblocker unterdrücken Monatsblutung

Diesem Artikel ging ein intensiver Schriftverkehr voraus, dann füllte ein langes Gespräch mit WE in Berlin die noch vorhandenen Lücken..

Bildquellen:

Abb. 1: Photo Klaus Holzer; Abb. 2 & 3.: Archiv Klaus Holzer

Abb. 4: Wilhelm Busch, Sämtliche Werke und eine Auswahl der Skizzen und Gemälde in zwei Bänden, hrsg. von Rolf Hochhuth, Bd. 1, S. 520, o.O., o.J.

Abb. 5 bis 13: WE

KH