Archiv der Kategorie: Kamener Köpfe

Kamener Köpfe: Dr. Walter Elger

von Klaus Holzer

Dr. Walter Elger, geb. 25. Dez. 1938

Abb. 1: Dr. Walter Elger, geb am 25. Dezember 1938 in Kamen

Exkurs 1: Als Thomas Robert Malthus (14. oder 17. Feb. 1766 – 23. Dez. 1834) im Jahre 1798 seinen „Versuch über das Bevölkerungsgesetz“ formulierte, wonach die Bevölkerungsgröße durch die verfügbare Nahrungsmittelmenge begrenzt und bestimmt sei, waren seine Grundannahmen zwar falsch, doch hatte er ein Problem erkannt, das bis heute im Kern nicht gelöst ist. Er postulierte, die Bevölkerung wachse in geometrischer Progression, also in gleichbleibenden Wachstumsraten bei immer größeren absoluten Werten, die Nahrungsmittelproduktion dagegen in arithmetischer Progression, also mit gleichbleibenden absoluten Zuwächsen. Daher reiche die Erde irgendwann nicht mehr aus, alle Menschen zu ernähren. Hunger führe zwar zu erhöhter Sterblichkeit, doch sei sexuelle Enthaltsamkeit zusätzlich vonnöten. Auf dieser Grundlage kam es bereits im 19. Jh. in den USA zu ersten Überlegungen von Geburtenkontrolle. Daß Malthus damit die Menschen insgesamt überforderte, ahnte er möglicherweise schon, doch gab es zu seiner Zeit eben noch keine anderen Möglichkeiten. Kamener Köpfe: Dr. Walter Elger weiterlesen

Juden in Kamen

von Klaus Holzer

Vorbemerkung:

Der Anlaß für diesen Artikel ist das 120-jährige Jubiläum der Einweihung der neuen Kamener Synagoge am 15./16. November 2021.

Abriß der Geschichte der Juden in Kamen.

Historisches

Juden gibt es in Kamen nachweislich seit 1348. In diesem Jahr stellte Graf Engelbert III (1347 – 1391) einem Juden namens Samuel einen Schutzbrief auf sieben Jahre aus, in dem er ihm dieselben Rechte gibt, „wie sie unsere anderen Juden in Hamm, Unna und Kamen haben“. Solch ein Schutzbrief wurde immer nur für eine bestimmte Anzahl von Jahren ausgestellt, und die auferlegte Gebühr war jedes Jahr neu zu entrichten. Daß Juden überhaupt eines Schutzbriefes bedurften, zeigt deutlich, wie prekär ihr sozialer Status war. Sie galten als „Wucherjuden“, da sie oft als Geldverleiher auftraten (im MA waren Wucher und Zins synonym, ein Geldverleiher verlangte natürlich Zinsen) und, weil Kapital knapp war, hohe Zinsen verlangten, wie auch ihre christlichen Konkurrenten, die aber nicht den Nachteil hatten, als „Christusmörder“ zu gelten. Und 1403 erteilte der römisch-deutsche König Ruprecht von der Pfalz (1352 – 1410; ab 1400 König) einem Juden in Kamen freies Geleit. Juden in Kamen weiterlesen

Julius-Voos-Gasse

von Klaus Holzer

Abb. 1. Die Schulstraße, 1920er Jahre (?), gesehen vom Turm der Pauluskirche; vorn rechts das Haus der ehemaligen Metzgerei Voos

Diese Gasse war Teil der Kördelgasse und ist erst seit 1997 nach jemandem benannt, der wahrscheinlich andernorts mehr bedeutet als hier, in seiner Heimatstadt. Und womöglich wüßten wir gar nichts mehr von ihm, wenn es nicht einen Stolperstein am Haus Schulstraße 2 gäbe, der an ihn und seine Familie erinnert. 

Abb. 2.  Zur Erinnerung an Dr. Julius Voos

Julius Voos war der Sohn von Jakob Voos, der im Jahre 1897 als Metzger nach Kamen kam, hier heiratete und die kleine Metzgerei seines Schwiegervaters in der Schulstraße 2 übernahm. Julius wurde am 3. April 1904 geboren und besuchte die Kamener Wilhelmschule, die gleich nebenan am Kirchplatz lag, heute ein Mehrfamilienhaus. 1918 trat er  in die Präparandenanstalt1 der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster ein. Hier begann er seine Ausbildung zum jüdischen Religionslehrer, die ihn nach Meisenheim (Pfalz) führte, wo er auch als Kantor arbeitete. Erst danach machte er sein Abitur in Idar-Oberstein. Anschließend studierte er in Berlin Philosophie, Geschichte und Religionsgeschichte. Anschließend promovierte er in Bonn über ein Thema aus der jüdischen mittelalterlichen Religionsgeschichte. Ab 1938 wirkte er als Rabbiner in Guben (Brandenburg), und heiratete 1936 in Breslau Stephanie Fuchs. Nach den Novemberpogromen von 1938 versuchte er, auszuwandern, das Vorhaben scheiterte jedoch. Anfang 1939 nahm er die Stelle als Rabbiner in Münster an, wo es im Rathausinnenhof ebenfalls einen Stolperstein für ihn gibt. Er sollte der letzte Rabbiner in Münster sein. Anfang des Jahres 1939 war Voos noch ein letztes Mal in seinem Elternhaus in Kamen.

Abb. 3.: Die Schulstraße in den 1930er Jahren; am linken Rand das Schild der Metzgerei Voos

Zwei Jahre später mußte Voos Zwangsarbeit in einer Bielefelder Fahrradfabrik leisten. Am 2. März 1943 wurde er mit seiner Familie – am 28. April 1941 war sein Sohn Denny geboren 

worden – nach Auschwitz geschickt, wo seine Frau und sein Sohn sofort ermordet wurden. Dr. Julius Voos wurde zur Schwerstarbeit eingeteilt, die ihn gesundheitlich ruinierte. Daran starb er im Krankenbau von Auschwitz am 2. Januar 1944. Klaus Goehrke schreibt in seinem Büchlein „Stolpersteine“: „Ihm wird nachgesagt, er sei der einzige Rabbiner in Auschwitz gewesen, der wie alle schwer gearbeitet, gehungert und gedurstet und dabei die Kameraden noch aufgerichtet habe.“ Ein Schicksal, an das erinnert werden muß.

Seit 2014 gibt es den Dr.-Julius-Voos-Preis  von der „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“, der seitdem jährlich im Rahmen der „Woche der Brüderlichkeit“ vergeben wird.

K H

Die Informationen entstammen dem erwähnten Büchlein „Stolpersteine“ von Klaus Goehrke sowie Wikipedia.

1 Eingangsstufe für die Volksschullehrer-Ausbildung

 

Abb.: 1 & 3: Archiv Klaus Holzer; 2: Photo Klaus Holzer

„Die Primitiven”

von Klaus Holzer

Nach der 1000 Jahre währenden kulturellen Starre, nach der totalen Niederlage Deutschlands 1945, nachdem der Wiederaufbau des zerstörten Kamens tatkräftig angegangen worden war und das begann, was später das „Wirtschaftswunder“ genannt werden sollte, hatte man auch in Kamen den Willen und die Zeit, sich Neuem zu öffnen. Nach der pompös-kitschigen Kunst der Nationalsozialisten griffen junge Kamener Künstler begierig die meist aus den USA herüberströmenden neuen Ideen auf und widmeten sich der abstrakten Kunst, trafen jedoch auf viel Unverständnis (vgl. Artikel „Die Gruppe Schieferturm“).

Und auch im Alltagsleben der 1950er Jahre tat sich viel. Der Lebensstil vor allem der Jugend änderte sich, der der Alten wurde offen abgelehnt. Zu Hause stand die Tütenlampe neben dem Nierentisch, an einer repräsentativen Stelle in der „guten Stube“ die Musiktruhe. Radio war das normale Medium für die ganze Familie, an Sonn– und Feiertagen wurden die fünf oder sechs Schallplatten aufgelegt, die man besaß. Viele besaßen auch schon ein neues Auto, natürlich einen Käfer, was denn sonst? Man wußte: „der läuft und läuft und läuft“! Und allmählich bürgerte es sich ein, damit in den Urlaub zu fahren, besonders gern nach Rimini auf den „Teutonengrill“ an der Adria. Wer noch keinen Käfer hatte, fuhr mit Touropa nach Oberstdorf oder Ruhpolding.

Der Toast Hawai war der kulinarische, weil exotische, Höhepunkt vieler Speisekarten. Zu Hause gab es jetzt oft was Neues zum Nachtisch: Ananas oder Mandarinen aus Dosen, am besten mit Schlagsahne, die oft von der italienischen Eisdiele am Markt geholt wurde. Manchmal auch Joghurt, von dem man wußte, daß Ilja Rogoff so uralt geworden war, weil er ihn jeden Tag mit Knoblauchpillen aß. Und zum Essen zu Hause (Ausgehen zum Essen gab es so gut wie nicht) leistete man sich nun einen guten Tropfen lieblichen Weins. Kam die Verwandtschaft am Sonntagnachmittag zu Besuch, gab es nach Kaffee und Kuchen Eierlikör oder Eckes Edelkirsch(likör) für die Frauen, die Männer zogen Asbach Uralt („Im Asbach Uralt liegt der Geist des Weines“) Chantré vor. Bei Gesellschaften gab es Erdbeerbowle. Man war wieder wer. Vor allem nach der Fußball-WM 1954, wo alle Zimmermanns „Rahn müßte schießen! Rahn schießt! TOOOR! TOOOR! TOOOR!“ hörten.

Die Jugend saugte begierig alles Amerikanische auf. Man kaute Kaugummi, ganz lässig. Als Musik kam der Rock’n Roll auf, ein ganz neuer Klang und Rhythmus, zu dem man tanzen konnte, wozu immer auch akrobatische Einlagen gehörten. Bevor Elvis Presley bekannt wurde, waren es vor allem Bill Haley and His Comets, die für Furore sorgten. Wer war nicht elektrisiert von Liedern wie; „Rock Around the Clock“ und „See you later, Alligator“? Und Elvis Presleys „Shake, Rattle and Roll“? Im Kino waren Filme wie „Die Saat der Gewalt“, „Jenseits von Eden“, „…denn sie wissen nicht, was sie tun“ und „Giganten“ Erfolge, vor allem wegen eines jungen Schauspielers, der alles zu verkörpern schien, wonach sich viele sehnten: den jugendlichen, aufsässigen Helden, der sich nicht unterkriegen ließ von den etablierten Mächten: James Dean. Viele Jungen trugen seine Frisur und seine Hosen, die damals „Nietenhosen“ hießen und der Jugend vorbehalten waren. Heute sind sie als Jeans an Jung und Alt gleichermaßen zu sehen, aber nicht immer zu bewundern. Für Mädchen (die damals noch nicht „junge Frauen“ waren) kamen natürlich Hosen gar nicht in Frage, das war „unmädchenhaft“, sie trugen Kleid oder Rock, und wenn sie sich „feinmachten“ oder in die Tanzstunde gingen, immer mit Petticoat, der sich 10 Jahre lang bis zum Siegeszug des Minirocks hielt.

Da die allermeisten Jugendlichen schon ab dem Alter von 14 Jahren arbeiteten, war Ausgehen auch für sie selten, und wenn, dann ging’s in den italienischen Eissalon am Markt 17 oder in die Milchbar, die in der Bahnhofstraße 58 unter den Arkaden war. Das war etwas so Neues, daß Oberstudiendirektor Günter Schwabe des hiesigen Städtischen Neusprachlichen Gymnasiums per Rundlauf durch alle Klassen bekanntmachte, daß sich kein Schüler seiner Anstalt dort sehen lassen dürfe, bei Androhung eines Schulverweises! Verruchter Ort! Und dabei gab es dort keinen Alkohol, sondern nur Milchmixgetränke! Und hier, wie auch in allen Kneipen im „sündigen Kamen“, von denen es wahrhaftig genug gab, sorgten Musikboxen dafür, daß Bill Haley und, mehr und mehr, Elvis Presley ständig zu hören waren. Für 20 Pfennige gab es eine Single, für 50 Pfennige drei zu hören. Und dazu schlürfte man seinen Milk Shake per Strohhalm, der oft genug tatsächlich noch aus Stroh war.

Tja, das war’s mit der Unterhaltung für Jugendliche in Kamen, außer Sport, den es immer und überall gab. Um nicht nur herumzuhängen, suchten alle nach nicht-sportlichen Freizeitbeschäftigungen. Da traf es sich gut, daß in einer Jungenklasse des Gymnasiums (von Koedukation war keine Rede, Jungenklassen waren die – klar – a, Mädchenklassen die – natürlich – b) mehrere Schüler saßen, die verschiedene Instrumente spielten und sich eines Tages einfach zusammensetzten und gemeinsam spielten, in der merkwürdigsten Besetzung, von der die europäische Musikgeschichte weiß:

Gunter „Einstein“ Hagemann– Trompete, Waldhorn

Dietmar „Lutz“ Scherff– Klavier

Klaus „Ede“ Holzer– Akkordeon

Reinhard „Nelly“ Elger– Gitarre

Hans Günter „Justus“ Liebich– Kontrabaß

Theo van Vügt– Schlagzeug

 

Anfangs durchaus angemessen war wohl der Name, den die Gruppe sich gab: „die primitiven“. Was die sechs spielten, ist nicht überliefert. Und auch nicht, ob sie als einheitliche Combo auftraten, doch zeigen alte Photos, daß zu ihrer Musik eifrig getanzt wurde. Ihr erster Auftritt war beim Klassenfest der UII a (Untersekunda, heute Klasse 10) am 7. Dezember 1957 im Hotel Biermann (heute Hotel „Stadt Kamen“) am Markt. An Mädchen für solche Veranstaltungen zu kommen, war gar nicht schwer, gehörte doch der Tanzkurs zu den quasi Pflichtveranstaltungen, die Jungen der U II a (Untersekunda, Klasse 10) lernten Tanzen mit den Mädchen der OIII b (Obertertia, Klasse 9).

Was sie spielten und wie diese Instrumente miteinander harmonierten, ist ebenfalls nicht überliefert. Für einen ganzen Abend reichte das Repertoire nicht, zwischendurch wurden Schallplatten aufgelegt, damit die Musikusse auch tanzen konnten. Und es herrschte auch Unsicherheit, ob man eventuell andere Instrumente brauchte. Es wurde experimentiert. Einer probierte dieses aus, ein anderer ein anderes.

Aber diese Musik, zufällig und „stillos“, konnte auf Dauer nicht befriedigen. Sie suchten nach Neuem und fanden es, wie die gleichaltrigen bildenden Künstler der „Gruppe Schieferturm“, in dem, was aus Amerika kam, dort der abstrakten Kunst, hier dem Jazz, den sie konsequent „jazz“ und nicht „dschäss“ aussprachen. Zwar war die vorherrschende Richtung des Jazz in den 1950er Jahren bereits der Bebop, doch so modern wollten die Jungs nicht sein. Ihnen gefiel der traditionelle Jazz, der mitreißende Dixieland, besser. Er ist glatter, eingängiger und, weil schwungvoller, besser zum Tanzen geeignet als der Bebop, also genau das, was Jugend zu der Zeit suchte. Und noch etwas, das vor allem heutige Jugendliche befremden dürfte: es gab keine Mikrophone, keine Verstärker, keine Lautsprecherboxen, keinen Soundcheck, kein Mischpult, an dem ein Techniker für die „richtige“ Verteilung der Stimmen sorgte. Und Schummeln per Karaoke also auch nicht. Alles mußte echt sein, das, was das Publikum hörte, mußten die Musiker auf der Bühne direkt produzieren.

Was ist das eigentlich, Dixieland Jazz? Im Kern ist das eine epigonale Musikgattung. Das Original war der „schwarze“ New Orleans Jazz, der seit den 1890er Jahren von Marching Bands bei den Beerdigungen (Funeral Marches) und dem Mardi Gras (Karneval in New Orleans/Louisiana, das ursprünglich eine französische Kolonie war) entstanden war und wesentliche Elemente des Blues enthielt, z.B. das 12-taktige Harmonieschema. Die bekanntesten Bands waren Joe „King“ Oliver’s Creole Jazz Band (Kreolen brachten das spanisch-französische Element in diese Musik), Kid Ory’s Olympia Band, „Jelly Roll“ Morton’s Red Hot Peppers (eher am Ragtime orientiert), die New Orleans Rhythm Kings und, natürlich, Louis Armstrong’s Hot Five und Hot Seven.

Diese Marching Bands begründeten auch die typische Instrumental-besetzung, mußten es doch Instrumente  sein, die sich beim Marschieren mitführen und spielen ließen: die Trompete bzw. das Kornett führte, spielte die Melodie, die bewegliche Klarinette umspielte sie, die Posaune gab das harmonische Fundament, setzte glissando-ähnliche Schleiftöne und unterstützte die Rhythmusgruppe, die zumeist aus Banjo, manchmal auch Gitarre, Tuba bzw. Sousaphon und Schlagzeug bestand. Wenn in geschlossenen Räumen gespielt wurde, ersetzte oft der Kontrabaß das Sousaphon und das Klavier wurde zum Mittler zwischen Melodie– und Rhythmusgruppe. Wichtig war, daß die Schläge auf 2 und 4 kamen, nicht auf 1 und 3, wie in der hiesigen Musik.

Diese Musiker begründeten den Ruhm so vieler „Themen“ wie Tiger Rag, When the Saints go Marchin’ in, St. Louis Blues, At the Jazz Band Ball, Darktown Strutters’ Ball, Memphis Blues, Tin Roof Blues, Muskrat Ramble. Besonders berühmt, und ein Muß für jeden Klarinettisten, der auch nur eine Spur Selbstachtung hatte, war das Klarinettensolo in High Society von Alphonse Picou, einem kreolischen Musiker aus New Orleans. Was natürlich den Klarinettisten der „primitiven“ anstachelte, zu üben, zu üben, bis es saß. Und der Ton durfte nicht „rein“ sein. Um möglichst authentisch zu sein, setzte er seine Stimmbänder als begleitendes Brummen beim Klarinettenspiel ein. Das klang erwünscht rauh.

Weiße Musiker fanden diese „schwarze“ Musik so mitreißend, daß sie sie imitierten, aber gleichzeitig glätteten. Die hieß dann Dixieland Jazz nach der Bezeichnung für die Südstaaten der USA: Dixieland. Und der wanderte nach Norden, wurde zum Chicago Jazz, aber auch in New York heimisch.

Und mit den amerikanischen Siegertruppen kam er nach Deutschland und somit auch nach Kamen. Im September 1958 ging’s los, im „Bandkeller“ im Haus Mühlenweg 1 (heute Mühlentorweg). Und die anfangs fünf Jungen („Einstein“ Hagemann war am Ende der Untersekunda mit seiner Familie weggezogen) merkten schnell, daß so etwas ohne regelmäßiges Üben nicht ging. Zu Hause mußte jeder versuchen, sein Instrument technisch so gut zu beherrschen, wie es eben ging, bei der wöchentlichen gemeinsamen Probe einigte man sich auf die Auswahl der Stücke und das Ensemblespiel. Wie ging das vor sich? Jazz wurde ja nicht in Noten niedergeschrieben, die man einfach kaufen konnte, und dann spielte man vom Blatt ab. Jazz ist eine Improvisationsmusik, d.h., es gibt wohl eine melodische und harmonische Struktur, die einem Stück zugrundeliegt, vor allem beim Dixieland, doch muß jeder einzelne damit kreativ umgehen können, diese Melodie paraphrasieren, abwandeln, frei umsetzen, kurz, etwas Neues daraus machen.

Der erste Schritt war immer: man mußte ein Stück hören und nachspielen. Also saß jeder zu Hause vor dem Plattenspieler und hörte und hörte und hörte Jazz, bis verzweifelnde Eltern das Ende der Veranstaltung durchsetzten. Und regelmäßig saßen alle vor dem Radio und lauschten der obersten Autorität in Sachen Jazz in Deutschland, dem Journalisten und Jazzkritiker Joachim

E.(rnst) Behrend. Der hatte auch das damals in Deutschland maßgebliche Buch über die Geschichte des Jazz verfaßt, „Das Jazzbuch“ von 1953, das für den einen oder anderen „primitiven“ zur Bibel und ständigen Lektüre wurde. Und wenn die Trompete die Melodie „draufhatte“, war es vor allem Nelly Elger, der sich die Mühe machte, die Harmoniefolge zu ergründen, sofern es nicht der einfache 12-taktige Blues war. Dann kam der entscheidende Augenblick, zu dem man aus der Schallplattenmusik etwas eigenes machen mußte. Jetzt mußte das neue Stück arrangiert werden: Melodieführung, Tutti, Soli, Chorus, Breaks, Dynamik usw.

Vorbilder für die Kamener Jazzer waren, natürlich, Louis Armstrong und seine Hot Five und Hot Seven, besonders sein Posaunist Jack Teagarden hatte es ihnen angetan. Er konnte beim Übergang von einer Phrase zur nächsten seine Posaune so markant über eine Quart oder sogar Quint „hochziehen“, daß allen ganz heiß wurde. Dauernd wurde der arme Justus Liebich bekniet, genau so zu spielen. Der aber war auf dem Weg, Berufsmusiker (er landete später bei den Bamberger Symphonikern!) zu werden und befürchtete, seinen „Ansatz“ (Stellung der Lippen auf dem Mundstück) zu beschädigen. Er „entschädigte“ die anderen dafür mit einem Lippentriller („Das ist extrem schwer“), den diese jedoch für nicht jazzmäßig hielten, ob schwer oder nicht. Zu den Vorbildern gehörten auch Eddie Condon, Pete Fountain und die Dukes of Dixieland. Dazu der damals schon in Paris (Paris hatte seinerzeit eine überaus lebendige Jazzszene. Jazz in Jazzkellern und Existenzialismus gehörten zusammen) lebende schwarze Amerikaner Sidney Bechet mit seinem Sopransaxophon.

Selbstverständlich gab es auch europäische Dixieland-Vorbilder. Das waren meistens Engländer: Chris Barber’s Jazz Band (bekanntestes Stück: Ice Cream), Acker Bilk (schnell als etwas süßlich empfunden), Ken Colyer (zum Big Band Jazz neigend), Monty Sunshine (der von Chris Barber kam und mit seinem „Petite Fleur” einen Verkaufserfolg hatte), Kenny Ball (der aber nicht die Popularität der anderen erreichte), und ganz besonders auch die holländische Dutch Swing College Band (die für die Kamener unerreichtes Ziel blieb). Später auch noch die dänische Papa Bue’s Viking Jazzband (die aber schnell langweilig zu werden drohte, weil ihre Musik zu glatt war).

Daß Musik verbindet, eine Binsenweisheit, zeigte sich fast 30 Jahre später. Als der Klarinettist Mitte der 80er Jahre auf einer Reise in Nordengland war, verbrachte er auch zwei Nächte im City Hotel in Leeds. Als der Wirt an der Rezeption den Eintrag im Gästebuch las, stutze er und fragte: „Sie sind aus Bergkamen? Das kenne ich. Da habe ich schon mehrmals gespielt.“ „Was denn?“ „In einem Gasthaus auf dem Lande, Schmulling, glaube ich, hieß das. Ich bin Monty
Sunshine. Ich habe dort mit Chris Barber gespielt.“ Das gab einen herrlichen Abend voller Erinnerungen.

 

Seit Herbst 1958 wurde in neuer Besetzung musiziert:

Klaus „Ede“ Holzer (Klarinette, cl., Bandleader, bl. Damit war nicht viel Arbeit verbunden, man mußte bloß den Takt und damit das Tempo vorgeben, alles andere war gemeinsame Planung: wo treten wir auf, was spielen wir usw.),

Lothar Emminghaus (Trompete, tr.),

Hanns Günter „Justus“ Liebich (Posaune, tb.),

Dietmar „Lutz“ Scherff (Klavier, p.),

Reinhard „Nelly“ Elger (Banjo & Gitarre, bjo, g.),

Werner „James“ Morck (Baß, b.) und

Theo van Vügt (Schlagzeug, dr.).

Die Trompete wurde meist „Horn“ genannt, die Klarinette „Wurzel“, das Schlagzeug „Schießbude“. Der Name „die primitiven“ wurde nicht geändert. Zum einen war er eingeführt, zum anderen wollte man sich auch bewußt von all den Dixielanders, Stompers und Ramblers absetzen.

 

Es wurde intensiv geprobt, alle nahmen ihre Musik sehr ernst. Z.B. ist noch ein Zettel erhalten geblieben, mit dem sich der Posaunist Justus entschuldigte: „Habe heute von 2 – 6.00 in Dtmd. Probe. Kann also erst um 18.45 in Kamen sein. Entschuldige mich. Hanns.“ Am 30. Oktober 1958 wurde auch die Lokalpresse auf die neue Jazzband aufmerksam: zum ersten Mal in der Zeitung! In der Westfalenpost lasen die Kamener damals, daß diese Band beweise, daß sie keine Halbstarken seien, sondern eine „Rasselbande, die ihr Leben zu meistern versteht“. Alte Photos belegen, daß die Jungs zu allen Veranstaltungen Anzug, Hemd und Schlips trugen! Als Sechzehn–, Siebzehnjährige! Selbst, wenn es zum „Jammen“ in die Natur ging!

Im Frühjahr 1959 gab es den ersten, noch halböffentlichen, Auftritt in dieser neuen Formation, beim Klassenfest der OIIIb (Obertertia Mädchen). Doch am 30.4.1959 war es endlich soweit, der erste „richtige“ öffentliche Auftritt: Jazzbandball im Hotel Biermann am Markt. Die Eintrittskarten wurden selbst hergestellt. Der Besuch war gut, die Resonanz auf die Musik auch. Und dann ging’s Schlag auf Schlag: Jazzbandbälle am Abend, Jazztanztees (verbindet dieses Wort nicht wunderbar das Althergebrachte mit dem Modernen?) am Nachmittag. Es gab Veranstaltungen mit 250 – 300 Besuchern! Woher nahm diese „Rasselbande“ bloß die Courage, Hotelsäle auf eigenes Risiko anzumieten? Wenn etwas schiefgegangen wäre – Geld für einen wie auch immer gearteten Schadenersatz war nirgends in Sicht. Als Lothar Emminghaus die Band verließ, kam Dieter „Ditz“ Hanke als neuer Trompeter hinzu, und Peter Paul Schulze, allgemein „Beppo“ oder „Meier“ gerufen, mit dem Helikon, das er vom katholischen Posaunenchor geliehen hatte. Dort gab es auch Stunden, spielen mußte er dort natürlich auch. („Meier“ war am flexibelsten, er sprang immer dort ein, wo Not am Mann war und versuchte sich an der Gitarre, übernahm auch das Klavier, nahm immer wieder Stunden).

Inzwischen wuchs der Ruf der Gruppe, Engagements bei Vereinen und Organisationen folgten: SGV-Jugend, Landjugend Heeren, Kamener Skigilde, DAG-Jugend, DGB-Jugend, Junge Union, Lüner Jugendring, die Gemeinde Fröndenberg zum Besuch aus der französischen Partnerstadt Bruay, aber auch das Schulfest des Gymnasiums Kamen, über das die Westfälische Rundschau berichtete: „Als kurz nach Mitternacht die letzten flotten Tanzrhythmen verklangen, machte die Ansicht bei allen Teilnehmern bereits die Runde, eines der schönsten Schulfeste der letzten Jahre erlebt zu haben.“

Natürlich spielte die Band beim traditionellen Bücherverbrennen der Abiturienten 1960 auf dem Markt.

Und als im Westentor-Theater, einem der drei (!) Kamener Kinos, der Film „Jazz-Banditen“ gezeigt wurde, spielten „die primitiven“ als Vorprogramm.  Und es gab auch Privateinladungen. Z.B. spielten sie einmal in einer prächtigen Villa in Schwerte, von wo besonders viele besonders hübsche Mädels in Erinnerung blieben.

Immer wieder wird aus der Berichterstattung in den Kamener Zeitungen deutlich, eine wie fremde Musik der Jazz damals war. Es gab keinen Artikel, der nicht kurz erläuterte, was Dixieland Jazz sei, worin der Unterschied zum Modern Jazz bestehe, in dem Verwunderung darüber ausgedrückt wurde, daß auch Erwachsene zu solchen Veranstaltungen kamen. Und sie nannten den Jazz damals, halb das Fremde anerkennend, halb abwertend „Negermusik“, brachten ihn auch mit den wirklichen oder vermeintlichen Auswüchsen im Umfeld des Rock’n Roll in Verbindung, zählten doch jugendliche Musiker sonst generell zu den „Halbstarken“.

Natürlich wäre diese Band zerbrochen, wenn ihre Mitglieder sich nicht auch privat gut verstanden hätten. Gemeinsam fuhren sie in die Ferien, mit dem Fahrrad an den Möhne–,  den Sorpe– und den Edersee. Nie ohne Instrumente, selbst im Wald, beim Zelten, wurde gespielt.

Der Aufstieg ging weiter, nicht nur lokal, auch regional. Am 11. Oktober 1959 trat die Band bei einem Konzert in Schwerte auf, gemeinsam mit dem international bekannten Dortmunder Pianisten Günter Boas, der sogar schon mit der Jazzlegende Louis Armstrong zusammen gespielt hatte.

Außer Günter Boas mit seiner Rhythmusgruppe waren auch dabei: Papa Joe’s Jazz Babies, das Modern Jazz Quintet, „die primitiven“. Die hatten Erfolg mit folgenden Titeln: Sheik of Araby, Bluin’ the Blues, Thriller Rag, Down by the Riverside, Careless Love, The Eyes of Texas are Upon you. Vor diesem Konzert war Dietmar Scherff ausgeschieden, Beppo Schulze trat an seine Stelle, haute in die Tasten.

Es folgte „Strippe“ auf „Strippe“: Konzert, Tanz, Jam Session. Wolfgang Baer, Leiter des Kamener Bildungswerks (heute VHS; Wolfgang Baer trat später mit Jürgen von Manger auf, war sein ständiger Begleiter auf den Ruhrgebietsbühnen; auch „die primitiven“ traten einmal mit Manger auf, im damaligen Westentor-Theater, einem Kino an der Lüner Straße) lud im Herbst 1959 Glenn Buschmann (Kapellmeister und Klarinettist des Kammerorchesters der Stadt Dortmund, aber auch Jazzer) nach Kamen ein, um den Kamener Jungs etwas mehr Theorie und angeleitete Praxis angedeihen zu lassen: Harmonielehre, Improvisation, Ensemblespiel. Und „die primitiven“ lernten begeistert, ihr Bandname war inzwischen nur noch ironisch zu verstehen. So war es vielleicht gerechte Belohnung, daß sie das neue Jahr 1960 mit Jazz bei Biermann einleiten durften, zusammen mit dem Glenn-Buschmann-Quartet. Um Mitternacht wurde die Musik kurzerhand aus dem Saal nach draußen auf den Markt verlegt. Aus allen Kneipen rundherum kamen die Gäste ebenfalls nach draußen und tanzten. Kein Wirt ließ es sich nehmen, mit einem Tablett voller Bier zu kommen, und die Musiker griffen freudig zu. Eine Dreiviertelstunde lang war auf dem Markt eine Bombenstimmung.

 Und Wolfgang Baer lud die Wupper City Stompers und die Slant Tower Town Dixielanders, eine neue Kamener Formation, zusammen mit den „primitiven“ zum Konzert am Samstag, 2. April 1960 im Gymnasium Kamen ein. Die Aula im alten Gebäude (heute Diesterwegschule) war rappelvoll. Und weil die Bands sich gerade bei einer gemeinsamen Jam Session nach dem  Konzert

kennengelernt hatten, verabredete man sich für den Sonntagmorgen: bei wunderschönem Wetter gab es für die Kamener ein Gratiskonzert auf dem Markt, dem sogar eine Polizeistreife im Dienstwagen mit Vergnügen lauschte, statt wegen ruhestörenden Lärms einzuschreiten, auch wenn Wilhelm Busch einst dichtete: „Musik wird oft als Lärm empfunden, weil sie mit Geräusch verbunden.“ Und es tauchte ein inzwischen regelmäßiger Gast auf, Walter Schipper, ein Kamener, der im Dortmunder Sinfonieorchester als Geiger beschäftigt war, in seiner Freizeit aber als Trompeter viel populäre Musik spielte und u.a. bei den Tanztees der „primitiven“ regelmäßig mit seinem „Horn“ erschien und sich mit einem besonders spektakulären Stück einführte: „Cherry Pink and Apple Blossom White“, das Pérez Prado mit seinem Orchester 1955 populär gemacht hatte.

Das Beispiel der „primitiven“ machte Schule. Die Slant Tower Town Dixielanders spielten guten Jazz in der Besetzung Escher (Trompete); Jürgen Neff (Posaune), Herbert Storin, (Klarinette), Karl-Ernst Pekoch (Schlagzeug), Heiner Busch (Piano), Bille (Gitarre & Banjo) und Dietmar Scherff (Tuba). Und fast gleichzeitig gründeten sich auch die „Kellerasseln“: Norbert Köckler (Trompete), Fritz Borgmann (Klarinette), Rüdiger Noltmann (Posaune), Jochen Barz (Klavier), Reinhard Heimel (Gitarre) und Friedrich Schwakenberg (Schlagzeug).

Beim Jazztanztee am 10. Juli 1960, zusammen mit der Modern Swing Group, einer Profi-Band, war ein neuer Schlagzeuger zum

ersten Mal dabei, Peter „Pitt“ Fey, der neuen Schwung in die Rhythmusgruppe brachte, und der bald für seine dynamischen und rhythmisch sicheren Schlagzeug-Soli bekannt wurde und beispielsweise bei einem Jazzbandball im Casino in Unna 300 (!) Tänzer zu Begeisterungsstürmen  hinriß. Sie hörten auf zu tanzen und hörten fasziniert zu. Und es kam immer ganz besondere Stimmung auf, weil alle mitsingen konnten, wenn die Band Nummern spielte wie Chris Barbers „Ice Cream“, auf das sich für die Kamener „Sch… Cream“ reimte und „Dinah“ mit der Reimzeile „… ist viel länger als meinah“. Aber das passierte immer erst später am Abend.

Wie oben schon einmal erwähnt, fuhren die Freunde auch oft zusammen in die Ferien. 1961 war Scharbeutz an der Ostsee das Ziel. Alle fuhren mit der Bahn, nur Pitt hatte ein Auto, einen rassigen Karmann Ghia, dessen zweiter Sitz durch die Schießbude belegt war. Gleich am zweiten Tag gingen sie zur Strandpromenade in Timmendorfer Strand und machten auf dem Steg Musik. Es dauerte nur Minuten und das Tanzen ging los. Es herrschte eine so gute Stimmung, daß alle sich einig waren, morgen geht’s weiter. Am nächsten Abend jedoch lag eine große Motorjacht am Steg. Nach einer Weile Musik kam dann ein Mann aus dem Boot auf „die primitiven“ zu und lud sie ein, aufs Schiff zu kommen und dort weiterzuspielen. Für Getränke wäre gesorgt. Das Steg-Publikum protestierte heftig, aber die Kamener erlagen der Versuchung. Und trafen auf eine illustre Truppe: die Jacht gehörte dem Sohn von Oskar Kokoschka, einem bekannten Maler, der u.a. den damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer porträtiert hatte. Bei ihm war Gustav „Bubi“ Scholz, mehrfacher Deutscher und Europameister in verschiedenen Gewichtsklassen im Boxen, Bibi Johns, bekannte Schlagersängerin und Bully Buhlan, ebenfalls Schlagersänger und nicht minder bekannt. Es wurde ein prächtiger Abend, danach ein schwieriger Morgen, dazwischen eine große Lücke. Am nächsten Morgen war die Jacht weg, aber die Erinnerung wieder da.

Einige  Abende später gab es einen weiteren Höhepunkt. Damals gab es in allen Seebädern sogenannte „Jekami-Abende“, das „Jeder-kann-mitmachen“-Motto gab den Kurgästen (entsprechend war das Durchschnittsalter der Besucher) die Möglichkeit, ihre Talente zur Schau zu stellen und, natürlich, eine für den Veranstalter besonders preisgünstige Möglichkeit, die jeweilige Strandhalle zu füllen, da es über geglückte und auch nicht geglückte Vorführungen immer viel zu lachen gab und außerdem alle Freunde, Bekannten und die weiteren Gäste aus allen Pensionen mitkamen, um bei der Abstimmung über den Sieger ihre Freunde zu unterstützen. Zwischendurch spielte das Hausorchester gediegene Tanzmusik. Natürlich waren „die primitiven“ eines Abends dabei, in der Besetzung Trompete, Klarinette,Banjo, Piano, Schlagzeug. Die Band kam als letzter Wettbewerber des Abends dran. Keiner hatte mit Dixieland am Ende des Abends gerechnet, und schon gar nicht, daß das der Höhepunkt werden sollte. Eine Zugabe. Eine weitere Zugabe. Noch eine. Irgendwann war dann Schluß. Und die Band bekam ein richtiges Abendessen (da ansonsten, bei nicht sehr fortgeschrittenen Künsten, Selberkochen im Zelt angesagt war, hochwillkommen) und kostenlose Getränke.

In einem Städtchen wie Kamen, das damals nur rund 20.000 Einwohner hatte, kannte man sich, die Maler der „Gruppe Schiefertum“ und „die primitiven“. Man half einander. Damit die Musiker ihre Bälle und Tanztees mit Besuchern füllen konnten, mußte man ja werben. Plakate drucken? Wie bezahlen? Ulli Kett (vgl. Artikel „Ullrich Kett“ und „Die Gruppe Schieferturm“), ein ganz junger Maler, später sehr bekannt, der auch auf der Art Cologne ausstellte und verkaufte, malte zu jeder Veranstaltung der „primitiven“ 10 Plakate, einzeln, von Hand, individuell! Natürlich wären das heute Sammlerstücke! „Die primitiven“ revanchierten sich, indem sie im Sommer 1960 zur Eröffnung einer Kunstausstellung der „Maler unterm schiefen Turm“ vor der Martin-Luther-Schule am Koppelteich aufspielten.

 

 

 

Besondere Begeisterung herrschte unter den „primitiven“ immer, wenn bekannte Jazzgrößen zu Konzerten in der Gegend auftauchten, z.B. einmal George Lewis in Dortmund. Da muß man hin! Aber wie? Theo wußte von einem ausrangierten Lloyd-Kleinbus, abgemeldet, ohne Nummernschild, aber mit Zündschlüssel. Doch keiner der „primitiven“ hatte einen Führerschein. Einer der Bekannten aus der weiteren Umgebung der Musiker, Hermann, war der einzige Führerscheinbesitzer und übernahm gelegentlich Taxidienste für die Band. Also Hermann anheuern. Das Problem mit den Nummernschildern war schnell gelöst, die konnte man selber herstellen. Bei der Fahrt nach Dortmund merkten die „primitiven“ allerdings sehr schnell, warum der Wagen außer Betrieb gesetzt worden war. Hätte diese Fahrt nur etwas länger gedauert, wäre die Karriere der „primitiven“ an dem Nachmittag beendet gewesen. Sechs Leute saßen hinten drin, dicht eingehüllt in Abgas, das aus dem undichten Auspuff direkt in den Innenraum geblasen wurde! Alles hustete und stöhnte, die Augen tränten. Aber das Konzert war wunderbar.

Auch wenn nicht jede Zeitungskritik positiv ausfiel, manch ein Kritiker sehr kritisch war („Zu schwer für die primitiven“ lautete das Urteil nach einem Konzert in Weddinghofen, „Jazz aus Datteln und Kamen, wie er nicht sein soll“ nach einem in Lünen), die Band ließ sich nicht entmutigen, übte weiter, verstärkte ihre Bemühungen. Schließlich fühlte sie sich gewappnet, bei einem Wettbewerb am 15. Januar 1961 im Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen anzutreten. Der 4. Platz war die Belohnung. Und bei der Vorausscheidung zum 1. NRW JAZZ & SKIFFLE JAMBOREE in Borken wurde sie gar Erste! Das wurde gewaltig gefeiert, mit den Fans, bei Willi Neff in der Pilsstube. Daher lief’s beim  Wettbewerb am nächsten Tag (vor 3.000 Zuschauern und –hörern!) dann nicht ganz so gut, nur 5. unter sechs Wettbewerbern (die Juroren vom Samstag erkannten „die primitiven“ nicht wieder), aber das war kein Grund, Trübsal zu blasen, schließlich war man, wie die Zeitungen betonten, die einzige Kleinstadtband, die es ins Finale geschafft hatte.

Und auch die Fahrt nach Borken war ein Abenteuer, man sollte wohl eher sagen: ein neuer Gipfel an Leichtsinn. Wie gesagt, Autos waren rar, da nahm man, was so eben zur Verfügung stand. Die Rückfahrt, eine Nachtfahrt, ist in sehr (un)guter Erinnerung geblieben. In einem schon damals alten Käfer saßen wiederum sechs Jungen, zusammengekauert unter dem Kontrabaß, der vorn rechts beim Seitenfenster herausguckte. Es war eng, ungemütlich, kalt, Hermann kam nicht an den Schaltknüppel, schrie immer: „Den 2. Gang! Den 3.! Den 4.!“ und dann griff derjenige, der drankam, zu und schaltete, so gut es ging. Die Koordination war nicht ganz einfach. Und zwischendurch gingen immer wieder die Scheinwerfer aus, auf einer kurvenreichen Strecke! Aber auch diese Fahrt ging gut.

Die Band war viel herumgekommen und hatte andere Bands kennengelernt, Bekanntschaften, Freundschaften geschlossen. Für den 15. April 1961 kündigten die Kamener Zeitungen ein „Jazzereignis in Kamen“ an. Die Coal City Jazzband wurde für ein „Jam-Session-Stelldichein“ mit den „primitiven“ bei Biermann angekündigt. Die Bochumer galten als die „anerkannt beste Dixielandband in Nordrhein-Westfalen“. Sie waren Gewinner des Ruhrfestivals in Essen und hatten das Jazzjamboree um das „Goldene Kornett“ in Gelsenkirchen gewonnen. Der Saal war denn auch überfüllt, die letzten Besucher saßen auf Küchenhockern. Und wieder ging’s am nächsten Morgen auf dem Markt weiter. Hunderte Zuhörer verabschiedeten die Bochumer und riefen laut „Wiederkommen“. Schon eine Woche später spielten „die primitiven“ bei einem Jazzmeeting im „Studio 19“ in Lüdenscheid, 14 Tage später gelang es der Band, Eulen nach Athen zu tragen. Am 7. Mai 1961 waren sie als Band in die NATO-Radarstation in Herbern eingeladen und durften Soldaten vorspielen, die von dort kamen, wo auch die Musik herkam: Amerikaner genossen Kamener Jazz! Am Nachmittag gab es Musik im Freien, „die primitiven“ unterhielten Tausende Besucher der Radarstation, und am Abend tanzten die Amis im Kasino zu Dixieland aus Kamen. Sie genossen den Jazz, die Kamener lernten Bourbon Whiskey kennen. Beides kam gut an.

Am 28. Mai wieder einmal Jazzbandball bei Bergheim, danach Konzert und Tanz in Beckum, dann Ball im Casino in Unna, immer mit die erfolgreichste Veranstaltung mit bis zu 300 Besuchern! Und dieser Abend in Unna, der 1. Juli 1961, wurde ein trauriger Tag in der Geschichte der „primitiven“. Es war das letzte Mal, daß die Band in ihrer ursprünglichen Besetzung zusammen auftrat! Alle waren nun in dem Alter, da neue Lebenswege eingeschlagen werden: Meier geht zum Studium nach Berlin, James geht zum Studium nach Köln, Ede geht zum Studium nach Marburg, Pitt macht einen Meisterkurs als Zahntechniker, Justus geht als Berufsmusiker nach Basel, zwei sind noch Schüler.

Aber so ganz geht man nach so vielen Jahren und so einschneidenden, prägenden Erlebnissen nicht auseinander. In den Ferien treffen sich immer mal wieder zwei, drei alte Freunde, unternehmen etwas zusammen, machen z.B. eine Bahnfahrt mit dem Studentenreisedienst nach Lissabon. Das dauerte damals gut 2½ Tage! Natürlich fuhr man nicht ohne Instrumente. Das Banjo und die Klarinette lassen sich leicht mitnehmen, aber das Klavier? Das Helikon? Dann muß Meier eben schnell auf das Waschbrett umsteigen, ein richtiges Waschbrett, wie es in Skiffle Groups in Gebrauch war, der Mutter geklaut. Da setzte man sich metallene Fingerhüte auf alle 10 Finger und und schlug auf das Waschbrett und ratschte rauf und runter. Schließlich fanden die drei einen Zeltplatz in Costa de Caparica, einem kleinen Ort am südlichen Tejo-Ufer, direkt am Strand. Erst einmal gab es einen großen Schreck: die Klarinette war weg. Im Bus zum Zeltplatz liegengelassen! Es dauerte ein paar Tage, bis sie wieder da war, viel Fragen, viel Suchen, ohne ein Wort Portugiesisch. Dann aber ging’s zum Strand, gegen die Atlantikwellen wurde anmusiziert. In Nullkommanichts waren die drei von Dutzenden Jugendlicher umlagert, die alle im Takt mitwippten, da brauchte es keine Fremdsprachenkenntnisse. Dazu gab es Sardinen, in der Brandung gefangen und direkt auf dem kleinen, tönernen Holzkohlengrill gegart. Und spätabends kaperten die Kamener die in der Ortsmitte für Ferienunterhaltung aufgebaute Bühne und jazzten zur Freude der einheimischen und touristischen Jugend bis weit nach Mitternacht. Und alle schwooften! Daraus folgte die Einladung zu einem Sommerfest auf einer großen Finca. Und das war ein Erlebnis der ganz besonderen Art.

Es begann damit, daß die drei „primitiven“ von einem Chauffeur in Livrée abgeholt wurden. Auf allen vieren krochen sie aus ihren kleinen Zelten, auf den Rolls Royce zu, die Tür vom Chauffeur aufgehalten, Zylinder in der Hand! Sie schwankten zwischen völlig eingeschüchtert und Graf Koks von der Gasanstalt. Der Anblick des Festplatzes auf der Finca war atemberaubend: Fackeln erleuchteten den riesigen Platz, der von unterschiedlichen Gebäuden umgeben war, Hunderte Leute standen und wuselten umher, die avó saß majestätisch auf einem hohen Lehnstuhl und beobachtete das Treiben. Der Großmutter wurden die drei zuerst vorgestellt, nach Anweisung, wie das zu geschehen habe: mit Handkuß! Für jeden der erste und letzte Handkuß in seinem Leben. Danach dem Hausherrn und seiner Frau, dann kümmerte sich der Sohn Nando, der sie eingeladen hatte, um sie. Und das Essen! Gebratene Täubchen, kalte Gurken– und Melonensuppe, und viele Speisen, die den drei Freunden völlig unbekannt waren. Und Drei-Liter-Flaschen Cognac! Der Chauffeur würde sie ja zurückbringen. Und es folgten weitere Einladungen. Die Musik öffnete Türen.

Wer so lange Musik gemacht hat, kann nicht einfach aufhören. In wechselnden Besetzungen hielt die Band sich noch einige Zeit, und selbst heute, im Jahre 2017, können es einige immer noch nicht lassen. Nelly Elger spielt hin und wieder in einer neuen Gruppe Banjo, Pitt Fey tritt gelegentlich auf, ebenso Helmut Meschonat (vgl. Artikel „Helmut Meschonat“ und „Die Gruppe Schieferturm“), ein Künstler der Gruppe Schieferturm, der Nachfolger des Klarinettisten Ede Holzer wurde. Seit ein paar Jahren gibt es auch wieder gelegentliche Treffen der Ehemaligen, bei denen sie, wie könnte es auch anders sein, in Erinnerungen an „die schönste Zeit unseres Lebens“ schwelgen. Es war eine reiche Zeit, selbst gestaltet, selbst organisiert, mit Freundschaften fürs Leben, eine Zeit, die viel mitgab für den späteren Lebensweg, aus deren Erlebnissen alle lange zehrten, bis heute.

PS: 1964 war für „die primitiven“ wie auch die „Kellerasseln“ ein trauriges Jahr. Semesterferien, April, Zeit, Geld zu verdienen, Geld, das für das nächste Semester gebraucht wurde. Ferienjobs gab es reichlich in den Wirtschaftswunderjahren, links und rechts der Unnaer Straße (die Hochstraße wurde erst 10 Jahre später eingeweiht), bei Klein & Söhne („Große Tüten, kleine Löhne“) und Ketteler, beide längst aus Kamen verschwunden. In beiden Betrieben gab es Stanzen und Pressen für die Metallbearbeitung, und die waren nicht durchweg auf dem neuesten technischen Stand, sie funktionierten auf einfache Fußbedienung hin. Ede Holzer arbeitete bei Klein & Söhne. Freitagnachmittag, gegen 17.00 Uhr, nach 11 Stunden Akkordarbeit, Formen eines Blechteils in der Fünftonnenpresse, einen Augenblick nicht aufgepaßt, aus dem Rhythmus geraten, das 2½ mm starke Werkstück unter der Presse, zusammen mit dem rechten Zeigefinger. Fünf Tonnen drauf! Trotz intensiver Bemühungen von Dr. Gerçek im Kamener Krankenhaus war der Finger nicht mehr zu retten. Nach 14 Tagen war er schwarz, tot, mußte amputiert werden. „Die primitiven“ waren ihren Klarinettisten los.

Fritz Borgmann arbeitete bei Ketteler, auf der gegenüberliegenden Seite der Unnaer Straße. Drei Tage später, Montagnachmittag, gegen 15.00 Uhr, Fritz findet auf dem Tisch der Stanze ein Stück Finger und fängt an, den benachbarten Kollegen wegen des schlechten Scherzes zu beschimpfen, als er merkt, daß Blut an ihm herabtropft, daß es sein eigener Finger ist, ein Glied seines linken Zeigefingers. Er ist Linkshänder. Die „Kellerasseln“ waren ihren Klarinettisten auch los. Ein Wochenende, zwei Unfälle, zwei Bands ohne Klarinettisten!

Aber ganz schlimm war es, als sich alle, aus ihren Studienorten nach Kamen gekommen, am Montag, dem 13. November 1967, vor 50 Jahren dieses Jahr, auf dem Kamener Friedhof einfanden, zur Beerdigung ihres alten Freundes, des Bassisten Werner Morck, der wenige Tage vorher im Alter von 25 Jahren gestorben war, nur ein paar Wochen nach seinem Examen als Diplom-Kaufmann an der Universität Köln, gerade als er seine erste Stelle bekommen hatte.

Werner „James” Morck, 13. März 1942 – 6. November 1967

KH

Dank an Nelly Elger, der als einziger der Truppe die Voraussicht hatte und auch den Fleiß und die Energie aufbrachte, (fast) alles zu sammeln, was es an Photos und Veröffentlichungen gab. Ohne seine beiden Bandalben wären diese Erinnerungen nicht zustande gekommen.

Dank auch an Pitt Fey, der noch ein paar zusätzliche Photos aus Alben kramte und, vor allem, noch im Besitz von 3 Originalplakaten ist, die Ulli Kett einst von Hand malte, wenngleich sie reichlich ramponiert sind.

Und Meier konnte mit Erinnerungen und präzisen Daten aufwarten.

Ich bitte die Leser, die z.T. schlechte Qualität der Bilder zu entschuldigen, z.B. bei der Wiedergabe alter Zeitungsausschnitte.

Bernhard Heymann – Chemiker aus Berufung

von Klaus Holzer
Photo Heymann

Abb. 1: Bernhard Heymann, 23. April 1861 – 10. Juni 1933

In der Serie des KKK „Kamener Köpfe“ sind bisher so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Buxtorf, Praetorius und Hamelmann erschienen, bedeutende Figuren am Beginn der Neuzeit nicht nur der Kamener, sondern auch der deutschen Geschichte; Männer wie Wienpahl, Reich und Donsbach, die als Industrieller, Stadtplaner und Pfarrer Spuren in Kamen hinterlassen haben; Meschonat, Kett und ihre Gruppe „Schieferturm“, die als Künstler nationale Bedeutung erlangten und deren Werke heute in vielen öffentlichen Gebäuden zu finden sind.

Noch gar nicht vertreten ist die Naturwissenschaft, dabei hat Kamen auch auf diesem Gebiet große Namen aufzuweisen. Als erster soll hier jemand vorgestellt werden, dessen Name wohl keinem Kamener mehr etwas bedeutet: Bernhard Heymann. Er war einer der Chemiker, die Deutschland einmal den Beinamen „Apotheke der Welt“ eingetragen haben.

Abb. 1a J. Heymann

Abb. 2: Das elterliche Geschäft in der Weststraße 20 (lks.)

BH  war der Sohn des Kamener Kaufmanns Isaak Heymann und seiner Frau Sarah Levy, die ihr Geschäft für „Manufakturwaren, Konfektion, Betten, Möbel“ in der Weststraße 20 hatten. Der Familientradition folgend absolvierte Sohn Bernhard, das fünfte ihrer neun Kinder, zunächst eine kaufmännische Lehre, doch befriedigte ihn die damit verbundene Tätigkeit nicht. Also entschloß er sich, das Abitur nachzuholen (in Soest) und zum Studium der Chemie nach München zu gehen. An der dortigen Ludwig-Maximilians-Universität promovierte er bei Wilhelm Koenigs, einem damals bekannten Chemiker, nach dem die Koenigs-Knorr-Methode benannt ist, die eine der bekanntesten Reaktionen der Kohlenhydratchemie ist, und der dem jungen Heymann wohl die ersten Impulse für seine spätere Arbeit gab.

Ohne Titel

Abb. 3: F. Bayer & Co’s in Elberfeld, wo Bernhard Heymann seine erste Stelle hatte

Schon 1889 trat er seine erste Stellung im wissenschaftlichen Laboratorium der Farbenfabriken, vormals Bayer, in Elberfeld (heute Wuppertal-Elberfeld) an. Und nur sechs Jahre später, als er gerade einmal 36 Jahre alt war, wurde ihm die Leitung dieses Forschungslabors anvertraut, von niemand geringerem als Carl Duisberg, dem allerdings heute in mancher Hinsicht umstrittenen Motor hinter der Gründung der IG Farben. Unter Heymanns Führung errang das Institut bald internationales Renommee. Als, auf Betreiben Carl Duisbergs, das Labor nach Leverkusen verlegt wurde (heute als Bayer Leverkusen bekannt, zu dem auch seit 2006 das Bergkamener Schering-Werk gehört), war es Heymann, der im wesentlichen die wissenschaftliche Einrichtung gestaltete, nach den damals modernsten Erkenntnissen, die die großen Erfolge ermöglichten.

Zentrales Arbeitsgebiet war die weitere Erforschung der damals noch jungen Teerfarbenindustrie (damals Anilinfarben genannt; heute faßt man alle künstlich hergestellten organischen Farbstoffe darunter), der organischen Farbstoffe, d.h., der Farbstoffe, die Kohlenstoff enthalten. Die wichtigsten unter seiner Leitung entstandenen Ergebnisse betrafen chemisch-technische Prozesse wie Textilhilfsmittel (zum Färben und zum Veredeln von Textilien, z.B., um sie wasserdicht zu machen), Pflanzenschutz, Kautschukhilfsmittel (um ihm die gewünschten Eigenschaften zu geben wie z.B. Haltbarkeit, Elastizität, Biegsamkeit, Dichtigkeit usw.) und die chemische Katalyse (hier wird die chemische Reaktion mit Hilfe eines Katalysators in Gang gebracht, beschleunigt oder gelenkt).

Schon seit 1913 arbeitete Bernhard Heymann auch persönlich an der chemotherapeutischen Synthese. Unter seiner Leitung gelang Richard Kothe und Oscar Dressel ein Präparat, das gegen den Erreger der Schlafkrankheit wirksam ist. Wilhelm Roehl führte dieses Medikament zur Marktreife. Und Friedrich-Karl Kleine vom Königlich-Preußischen Institut für Infektionskrankheiten führte 1921 in Afrika die Feldversuche durch, mit durchschlagendem Erfolg. Die Weltpresse verglich das Ergebnis mit „biblischen Heilungen“.

1912 wurde Heymann stellvertretendes, 1926 ordentliches Vorstandsmitglied des Bayer-Konzerns.

Abb. 3 Tsetsemeyers1880

Abb. 4: Die Tsetsefliege

Die Schlafkrankheit wird von der Tsetsefliege übertragen und führt nach einem Verlauf in drei Stadien zum Tode. Im Endstadium verfällt der Infizierte in einen schläfrigen Dämmerzustand, woher sich der Name ableitet. Das Medikament wurde zunächst als Bayer 205 eingesetzt und später „Germanin“ genannt. Für diese Entdeckung bzw. Entwicklung erhielt Bernhard Heymann hohe wissenschaftliche Auszeichnungen, u.a. die Ehrendoktorwürde der Universitäten Bonn und  Dresden. Und von Frankreich, damals noch Kolonialmacht, stark in Afrika engagiert, wurde diese Erfindung so bewertet (lt. Brief seines Schwiegersohnes W.E. Brenner vom 14.4.1931): „Sie ist mehr wert als alle Reparationsleistungen.“ Das bezog sich auf die 132 Milliarden Goldmark, damals etwa 47.000 Tonnen Gold, die Deutschland an Reparationen nach dem I. Weltkrieg zu zahlen hatte, zuzüglich 26% des Wertes seiner Ausfuhren!

Der damalige Kamener Bürgermeister, Gustav Adolf Berensmann, gratulierte Bernhard Heymann zu seinem 70. Geburtstag. Er schrieb: „Dem bekannten Wissenschaftler und bedeutenden Sohn unserer Stadt sendet zu seinem 70. Geburtstage die herzlichsten Glückwünsche der Magistrat der Stadt Kamen. gez. Berensmann, Bürgermeister.

Hier die Antwort Heymanns (für alle, die sich an der alten Schrift versuchen wollen, folgen Kopien der Schreiben Heymanns am Ende des Artikels):

Herrn Bürgermeister Berensmann

Kamen i. Westfalen

Sehr geehrter Herr Bürgermeister!

Mit verbindlichem Dank bestätige ich den Empfang Ihres frdl. Schreibens vom 4. ds., sowie Ihrer Verwaltungsberichte für die Jahre 1924-1929. Ich habe die Berichte mit großem Interesse durchgesehen und mich darüber gefreut, daß meine Heimatstadt, die ich als unbedeutendes Landstädtchen in Erinnerung habe, inzwischen sich zu einer mit allen möglichen anderen Einrichtungen ausgestatteten Mittelstadt von ungefähr 12000 Einwohnern entwickelt hat. Ich hoffe, daß die schweren Zeiten, die heute schwer auf uns allen lasten und sicherlich auch Kamen nicht unberührt lassen, die Weiterentwicklung der Stadt nicht auf längere Zeit hemmen werden. Für die frdl. Uebersendung der Zeitungen, die Artikel über mich brachten, spreche ich ihnen meinen besonderen Dank aus.

Sie haben mir, sehr geehrter Herr Bürgermeister, mit Ihrer Aufmerksamkeit eine große Freude bereitet.

Mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung verbleibe

ich Ihr sehr ergebener

B. Heymann

Aus der ZwischenablageAus der Zwischenablage 1

Abb. 5 & 6: Der Dankesbrief Bernhard Heymanns an Bürgermeister Berensmann

 Bernhard Heymann war Vorstandsmitglied der IG Farben. Zusammen mit seiner Frau Johanna liegt er auf dem Friedhof Manfort in Leverkusen begraben.

K H

Textquellen:

Petersen, Siegfried, „Heymann, Bernhard” in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 87 f. [Onlinefassung]

Hermann-Ehlers-Gesamtschule Kamen, Spuren jüdischen Lebens in Kamen von 1900 – 1945, Werne 1998

Dank an den Bergkamener Stadtarchivar Martin Litzinger, der den Dankesbrief Bernhard Heymanns „übersetzte”.

 

Bildquellen:

Stadtarchiv: Nr. 1, 5 & 6

Archiv Klaus Holzer: Nr. 2

Milestones, The Bayer Story 1863 – 1988, Leverkusen 1988: Nr. 3

Wikipedia, Brockhaus 1880: Nr. 4

Hermann Hamelmann – Kamens erster Reformator


Hermann Hamelmann

geb. 1526 in Osnabrück, gest. 26.6.1595 in Oldenburg

von Klaus Holzer
Aus der Zwischenablage

Abb. 1: Frontispiz der Ausgabe der Hamelmannschen Geschichtlichen Werke, Münster 1913

40 theologische, 29 historische und über 100 kleinere Schriften sind die Summe seines langen Schaffens, lokalgeschichtliche und genealogische Arbeiten, solche zur Geschichte des Humanismus und seines Schulwesens, aber auch für die niederrheinisch-westfälische Reformationsgeschichte wichtige Werke, die eine Fülle wertvollen kulturgeschichtlichen Materials enthalten, vieles davon aus mündlicher Überlieferung, das er somit vor dem Vergessenwerden bewahrte.

De sacerdotium coniugio, Dortmund 1554; De autoritate synodorum, Wittenberg 1554; De traditionibus apostolicis veris ac falsis, Frankfurt 1555; De traditionibus apostolicis et tacitis, Basel 1568; De Paedobaptismo, 1572; Illustrium Westphaliae virorum libri, 1564/65; Historia ecclesiastica renati evangelii per inferiiorem Saxoniam et Westphaliam, 1586/87; Hermanni Hamelmanni opera genealogica-historica de Westphalia et Saxonica, ed. E. C. Wasserbach, Lemgo 1711

Abb. 2 Hamelmann Titel

Abb. 2: Hermann Hamelmann, Reformationsgeschichte Westfalens, Münster 1913

Wer heute diese Titel liest, kann wohl nur als Fachgelehrter – Theologe, Historiker, Genealoge – in Aufregung geraten. Der Normalsterbliche steht davor wie der Ochs vorm Scheunentor und wird kaum darauf kommen, daß sie von einem der wichtigsten Reformatoren Westfalens, Niedersachsens, des Niederrheins und Teilen der Niederlande stammen. Und obwohl er kein Kamener ist, hat er für Kamen doch eine ganz besondere Bedeutung, weil er es war, der in unserer Stadt die Reformation einführte. Er war der erste, der das Evangelium nach Luther in Kamen predigte.

Wer war Hermann Hamelmann (HH), und wo kam er her?

Wie das so mit vielen auch der berühmtesten Personen des Mittelalters ist – über ihre Anfänge wissen wir oft wenig bis gar nichts. Schon über das Geburtsjahrs HHs sagten die Quellen lange Unterschiedliches aus, 1525 oder 1526 in Osnabrück geboren. Inzwischen ist 1526 festgestellt. Das genaue Geburtsdatum jedoch ist nicht bekannt. Da sein Vater bei seiner Geburt Canonicus (Chorherr) war, vom Notar umgeschult, wird er wohl dem jungen HH den ersten Unterricht gegeben haben, wie das damals in gebildeten Familien, vor der Einführung der Schulpflicht, üblich war. Anschließend erhielt er Unterricht auf dem Johannisstift in Osnabrück, 1538 – 1540 ist er auf dem humanistischen Gymnasium in Münster, setzt anschließend seine Schulbildung in Emmerich unter dem damals bekannten Matthias Bredenbach fort und findet sich Mitte der 1540er Jahre in der Freien Reichsstadt Dortmund auf der gerade gegründeten, aber bereits bekannten dortigen Humanistenschule. Schon hier wird offenbar der Keim gelegt für seine späteren Wanderjahre, sein ruheloser Geist läßt ihn nirgends lange verweilen. Und weil er nach 1553 unbeugsam die Lehre Luthers verficht, läßt man ihn auch selten lange wirken, zu stark waren noch die Kräfte der Beharrung.

1549 ist er an der Universität Köln immatrikuliert, wo er auch um 1550 zum (katholischen) Priester geweiht wird. Seine erste Stelle erhält er an der St. Servatiuskirche in Münster. Hier fällt er zum ersten Mal durch Kritik am kirchlichen Zölibat auf. Von dort kommt er vermutlich im Frühjahr 1552 nach Kamen und wird 2. Pfarrer an der St. Severinskirche (heute Pauluskirche). Erster (noch katholischer!) Pfarrer war Johannes Buxtorf, der Vater des berühmten Hebraisten, der später wesentlichen Anteil daran haben sollte, daß die Reformation sich in Kamen durchsetzte.


Ohne Titel

Abb. 3: St. Severinskirche, heute Pauluskirche

Er berichtet in seiner von ihm selber 1586 herausgegebenen Reformationsgeschichte: „In der Stadt Kamen lehrte Hamelmann, und da er dort einmal göttlich erleuchtet wurde, bekannte er offen, am Tage Trinitatis im Jahr des Herrn 15521 die wahre Lehre und widerlegte die päpstlichen Irrtümer. Damals war dort der Marschall jener Grafschaft der Edelmann Theodor Reck, der mit den Bürgermeistern und dem Rat, da sie die Rede Hamelmanns gehört hatten, in Verfolgung des Rechtes bestimmte, daß Hamelmann entlassen wurde, da der Landesherr jenes Ortes noch nicht öffentlich irgendeine andere Lehre als die päpstliche zugelassen hatte. So, entlassen der Wahrheit wegen, schied Hamelmann ruhig.“ (Anm. des Verf.: Er predigte über Johannes, Kap. 2, Vers 1 – 17: Über die Herrlichkeit der Gotteskindschaft) Immerhin hatte er es gewagt, in einer Zeit des großen religiösen Umbruchs, einer Reformation, die einer Revolution gleichkam, die bei seiner Predigt Anwesenden zur Annahme der lutherischen Lehre aufzufordern. Wer aber nicht dem „rechten“ Glauben anhing, setzte damals sein Leben aufs Spiel.

HodieHodie Forts.In H und W

Abb. 4: Die Stelle, an der Hamelmann sich über seinen Weggang aus Kamen äußert

Frau Schulze Berge, die Südkamener Ortsheimatpflegerin, Besitzerin des uralten Hofes Schulze Berge, deren Familie schon seit 1486 auf diesem Hof sitzt, erzählt gern folgende Anekdote, die seit Jahrhunderten durch die Generationen der Familie erzählt wird und die sich wahrscheinlich auf HH bezieht: HH war kaum in Kamen angekommen, als er seine erste Prozession den Hilligensteg entlang durch Südkamen führte. Alles nahm seinen gewohnten Gang. HH trug die Monstranz, in der sich eine konsekrierte Hostie befand, vorweg, geschützt unter dem „Himmel“, die Gemeinde folgte ihm. Man betete und sang fromme Lieder. Doch plötzlich stockte Hamelmann, erstarrte. Die ganze Prozession kam zum Stillstand. Plötzlich warf HH die Monstranz weg und rannte davon. Später erzählte er, er habe den Teufel gesehen. Da habe er gewußt, daß er die neue Lehre würde predigen müssen. Wie HH es selber formulierte: „ … da er dort einmal göttlich erleuchtet wurde …“.

Der Erfolg der Reformation war um die Mitte des 16. Jahrhunderts in Kamen zunächst recht gering, sie beeinflußte das friedliche Leben der Bewohner wenig. Die Stadt war für die neue Lehre noch nicht reif, vielleicht ist es auch richtiger, zu sagen, daß das Leben in dieser kleinen Ackerbürgerstadt wesentlich durch gutes Miteinander, gute Nachbarschaft bestimmt war. Die Katholiken hatten nach wie vor Zutritt zur Pfarrkirche, der Severinskirche. Damals scheint noch lange, nämlich bis 1612, als der letzte katholische Vikar aus der alten Zeit starb, katholischer und evangelischer Gottesdienst in der Kirche parallel stattgefunden zu haben.

Es gibt übrigens eine weitere Verbindung zu einem anderen großen Kamener, Johannes Buxtorf, Vater des späterhin so bedeutenden Johannes Buxtorf. „Hamelmann hat 1553 dem Buxtorf die Lebensbeschreibung der Kirchenväter geschenkt und diese Worte hineingeschrieben: Sunt Vitae Patrum et alia, collata D. Johanni Buxtorp Pastori in Camen suo amico et Domino honorando ab Hermanno Hamelman Osnabrugensi, aput Camenses olim Divini verbi ministri 1553“. (Dies sind die Biographien der (Kirchen–)Väter und andere Dinge, zusammengestellt  für Dr. Johannes Buxtorf, Pastor in Kamen, seinem verehrungswürdigen Freund und kirchlichen Würdenträger (wörtlich: im Herrn geehrt), von Hermann Hamelmann aus Osnabrück, einst Diener des Wortes Gottes (=Pfarrer) in Kamen, 1553.“

Buxtorf der Vater

Abb. 5: Die Widmung Hamelmanns für Johannes Buxtorf

Doch HH gab den Anstoß, Luthers Lehre siegte. Der Keim war gelegt, die Saat mußte aufgehen. Nur die Schwestern des Klosters auf der Marienouwe, einige wenige Vicare und ein geringer Bruchteil Laien blieb bei der alten Kirche. Wieder Hamelmann selber in seiner „Reformationsgeschichte Westfalens“: „Inzwischen legte es jener gute Marschall Theodor Reck (der bald völlig umkehrte, um das Jahr des Herrn 1567) den Pastoren dort, Johann Buxtorp und Johann Merkator Schomburg, von Dortmund gebürtig, nahe, daß sie frohgemut anfingen, die Lehre des Evangeliums auszubreiten, die Sakramente gemäß der Lehre Christi in deutscher Sprache zu verwalten und deutsche Lieder zu singen. Ihr frommer Helfer war Johann Wegener, ein gelehrter und ernster Mann“.

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Abb. 6: Hamelmann über die Einführung der Reformation in Kamen

HH ging, erzwungen durch seine Auseinandersetzungen mit den kirchlichen Autoritäten um die Reformation, auf ein Wanderleben, immer auf der „Suche nach der einen Wahrheit“. Seine nächsten Stationen waren Ostfriesland, Braunschweig, Wittenberg, wo er sich mit Melanchthon traf und mit diesem über die Verabreichung und die Einnahme des Abendmahls disputierte, und seine Geburtsstadt Osnabrück. 1554 wurde er Pfarrer an der Neustädter Marienkirche in Bielefeld.

Ohne Titel

Abb. 7: Die Neustädter Marienkirche, Bielefeld

Dort tritt er am Fronleichnamstag 1555 in einer Predigt „über den wahren Gebrauch des Sakraments und seine Einsetzung“ gegen das Herumtragen des Brotes in altgläubigen Prozessionen ein. Es kommt zum Konflikt mit den Stiftsherren und der klevisch-ravensbergischen Regierung. Am 14. August 1555 kam es zur Disputation am klevischen Hof in Düsseldorf mit dem Hofprediger Bomgard und dem Kanzler Vlatten vor seinen Bielefelder Gegnern. Da der herzoglich-klevische Hof der Reformation abgeneigt war, stattdessen an der erasmischen Reform festhielt (Anm. d. Verf.: Erasmus von Rotterdam nahm eine vermittelnde Stellung zu den verschiedenen reformatorischen Bestrebungen ein, lehnte aber Luthers Reform nach dessen Bruch mit der Kirche ab) verlor HH erneut sein Amt.

Er ging im selben Jahr als Pfarrer nach Lemgo, wurde von der Regierung wieder beurlaubt, reiste weiter nach Rostock, um den Licentiatengrad (Anm. d. Verf.: entspricht dem D. theol.) zu erwerben, kehrte nach Lemgo zurück, wo er sich endlich niederlassen konnte. Hier wirkt er bis 1568, gelegentlich unterbrochen, weil er zwischendurch nach Waldeck und Brabant gerufen wird, um dort die Reformation voranzubringen. Schließlich wird er Generalsuperintendent in Gandersheim und endlich Hauptpastor an der Lambertikirche und Generalsuperintendent in Oldenburg, wo er bis zu seinem Tode wirkt. Hier gilt Hamelmann durch den Erlass der ersten oldenburgischen Kirchenordnung, zugleich auch Schulordnung, von 1573 als einer der Vordenker und Begründer des Volksschulwesens. Und seine Oldenburger Chronik („Oldenburgisch Chronicon”) gilt als Standardwerk ihrer Art, und er war der erste, der einen Versuch unternahm, die Bedeutung der Externsteine zu untersuchen.

Während all dieser Jahre war er ein ungemein fruchtbarer Schriftsteller, der über enorme historische Kenntnisse verfügte. Für seine theologischen Polemiken zog er die Kirchenväter heran, auf sie stützte er seine Streitschriften gegen Katholiken, Reformierte und Wiedertäufer. Er kannte sich so gut in der Geschichte der Territorien und der Dynastengeschlechter Westfalens aus, daß er zur wichtigsten, in vielen Bereichen einzigen, Quelle zur Geschichte Westfalens wurde. Seine zwei wichtigsten Werke hierzu sind seine Illustrium Westphaliae virorum libri I – VI (Verzeichnis der namhaften Männer Westfalens, Buch 1 – 6) von 1564/65 und die Historia ecclesiastica renati evangelii per inferiorem Saxoniam et Westphaliam (Reformationsgeschichte Westfalens und Niedersachsens) von 1586/87.

In Kamen ist sein Name heute unbekannt. Lediglich bei Kirchenführungen fällt sein Name als desjenigen, der Kamen zu einer protestantischen Stadt machte, und bei Besteigungen des Schiefen Turms, wo man im ersten Turmboden eine kleine Ausstellung mit erklärenden Worten zum Schaffen Hermann Hamelmanns findet. Auch wenn Kamen nur eine kurze Episode in seinem Leben darstellt, der bedeutendere Teil seines Wirkens sich in Lemgo und vor allem Oldenburg abspielte – er hatte den Mut, sich als erster in Kamen zur Reformation zu bekennen und hat damit die Geschichte dieser Stadt wesentlich beeinflußt. Er hat mehr Aufmerksamkeit verdient.

Klaus Holzer

im Februar 2016

Folgende Quellen liegen dieser Darstellung zugrunde:

Pröbsting, Friedrich, Geschichte der Stadt Camen und der Kirchspielsgemeinden von Camen, Hamm 1901

Thiemann, Egbert, „Hamelmann, Hermann” in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 585

Simon,Theo, Fast 800 Jahre Pfarre Kamen, Westfalenpost 2. 7. 1959

Zuhorn, Wilhelm, Geschichte des Klosters und der Katholischen Gemeinde zu Camen, Camen 1902

Löffler, Dr. Klemens, (Hrsg.) Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke. Kritische Neuausgabe, Bd. II, Münster 1913 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Westfalen), Stadtarchiv Kamen

1 Hier weist Löffler auch nach, daß Hamelmann sich in seiner Darstellung, wann er zum ersten Mal die Reformation gepredigt hat, irrte und gibt den Sonntag Trinitatis (28. Mai) 1553 dafür an.

Bildquellen:

Löffler, Dr. Klemens, (Hrsg.) Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke. Kritische Neuausgabe, Bd. II, Münster 1913 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Westfalen), daraus auch die Faksimiles aller Textpassagen, Stadtarchiv Kamen

Neustädter Marienkirche, Wikipedia

Pauluskirche mit Küsterhaus, Stadtarchiv Kamen

KH

Zu Praetorius: Hexenverfolgungen – Dichtung und Wahrheit

von Klaus Holzer

Abb. 1 Hexenverbrennung 2

Abb. 1: Hexenverbrennung 1587

Was war es nun, dessen ,Hexen‘ beschuldigt wurden, was sie gestehen sollten? Es waren vier Tatbestände, die den ,Hexen‘ zur Last gelegt wurden und die sie zu gestehen hatten: Teufelspakt (beinhaltet auch Teufelsbuhlschaft, d.h., Geschlechtsverkehr mit dem Teufel), Hexenflug, Hexensabbat und Schadenszauber. Und erst, wenn sie dieses gestanden hatten, konnte gegen sie die Todesstrafe verhängt werden.

Abb. Ersatz Hexenflug

Abb. 2: Hexenflug

Das verlangte die kaiserliche Halsgerichtsordnung, die Constitutio Criminalis Carolina Kaiser Karls V. von 1532. Um das Geständnis zu erreichen, wurde gefoltert. Durch die Folter wurde also eine an sich gute Bestimmung in ihrer Wirkung pervertiert.


Abb

Abb. 3: Titel mit Frontispiz ( Titelblätter des Kommentars zur Carolina (im Stadtarchiv)

Aus der Zwischenablage

Abb. 4: Titelseite der Carolina, Ausgabe von 1696 (im Stadtarchiv)

Die die „zauberey“ betreffenden Passagen der Carolina lauten (Dank an Hans Jürgen Kistner, der mich auf diese Passagen aufmerksam machte):

44. Von zauberey gnuogsam anzeygung

ITem so jemandt sich erbeut andere menschen zauberei zuo lernen / oder jemands zuo bezaubern bedrahet vnd dem bedraheten dergleichen beschicht / auch sonderlich gemeynschafft mit zaubern oder zauberin hat / oder mit solchen verdechtlichen dingen / geberden / worten vnd weisen / vmbgeht / die zauberey auf sich tragen / vnd die selbig person des selben sonst auch berüchtigt / das gibt eyn redlich anzeygung der zauberey / vnd gnuogsam vrsach zuo peinlicher frage.

52. So die gefragt person zauberey bekent.

ITem bekent jemandt zauberey / man soll auch nach den vrsachen vnnd vmbstenden / als obsteht fragen / vnd des mer / wo mit / wie vnd wann / die zauberey beschehen / mit was worten oder wercken. So dann die gefragt person anzeygt / daß sie etwas eingraben / oder behalten hett daß zuo solcher zauberey dienstlich sein solt / Mann soll darnach suochen ob man solchs finden kundt / wer aber solchs mit andern dingen / durch wort oder werck gethan / Man soll dieselben auch ermessen / ob sie zauberey auff jnen tragen. Sie soll auch zuofragen sein / vonn wem sie solch zauberey gelernt / vnd wie sie daran kommen sei / ob sie auch solch zauberey gegen mer personen gebraucht / vnd gegen wem / was schadens auch damit geschehen sei.

109. Straff der zauberey.

ITem so jemamdt den leuten durch zauberey schaden oder nachtheyl zuofügt / soll man straffen vom leben zuom todt / vnnd man soll solche straff mit dem fewer thuon. Wo aber jemandt zauberey gebraucht / vnnd damit niemant schaden gethan hett / soll sunst gestrafft werden / nach gelegenheit der sach / darinnen die vrtheyler radts gebrauchen sollen / wie vom radt suochen hernach geschriben steht.

Abb. 2 CCCarolina Abb. 5: Constitutio Criminalis Carolina, Ausgabe von 1577

Im folgenden sollen vier Aspekte näher beleuchtet werden:

  1. Es wurde und wird behauptet, daß Hexenverfolgungen eine systematische Vernichtung von Frauen und (wenigen) Männern waren, die „im Vergleich zur damaligen Menschendichte mehr Menschenleben gefordert hat als die unvorstellbare Judenvernichtungsaktion Hitlers“. Dabei ist die Rede von bis zu 9 Millionen Hexenfolterungen und –verbrennungen.
  2. Prozesse und Verurteilungen fanden auf Betreibung der (katholischen) Kirche statt. Die (vor allem spanische) Inquisition war die treibende Kraft hinter Tortur und Verbrennungen.
  3. Der Hexenhammer.
  4. Friedrich Spee.

Ich beziehe mich in den folgenden Ausführungen auf das 2. Kapitel „Hexen und Zauber“, „I. Hexenglauben“ (S. 295 – 333) in „Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert“, erschienen bei Aschendorff in Münster 2007, des Münsteraner Theologen Arnold Angenendt, der sich intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt hat.

Zu 1.:

Angenendt zitiert „gut belegte Zahlen von Gustav Henningsen“ von 2003, die für Deutschland etwa 25.000 Opfer bei ca. 16 Millionen Einwohnern nachweisen. In den deutschen katholischen Gebieten waren die Opferzahlen höher als in protestantischen Gebieten. In den katholischen Ländern Europas hingegen liegen diese Zahlen bedeutend niedriger. Bezieht man die Zahl der Opfer auf die Gesamtbevölkerung, ergibt sich folgendes Bild (Hexenhinrichtungen in Europa, höchste Zahlen, Auszug aus der Tabelle von Henning):

Land

Einwohner um 1600

Hinrichtungen

Promille

Dänemark/Norwegen

970.000

1.350 (?)*

1,392

Deutschland

16.000.000

25.000

1,563

Polen/Litauen

3.400.000

10.000 (?)*

2,941

Schweiz

1.000.000

4.000

4

Liechtenstein

3.000

300

100

(Hexenhinrichtungen in Europa, niedrigste Zahlen, Auszug aus der Tabelle von Henning):

Land

Einwohner um 1600

Hinrichtungen

Promille

Niederlande

1.500.000

200

0,133

Italien

13.100.000

1.000 (?)*

0,076

Spanien

8.100.000

300 (?)*

0,037

Portugal

1.000.000 (?)*

7

0,0007

Irland

1.000.000

2

0,0002

* Diese Zahlen weisen eine größere Unsicherheit auf.

Diese Zahlen liegen deutlich unter den wohl ideologisch motivierten Phantasiezahlen, die in die Millionen gehende Opferzahlen propagieren, dennoch muß klar gesagt werden, daß sie immer noch bestürzend hoch sind. Der Begriff „Justizmord“ wurde bezeichnenderweise im Zusammenhang mit einem Hexenprozeß geprägt. Und der Anteil der Frauen liegt, nach ebenfalls als zuverlässig erachteten Schätzungen, die auf vorhandenen Dokumenten wie Gerichtsprotokollen fußen, bei 75 – 80%.

Zu 2.:

Wo die Hexenverfolgung in den Händen der Inquisition lag, wird ein gemäßigter bis vorsichtiger Umgang mit dem Hexereidelikt festgestellt. In Spanien war es die institutionalisierte Inquisition, die die Hexenverfolgungen unter ihre Kontrolle brachte und 1526 praktisch beendete. Der römischen Inquisition wird bescheinigt, Kranke und Bedürftige gut behandelt zu haben, schwangere Frauen mit Rücksicht. Es gab die gleiche Verpflegung wie für die Wärter, Heizmaterial für die Zellen und regelmäßig frische Bettwäsche, die Wärter waren ohne Grausamkeit.

Hexenglauben wird heute als vormodernes Allgemeinphänomen betrachtet, das zunächst von der Kirche nicht ernst genommen und daher oft durch Lynchjustiz „geahndet“ wurde. Der mit Hexenglauben eng zusammenhängende Schadenszauber war ein säkulares Delikt, das seit dem Codex Hammurabi (Babylon, 18. Jh. v. Chr.), mit Strafe bewehrt ist, das die Kirche nicht strafrechtlich verfolgte, wohl aber das weltliche Recht, wie es schon der Sachsenspiegel des Eike von Repgow (Deutschland, zwischen 1220 und 1235) vorsah: „Ist ein Christ ungläubig oder beschäftigt er sich mit Zauberei und Giftmischerei und wird dessen überführt, den soll man auf dem Scheiterhaufen verbrennen.“  (Hexenglauben und –verfolgung gibt es noch heute in Afrika, Südostasien und Südamerika.)

Abb. 3 Hexenverbrennung

Abb. 6: Hexenverfolgung/verbrennung

Der Hexereibegriff, den wir heute zugrundelegen, wurde erst gegen Ende des Mittelalters (MA) geschaffen. Kennzeichen: 1. Pakt mit dem Teufel. 2. Geschlechtsverkehr mit ihm; 3. Möglichkeit zum Schadenszauber bzgl. Mensch, Tier und Ernte; 4. Teilnahme am Hexensabbat.

Nahezu alle frühen Hexenprozesse wurden nicht von Geistlichen veranstaltet, hatten nichts mit kirchlicher Gerichtsbarkeit zu tun, sondern von Politikern und Laien, da die weltlich-staatliche Justiz generell die Zuständigkeit bei Hexenprozessen für sich reklamierte. 1532 beanspruchte die Constitutio Criminalis Carolina Kaiser Karls V., das für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation erlassene Strafgesetzbuch, die Kompetenz für Hexenprozesse, ließ sie aber nur für „wirklich nachweisbaren Schadenszauber“ zu und erlaubte nur begrenzte Folteranwendung. Dadurch wurden in schwierigen Fällen studierte Juristen notwendig, was die weltlich-staatliche Justiz nach sich zog.

Fast immer kamen Hexenprozesse durch Anzeigen aus der Nachbarschaft  und der Dorfgemeinde in Gang. Oft gab es im Dorf Hexenausschüsse, und da diejenigen, die jemanden der Hexerei bezichtigten, sich das Vermögen der „Hexen“ mit den Richtern teilen durften, endeten Hexenprozesse hier auch so gut wie immer mit einem Todesurteil. Auf dieser Ebene, zusammen mit den adeligen Ortsgerichten, kam es auch immer wieder zur kirchlicherseits längst verbotenen Wasserprobe. Und hier führte man in der Regel auch sofort die keinen Normen verpflichtete Folter durch. Ausgerechnet päpstliche Inquisitoren erkannten mit als erste, daß maßlose Folterung zu zahlreichen Fehlurteilen führen mußte und geführt hatte.

Abb. Ersatz Erkenntnis der ZauberinnenAbb. 7: Wasserprobe

In summa: Die Inquisition verfuhr rechtsbewußter und weniger grausam als die weltliche Justiz.

Zu 3.:

Der Dominikanermönch Heinrich Kramer, der sich lateinisch Institoris nannte, war eine zwielichtige Gestalt, die u.a. wegen Unterschlagung von Ablaßgeldern belangt worden war. Er besorgte sich 1484 von Papst Innozenz VIII. eine Bulle, die Hexenverfolgung vorsah, nicht jedoch Hexenverbrennung. Daraufhin zettelte er Hexenverfolgungen an, scheiterte jedoch kläglich, so z.B. in Innsbruck. Der Bischof von Brixen nannte ihn „kindisch“ und „verrückt“ und warf ihn aus Innsbruck hinaus. Erst dann schrieb er den „Hexenhammer“ (Malleus Maleficarum), und zwar allein, ohne den meist mitgenannten Jakob Sprenger. Er fügt seinem Buch die päpstliche Bulle bei, ein Gutachten der Kölner Theologischen Fakultät und ein kaiserliches Privileg, wodurch der Eindruck höchster Autorität entstand. Jedoch zeigen neue Forschungen, daß die Bulle in Wahrheit aus der Bürokratie des Vatikans stammt und ohne Wissen des Papstes verfaßt wurde. Und das Gutachten der Kölner Theologen ist mittlerweile als Fälschung entlarvt worden. Bleibt nur noch das kaiserliche Privileg, das bislang nicht angezweifelt wird.

Abb. 5 Malleus_1669

Abb. 8: Der Hexenhammer

Seit seinem Erscheinen in der Karwoche 1487 und einem weiteren Druck 1520 erschien der Hexenhammer in 10.000 Exemplaren und traf offensichtlich den Nerv der Zeit: Er wurde zur Grundlage der Hexenverfolgungen und –verbrennungen, die vor allem das 16. und 17. Jh. erschütterten. Von nun an wurden Hexereidelikte nördlich der Alpen ausschließlich vor weltlichen Gerichten verhandelt, die sich ja der Zustimmung der katholischen Kirche gewiß waren, waren doch die Umstände ihrer Entstehung nicht bekannt. Selbst die protestantischen Kursächsischen Konstitutionen (1572 vom sächsischen Kurfürsten August publizierte Sammlung von Rechtsentscheidungen) übernahmen Teile des Hexenhammers. Sie bieten eine organische Weiterentwicklung des auf dem Sachsenspiegel fußenden sächsischen Rechts und wandten ihn an, samt der Todesstrafe. Selbst die bekannten Gegner der Hexenverfolgung, Spee und Prätorius, bestreiten nicht, daß es Hexen gibt. Und Luther äußert sich in seiner Predigt vom 6. Mai 1526: „Sie schaden vielfaltig, also sollen sie getötet werden, nicht allein, weil sie schaden, sondern auch, weil sie Umgang mit dem Satan haben.“ Calvin scheint hier nicht klar zuzuordnen zu sein. Zum einen erklärte er, Gott selbst habe die Todesstrafe für Hexen festgesetzt („Hexenverfolgung”, wikipedia). Zum anderen soll Calvin für  Praetorius eine Autorität sein, die er im Kampf gegen Hexenverfolgungen auf seiner Seite sieht (Detmers, historicum.net). Es bleibt jedoch klar festzuhalten, daß Hexerei im MA Bestandteil der Lebenswirklichkeit war.

Die spanische Inquisition lehnte den Hexenhammer auf einer Konferenz in Granada 1526 ab, die römische Inquisition urteilte 1580 genauso.

Zu 4.:

Ein weiteres Indiz dafür, daß es nicht „die Kirche“ war, die vor allem für Hexenverfolgung und –verbrennung verantwortlich war, ist die Tatsache, daß es der Mönch Friedrich Spee (FS) (25.2.1591 – 7.8.1635) und, noch vor ihm, der Pfarrer Anton Praetorius (AP) (um 1560 – 6.12.1613) waren, die vehement gegen diese Praxis Stellung bezogen, ja, sie in Wort und Tat bekämpften, und nicht etwa die Juristen in städtischen und landesherrlichen Diensten. Allerdings hatten Theologen und Prediger durchaus ihren Anteil an diesen Greueltaten.

Abb. 6 Friedrich Spee

Abb. 9: Friedrich Spee von Langenfeld (Ölbild von Martin Mendgen, 1938, Stadtbibliothek Trier)

Der wirkungsvollste Gegner der Hexenverfolgungen war ein Jesuit, Friedrich Spee, der Autor der Cautio Criminalis seu de processibus contra Sagas Liber (deutsch: Rechtliches Bedenken oder Buch über die Prozesse gegen Hexen). In dieser Schrift, die er 1631 anonym veröffentlichte, argumentiert FS zunächst vor allem juristisch. Er verlangt eine wirksame Strafverteidigung: der Richter solle dafür sorgen, daß es den Gefangenen nicht an Advokaten fehlt. Den Verteidigern solle der Zugang zum Gefängnis nicht verwehrt werden dürfen. Dann solle der Richter ein festes Gehalt bekommen, um ihn vor Bestechlichkeit zu schützen und seine Unabhängigkeit zu gewährleisten. Und er fordert die Beachtung des Grundsatzes in dubio pro reo ein, heute als „Unschuldsvermutung“ in aller Munde.

Abb. 7 Cautio_criminalis_1631

Abb. 10: Cautio Criminalis eines unbekannten römischen (katholischen) Theologen (anonym von Friedrich Spee veröffentlicht)

FS belegt an Beispielen aus seiner eigenen Erfahrung, daß die Folter ein inhumanes, ganz und gar unzuverlässiges Mittel zur Erforschung der Wahrheit ist. Die Verantwortlichkeit für Folter und Hexengerichte verteilt FS folgendermaßen: 1. die Fürsten, 2. die Ratgeber der Fürsten, 3. die Hexenrichter, 4. die Hexenbeichtväter, 5. das Volk,      6. die Hexenliteratur, 7. die Prediger. Seine Schrift richtet sich demzufolge ausdrücklich ad magistrates Germaniae: Ratgeber und Beichtväter der Fürsten, Inquisitoren, Richter, Advokaten, Beichtiger der Angeklagten und Prediger.

Schon 1627 hatte ein anderer Jesuit, Adam Tanner in Bayern, seine theologischen Argumente gegen Hexenverbrennungen vorgebracht, voller Abscheu gegen die zu der Zeit in den geistlichen Fürstbistümern Eichstätt, Bamberg, Würzburg und Mainz tobenden Hexenverbrennungen.

Doch entwickelte FS nicht nur eine lückenlose juristische Argumentationskette gegen die Hexenverbrennungen, sondern legte auch ausführlich christlich–kirchliche Argumente dar. Zuallererst berief er sich auf den Gott der Liebe: Gott ist ein für alle Male von unbegreiflicher Liebe zum Menschengeschlecht erfüllt. Im Gegensatz zu den Scharfmachern interpretiert er das Weizen/Unkraut–Gleichnis in Matthäus 13, 24 – 30 tolerant: Wenn Gefahr droht, daß zugleich der Weizen mit ausgerauft werde, dann darf das Unkraut nicht vertilgt werden. Mit seiner Klage „Ecce Germania tot sagarum mater“ (Sehet Deutschland, so vieler Hexen Mutter) spielt er auf das Ecce homo der Passionsgeschichte an. Seine Haltung kam „vom Glauben her“.

Und weiter unten heißt es: „[…] Schadenszauber und damit auch Hexerei [galten] bei den kirchlichen und bei den weltlichen Instanzen als wirklich existent und strafbar. Darum verfolgte die weltliche Justiz den durch Hexerei angerichteten Schaden als justiziables Verbrechen. Die kirchliche Vorgehensweise wollte […] nur geistliche Bestrafung, bei Verzicht auf Körperstrafen. Da jedoch kirchlicherseits bei den Ketzern die Todesstrafe möglich geworden war, mußte allen Hexern und Hexen wegen ihres häretischen Teufelspaktes ebenfalls der Tod drohen. Aber die Kirchengerichte wie besonders die Inquisition hielten sich zurück, ja lehnten ab. So ist am Ende festzustellen: Zauberei galt allgemein als teuflisch, wegen des Teufelspaktes als Glaubensaufkündigung, wurde aber kirchenoffiziell nicht mit dem Tode geahndet, allerdings nicht deswegen, weil man die Todesstrafe grundsätzlich für bedenklich gehalten hätte, sondern weil man bei Hexerei den erforderlichen juristischen Erweis für unmöglich hielt.“

Und es verdient festgehalten zu werden, daß alle Konfessionen bei diesem Kampf gegen Hexenverfolgungen beteiligt waren: der calvinistische Pfarrer Anton Praetorius  als Vorreiter mit seinem „Gründlichen Bericht von Zauberei und Zauberern“ , der Jesuit Friedrich Spee mit seiner „Cautio Criminalis“ von 1631 als wirkungsvollster Kämpfer, lutherische Pfarrer, als sie AP öffentlich unterstützten, indem sie die dritte Auflage von 1613 seines „Gründlichen Berichts“ förderten.

Fazit: Die aufklärerisch-liberale Interpretation der Hexen-Verfolgung lautete, wie die Aufarbeitung der Hexerei-Geschichtsschreibung inzwischen ergeben hat: „mehrere Millionen Opfer, mittelalterliches Phänomen und ausschließliche Schuld bei der katholischen Kirche bzw. der Inquisition“. Das Gegenteil ist inzwischen herausgearbeitet: weder Millionen Opfer, noch mittelalterliches Phänomen, sogar Ablehnung durch Päpste und Inquisition.

Abb. 8 Titelseite 1602

Abb. 11: Antonius Praetorius – Gründlicher Bericht von Zauberey etc. (vgl. Artikel über Praetorius)

Auch Hartmut Hegeler kommt in seiner Schrift „Hexenprozesse. Die Kirchen und die Schuld“ (Unna 2003) zu einem ähnlichen Verdikt: „Von einer alleinigen Verantwortung der Kirchen für Entstehung und Durchführung der Hexenprozesse kann jedoch nicht gesprochen werden.“ (S.8) Allerdings beurteilt er die Verstrickung der lutherischen, calvinistischen und katholischen Kirche als so schwerwiegend, daß er offizielle Schuldanerkenntnisse von ihnen verlangt und darüber hinaus auch die Rehabilitierung aller als Hexen verurteilten Personen. Hierin hat er durch seine Initiative auch schon einiges erreicht: bis 2015 wurden „Hexen“ in 40 Städten und Gemeinden rehabilitiert. Winterberg im Sauerland machte am 19. November 1993 den Anfang, heute steht Gelnhausen in Hessen seit dem 10. Juni 2015 am vorläufigen Ende der Liste.

Hegeler sagt dazu: „Eine rechtliche und theologische Rehabilitierung der unschuldig hingerichteten Opfer der Hexenprozesse ist ein überfälliger Akt im Geiste der Erinnerung und Versöhnung.“

Wie komplex die Materie ist, wird allerdings auch deutlich. „Man darf nicht vergessen, dass die Menschen nach damals geltendem Recht verurteilt wurden. Hexerei war ein existierender Straftatbestand, auch Folter war erlaubt,“ sagt der Jurist Prof. Dr. Wolfgang Schild von der Universität Bielefeld. „ Eine tatsächliche juristische Rehabilitierung – also die Aufhebung der Urteile – ist deshalb nicht möglich. Was die Städte also lediglich tun können, hat vielmehr symbolischen Wert.“ (lt. dpa vom 27. Nov. 2011) Er betont also das juristische Prinzip, wonach Gesetze nicht rückwirkend (ex post) angewandt werden dürfen.

Auch wenn vielleicht nicht überall eine juristische Aufarbeitung und, damit einhergehend, eine Revision der mittelalterlichen Hexengerichtsurteile möglich oder erwünscht ist, mindestens läßt sich aber Hegelers Vorschlag umsetzen, wenigstens eine Straße nach dem ersten Kämpfer gegen Hexenprozesse, Antonius Praetorius, zu benennen. Eine mitgegebene Erklärung wird alle an diese doch im ganzen unrühmliche Zeit erinnern. Ein Akt der Aufklärung.

Anhang: Die drei Passagen (44, 52, 109), die oben aus der Carolina zitiert werden, im Erscheinungsbild  der Ausgabe von 1696 (im Stadtarchiv Kamen):

44 Zauberey

Ziff. 44: Von Zauberey genugsame Anzeigung

52 gefragte Person

Ziff.  52: So die gefragte Person Zauberey bekennt

109 Straff

Ziff. 109: Straff der Zauberey

Bildnachweis:

aus Wickiana: Abb. 1

aus Wikipedia: Abb. 2, 5, 7, 8 (MM, Lyon 1669), 10 (Rinteln 1631), 11

Stadtarchiv Kamen: Abb. 3 & 4

aus H. Hegeler, Hexenverfolgung am Beispiel von Anton Praetorius: Abb. 6

Friedrich-Spee-Gesellschaft Trier: Abb: 9

KH

Antonius Praetorius, der erste Kämpfer gegen Hexenprozesse

von Klaus Holzer

Antonius Praetorius, geb. um 1560 in Lippstadt, gest. 6.12.1613 in Laudenbach a/d Bergstrasse

Antonius Praetorius

Antonius Praetorius, gesehen von Reimund Kasper

Wie unschwer zu erkennen ist, ist der Name des Mannes lateinisch. Und das, obwohl er als Sohn des Matthes Schulze in Lippstadt geboren wurde. (Der Name „Schulze“ kommt von „Schultheiß“, d.h., es handelt sich um jemanden in herausgehobener Position, einen Verwalter, der „jemanden heißen kann, dem Grundherrn Verpflichtungen (=Schuld) abzuleisten“, der also bestimmt, was und wieviel jemand an Abgaben und Diensten an den Fron– bzw. Lehnsherrn zu leisten hat.) Dieser hatte mit seinem Sohn Großes vor und schickte ihn zur örtlichen Lateinschule. Und schon zu Hause in Lippstadt hatte Anton mit 13 Jahren ein Erlebnis, das später sein Leben bestimmen sollte: er wird Zeuge eines Hexenprozesses und erlebt, was die Anwendung der Folter mit Menschen macht. Er wurde Zeuge, wie Frauen hinausgeführt und verbrannt wurden, „nur darum, sie hätten mit dem Satan … gezecht, getanzt, bebuhlt und Wetten gemacht; welches doch alles ihrer Natur zuwider und unmöglich gewesen“.

Mit 21 Jahren hat er eine theologische Ausbildung absolviert und sich fundierte Bibelkenntnisse erworben, die ihm später bei seiner Argumentation gegen die Hexerei nützlich sein werden. Er wird Lehrer und nennt sich fortan „Antonius Praetorius“ (AP), was eine Übersetzung des Familiennamens ins Lateinische ist. Damit folgt er der humanistischen Tradition, den Namen zu latinisieren, damit die gelehrte Disputation, die vorherrschende Form des wissenschaftlichen Streits, in der lingua franca des Mittelalters (MA) geführt werden konnte. (Das Lateinische ist eine synthetische Sprache, d.h., alle grammatischen Umstände werden durch Formen bestimmt und zum Ausdruck gebracht, es finden sich Bedeutung und grammatische Kategorien in einem Wort, daher können z.B. deutsche Namen wie „Schulte“ im Lateinischen nur äußerst umständlich verwendet werden.) 

1580 geht er als Lehrer nach Kamen. Hier heiratet er 1584 Maria, eine Kamenerin, die ihm 1585 den Sohn Johannes gebiert. Offenbar ist er ein guter Lehrer, er erwirbt sich bald Ansehen. Schon 1586 wird er zum Rektor der Kamener Lateinschule ernannt – der Vorläuferin des heutigen Städtischen Gymnasiums – was durch eine vom Urkunde vom 28. April 1586 im Kamener Stadtarchiv belegt ist.

Abb. 0a. Schulurkunde mit AusschnittAbb. 1: Urkunde vom 28. April 1586 

Die Stifter schreiben in der besagten Urkunde, „das die Schuele alhier zu Camen ettliche viele Jahren hero mit erfarnen fließigen Schuldienern nitt fast woll versehenn  gewesenn“. Sie erklären dann, daß „ … dahero die Jugendt ubell erzogenn, alß wilde Rancken auferwachsenn unnd jetzo auf heuttige stunde ein gewißer  Verlauf und mangell bei Burgschaft und gemeinde dieser Stadt gespuiret würdt.“ Es bedürfe aber „erfarner christlicher Schuelldiener, … Sinthemall dadurch die junge anwachsene Jugendt vonn Kindt auf zu Gottsfruchtt, guiter Lehr, Künsten, ehr, Zuchtt unnd tugendt dermaißenn angeführet unnd aufertzogen wurdt“.

Offenbar trauen die Stifter AP zu, die Dinge in Ordnung zu bringen und geben ihre „Donation, gifft, contribution und ordnung“ „zu befuderung seiner christlichen Kirchen und gemeinden, auch dieser Stadt Burgerschaft, und den benachbarten zu Dienst, nutz und besten“.

Damit das möglich wird, stiften 14 Bürger, darunter auch der Bürgermeister Joachim Buxtorf, insgesamt 1520 Taler und 72 Taler Rente pro Jahr, weil „die Mittel der Unterhaltung der Schuldiener zu gering seien und Kirche und Staat wegen eigener Bedürftigkeit nicht zulegen können“. (zit. aus Theo Simon, Die Geschichte der Schule, in: 100 Jahre Städtische Höhere Lehranstalt Kamen, Festschrift 1958; Übersetzung bzw. Zusammenfassung: unter einem Mangel an erfahrenen Lehrern gelitten habe; woher die Jugend übel erzogen sei, als wilde Rangen aufgewachsen sei, und daß Bürgerschaft und Stadt diesen Mangel spürten; da ja dadurch die heranwachsende Jugend von Kind auf zu Gottesfurcht, guter Lehre, den Künsten ( = hier sind gemeint die septem artes liberales, an erster Stelle Grammatik: Lateinische Sprachlehre und ihre Anwendung auf die Werke der klassischen Schulautoren), Ehre, Zucht und Tugend ( = zu tugendhaftem Verhalten) angeleitet und erzogen werden; sie geben ihre Stiftung und deren Ordnung zur Unterstützung der christlichen Kirchen und Gemeinden, der Bürgerschaft Camens und benachbarter Orte zu ihrem Nutzen und Besten.)

Abb. 0bAbb. 2: Widmungsseite der Ausgabe von 1613

Zwei weitere Stifter, Hermann Reinermann und Johann Bodde, dazu Pfarrer Wilhelm Schulenius, werden ihn im Jahre 1613 noch einmal unterstützen: sie erscheinen als Praetorius’ Unterstützer auf der Widmungsseite der dritten Auflage seines Buches „Gründlicher Bericht von Zauberey und Zauberern/ darinn dieser grausamen Menschen feindtseliges und schändliches Vornemen/ und wie Christlicher Obrigkeit ihnen Zubegegnen/ ihr Werck zuhindern/ auffzuheben und zu Straffen / gebüre und wol möglich sey … kurtz und ordentlich erkläret. Durch Joannem Scultetum Westphalo-camensem. Gedruckt zu Lich/ in der Graffschaft Solms bey Nicolao Erbenio“. Darin behandelt er das Zauberwesen, die Folter und die Rolle der Obrigkeit im Hexenprozeß. Mit Argumenten aus der Bibel distanziert er sich von Calvins und Luthers Aufrufen zur Verbrennung der Hexen und forderte die Abschaffung der Folter.

Abb. 1a, Titelseite 1602

Abb. 3: Gründlicher Bericht, 2. Auflage 1602

Abb. 1 Titelseite 1613

Abb. 4: Gründlicher Bericht (Facsimile-Titel, 3. Auflage von 1613)

Allerdings hält es ihn in Kamen nicht lange. Hartmut Hegeler, der sich wohl am ausführlichsten mit AP auseinandergesetzt hat, vermutet unter den Gründen auch die Fehlgeburten, die seine Frau in den nächsten Jahren hatte, und ihren dadurch verursachten frühen Tod. Schon 1587 wird er lutherischer Diakon in Worms. Bevor er 1589 zweiter Pfarrer in Oppenheim wird, wechselt er von der lutherischen Lehre zum Calivinismus und wird noch 1589 reformierter Pfarrer in Dittelsheim. AP war überzeugt, daß die Radikalität der Botschaft Christi, wie Calvin sie verkündete, die fortschrittlichste Variante der Reformation war. 1596 schon veröffentlicht er seine Schrift De Pii Magistratus Officio (Des frommen Amtsträgers Pflicht), in der er eine bibelorientierte Erneuerung von Kirche und Nation gemäß Johannes Calvins Lehren fordert.

In der Mission für die Verbreitung der calvinistischen Konfession fand er sein erstes Lebensthema. Schon 1597 veröffentlicht er sein „Haußgespräch. Darinn kurz doch klärlich und gründlich begriffen wird/was zu wahrer Christlicher Bekanntnuß/auch Gottseligem Wandel gehörig/und einem jeden Christen vornemlich zu wissen von nöhten“ . Des weiteren mischt er sich in den Streit mit den Lutheranern um das Abendmahl ein. Nach einem Disput mit dem Mainzer Erzbischof über die Marienverkündigung nach der Rekatholisierung von Oberwöllstadt wurde er für ein paar Tage ins Gefängnis geworfen, kam erst nach dem persönlichen Eingreifen seines Landesherrn wieder frei.

Seit 1560 herrschte in Mitteleuropa die „kleine Eiszeit“: extrem kalte Winter und nasse Sommer führten zu Mißernten, daraus erwuchsen Hungersnöte, das Vieh starb, Krankheiten breiteten sich aus. Nur in zwei der über 40 Jahre gab es normale Ernten. Kriege, Krankheiten und Katastrophen erzeugten bei den Menschen Angst und Panik. Es herrschte Endzeitstimmung. Um 1590 wüteten spanische Truppen in Deutschland. Eine Pestepidemie raffte an manchen Orten die Hälfte der Bevölkerung hinweg.

Da im MA Naturereignisse als gottgegeben verstanden wurden, war eine solche Katastrophe das Zeichen für die göttliche Bestrafung des Menschen für sein sündiges Leben oder das Ergebnis eines Schadenszaubers durch Hexen. Dann suchte man sich einen Sündenbock (Sündenbock: ein Ziegenbock, auf den am Versöhnungstag durch den jüdischen Hohepriester [nach 3, Mose 16] symbolisch die Sünden des Volkes übertragen wurden und der anschließend, mit diesen „Sünden beladen“, „in die Wüste geschickt“ wurde), z.B. eine Hexe, die man verbrannte. Die Kamener verhielten sich zivilisierter, hier gab es keine Hexenverbrennung. Hier verursachte die kleine Eiszeit die Hinwendung zum Reformierten Glauben in den 1590er Jahren. Diese Variante der Reformation war besonders streng, ihre Anhänger glaubten sich Gott besonders nahe.

Bei vielen mittelalterlichen Gelehrten fällt auf, wie breit ihre Interessen gefächert waren, wie sehr ihr Spezialistentum, im Gegensatz zu heute, nur eine Facette ihres Schaffens darstellte (vgl.a. Johannes Buxtorf und Hermann Hamelmann). AP veröffentlicht 1595 die erste bekannte Beschreibung des Heidelberger Großen Fasses „De Vas Heidelbergense“, ein wahrlich nicht sehr theologisches Thema, wenngleich er es als Symbol für die Überlegenheit des reformierten Glaubens preist.

Abb. 2 Faß HeidelbergAbb. 5: Das Heidelberger Faß

1593 wird AP Zeuge des Dalberger Hexenprozesses und empört sich über „schändliche, närrische und greiflich lügenhafte Dinge von teuflischer Gemeinschaft“ dermaßen, daß er zum ersten Mal dagegen anschreibt.

1596 starb seine zweite Frau an der Pest. Er verlobte sich ein weiteres Mal, doch schon drei Tage nach der Ankündigung der Hochzeit starb seine Verlobte.

Abb. 2a KarteAbb. 6: Wirkungsbereich des Antonius Praetorius

Sein entscheidendes Lebensthema fand AP im Jahre 1597, als er als Pfarrer in Ysenburg-Birstein in der Nähe Frankfurts am Main angestellt war. Als die Bewohner des Ortes gegen vier Frauen des Ortes einen Hexenprozess forderten, wurde AP vom Grafen, der ihn als fürstlichen Hofprediger angestellt hatte, zum Mitglied des Hexengerichts berufen. In dieser Funktion erlebte er, wie grausam die Folter gegen die vermeintlichen Hexen angewandt wurde, um ihnen das Geständnis abzupressen, als Hexen den Schaden an Menschen, Tieren und der Ernte (während der kleinen Eiszeit) verübt zu haben. AP, der Ortspfarrer, ist außer sich vor Zorn. Als er sieht, was bei der Folter geschieht, kann er nicht still bleiben: „O Ihr Richter, was macht Ihr doch? daß ihr schuldig seid an dem schrecklichen Tod Eurer Gefangenen? Ihr seid Totschläger! Gott schreibt es auf einen Denkzettel! Welche Richter zu der Ungerechtigkeit Lust haben und unschuldiges Blut vergießen, werden in Gottes Hand zur Rache verfallen und sich selbst in die unterste Hölle hinabstürzen!“ So schreibt er es in seinem „Bericht“.

Eine der Frauen stirbt an der Folter, die anderen drei bleiben noch vier Wochen in Haft, bleiben so lange von der Folter verschont. Dann jedoch werden sie zum zweiten Mal dem „peinlichen Verhör“ unterworfen, werden erneut zwei Tage lang gefoltert. Zwei weitere Frauen sterben. „Sind also drey Weiber im Gefengnuss umbkommen/und kan noch niemand sagen/wie/wem//was/sie böses gethan“.

Abb. 3 Vorrede BerichtAbb. 7: Aus der Vorrede zum Gründlichen Bericht

Er verlangt die Einstellung der Folter und die sofortige Freilassung der Beschuldigten so heftig, daß die einzige überlebende Gefangene freigelassen wird. Es ist kein weiterer Fall bekannt, daß ein Pfarrer während eines Hexenprozesses die Beendigung der von ihm als unmenschlich erkannten Folter verlangte und damit Erfolg hatte. Im Prozeßprotokoll heißt es: „weil der Pfarrer alhie hefftig dawieder gewesen, das man die Weiber peinigte, alß ist es dißmahl deßhalben underlaßen worden. Da er mit großem Gestüm und Unbescheidenheit vor der Tür angericht den Herrn D. angefürdert und heftig CONTRA TORTURAM geredet.”

Abb. 4 Prozeßakte 1597Abb. 8: Auszug aus dem Protokoll von 1597

Angesichts der Stimmung zu der Zeit und der Umstände ist es nur natürlich, daß AP daraufhin seine Stelle als Hofprediger verlor. 1598 wurde er Pfarrer in Laudenbach an der Bergstraße. Doch sein Erlebnis in Birstein läßt ihn nicht mehr los. Jetzt beginnt er seinen Kampf gegen den Hexenwahn und die damit einhergehenden unmenschlichen Foltermethoden und schreibt seinen „Gründlichen Bericht“ (s.o.). Er fordert Verteidiger für die der Hexerei Angeklagten, ihre Gleichbehandlung und mehr als nur einen Zeugen gegen sie. Grundlage seiner Argumentation bleibt immer die Bibel, das AT und das NT.

Grundlage für die Hexenverfolgungen war zum einen die Bulle (lat. bulla – Kapsel, Schutzkapsel für Metallsiegel, auch das Metallsiegel selbst; seit dem 13. Jh. ein päpstlicher Erlaß über wichtige kirchliche Angelegenheiten, in lat. Sprache auf Pergament geschrieben) Summis desiderantes affectibus (Hexenbulle) Papst Innozenz‘ VIII. von 1484 und der Malleus Maleficarum (Hexenhammer) des Dominikanermönchs Henricus Institoris (Heinrich Kramer), der 1486 in Speyer veröffentlicht worden war und über zwei Jahrhunderte zur Legitimation dieser Praxis diente. Und die Schuldvorwürfe konzentrierten sich auf folgende vier Punkte:

  1. Hexen haben einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.
  2. Das geschieht in der Form der Teufelsbuhlschaft (Eheschließung) und gipfelt im Geschlechtsverkehr mit dem Teufel.
  3. Sie üben Schadenszauber aus: an Menschen, Tieren, Ernten und Wetter.
  4. Sie nehmen am Hexensabbat teil, daher kennen sie alle anderen Hexen und müssen deren Namen im Verhör nennen.

AP wußte genau, in welcher Gefahr jeder schwebte, der gegen Hexenprozesse zu Felde zog. Daher wurde sein „Gründlicher Bericht“ zunächst unter dem Namen seines 13-jährigen, in Kamen geborenen, Sohnes veröffentlicht. (Durch „Joannem Scultetum Westphalo-camensem“ ist sein Pseudonym: Johannes Schulze aus Kamen in Westfalen. Er selber war ja als Antonius Praetorius bekannt. Und lange Zeit hat wirklich niemand diese Schrift mit AP in Verbindung gebracht. Das ist die zweite Möglichkeit der Latinisierung: man hängt eine lateinische, d.h. deklinierbare Endung an den deutschen Namen an.) Erst vier Jahre später, 1602, traut er sich, die zweite Auflage unter seinem eigenen Namen herauszubringen. 1613 erscheint die dritte Auflage, zu der AP ein Vorwort schreibt und die durch Gutachten lutherischer Theologen untermauert wird, was bedeutet, daß sie zu einem überkonfessionellen Appell gegen Folter und Hexenprozesse wurde. Und es zeigte sich auch, daß es in ganz Deutschland Menschen aller Stände gab, die gegen Hexenprozesse waren und daß AP mit seinem „Gründlichen Bericht“ sozusagen offene Türen einrannte. Er war es, der sich als erster öffentlich äußerte und die Bibel wie auch menschliche Vernunft gegen die Hexenhysterie und die ungesetzliche Anwendung der Folter durch die Justizbehörden setzte.

Damit wir uns ein Bild davon machen können, mit welcher Vehemenz AP zu Werke schritt, hier ein paar Zitate aus seinem „Bericht“ (zit. nach Wikipedia, „Anton Praetorius“):

„Es muss ein Ende sein mit der Tyrannei, die bisher viele unterdrücket, denn Gott fordert Gerechtigkeit.“

„Es sollten die obersten Herren gelehrt sein in Gott, fromm und ein Vorbild. … Christliche Obrigkeiten sollen das Werk der Zauberer auf christliche Weise hindern und strafen.“

„Ihr seid im Unrecht. Ihr steht in des Kaisers Strafe, denn Ihr seid für mutwillige und öffentliche Totschläger und Blutrichter zu halten!“

„Welche Richter zu der Ungerechtigkeit Lust haben und unschuldiges Blut vergießen, werden in Gottes Hand zur Rache verfallen und sich selbst in die unterste Hölle hinabstürzen!“

Und seine rechtliche und moralische Auseinandersetzung mit der Folter ist von bestechender Schärfe und liest sich so (zit. nach Wikipedia, „Anton Praetorius“): „Ich sehe nicht gern, daß die Folter gebraucht wirdt

1. Weil fromme Koenige vnd Richter im ersten Volck Gottes sie nicht gebraucht haben:

2. Weil sie durch Heidnische Tyrannen auffkommen:

3. Weil sie vieler vnd grosser Luegen Mutter ist:

4. Weil sie so offt die Menschen am leibe beschaediget.

5. Weil auch endlich viel Leut/ ohn gebuerlich vrtheil vnd Recht/ ja ehe sie schuldig erfunden werden/ dadurch in Gefaengnussen vmbkommen: Heut gefoltert/ Morgen todt.

Auch findt man in Gottes Wort nichts von Folterung/ peinlicher Verhoer/ vnd durch Gewalt vnd Schmertzen außgetrungener Bekaentnuß/

Weil dann die peinliche verhoerung so vnchristlich/ so scharpff/ so gefaehrlich/ so schaedlich/ vnd darzu so betrieglich vnd vngewiß/ soll sie billich von Christlicher hoher Oberkeit nicht gebrauchet noch gestattet werden.

Je mehr jemand foltert vnd foltern laesset/ je gleicher er den Tyrannen thut vnd wird.

Endlich ist gewiß/ der Teuffel fuehlet der Folter Schmertzen nicht/ vnd wirdt dardurch nicht vertrieben.

Ihr Herrn vnd Richter habt den armen Leuten mit Folterung … auff den Weg der verzweiffelung gebracht …: Derhalben seyd ihr schuldig an ihrem Todt.

unterschrift_praetoriusAbb. 9: Antonius Praetorius’ Unterschrift

Am 6. Dezember 1613 starb der Kämpfer gegen Hexenprozesse und Missionar für den calvinistischen Glauben, Antonius Praetorius, in Laudenbach in Hessen. Er wurde 53 Jahre alt.

KH

Große Teile meines Wissens über AP und etliche Zitate entstammen den zahlreichen Schriften, die Hartmut Hegeler aus Unna über AP verfaßt hat. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Folgende Schriften von Hartmut Hegeler bilden die Grundlage obigen Artikels:

Hartmut Hegeler, Anton Praetorius – Vom Kirchenreformator zum Kämpfer gegen Hexenprozesse und Folter in der Wetterau – De Pii Magistratus officio – Des frommen Amtsträgers Pflicht

Hartmut Hegeler, Anton Praetorius – Kämpfer gegen Hexenprozesse und Folter

 

Die Zitate stammen aus Hartmut Hegelers Schriften, soweit nicht anders vermerkt.

Weitere Informationen im Internet unter:

www.anton-praetorius.de

Hier finden Sie Hartmut Hegelers Publikationen über AP:

http://www.anton-praetorius.de/buecher/buecher.htm

 

Die Abbildungen entstammen:

Stadtarchiv Kamen: Nr. 1 (bearbeitet von KH)

Universität Heidelberg, Repro-Faksimile  Deutsches Rechtswörterbuch: Nr. 2, 4, 7

H. Hegeler, – ein Kapitel Rheinhessischer Geschichte: Nr. 5

Wikipedia: Nr. 3, 6, 8, 9

KH

Stadtbaurat Gustav Reich

von Klaus Holzer

Abb. 1

Abb. 1: Gustav Reich, 22. August 1887 – 9. Juli 1970

Erst Ansiedlungen, dann Dörfer, schließlich Städte wurden
nicht geplant, sondern entstanden nach Gesichtspunkten zeitgemäßer Zweckmäßigkeit. Kamen verdankt seine Entstehung der Lage an einer einstmals für den Verkehr wichtigen Sesekefurt. Entscheidend für die Entstehung der Siedlung war, daß es dort alles gab, was der Mensch für seine Existenz brauchte: Der Fluß gab Wasser, zusammen mit Fischen, Krebsen und Muscheln als Nahrung; Wald versorgte die Siedler mit Jagdtieren und Holz zum Hausbau, zum Heizen und Kochen; Weide und Wiese für das Vieh gaben Sommer– wie auch Winterfutter. (Die erste in Deutschland planmäßig gegründete Stadt ist Freiburg im Breisgau, 1120.)

Jäger und Sammler hatten andere Bedürfnisse als seßhafte Bauern, die Stadt mußte sich anders organisieren als das Dorf, und die mittelalterliche Stadt mußte andere Lebensweisen ermöglichen als die moderne. Doch der Kernbereich menschlichen Zusammenlebens in der Stadt umfaßte immer: das Zentrum mit Rathaus, Kirche, Handwerker– und Bürgerhäuser, Selbstverwaltung und städtische Gerichtsbarkeit, soziale und berufliche Differenzierung der Stadtbevölkerung in Stadtvierteln. Daraus folgte zunächst wie von selbst eine räumlich sinnvolle Gliederung der Stadt. Lediglich Einzelheiten wurden anfangs vorgeschrieben: keine Strohdächer mehr wegen der Brandgefahr (in Kamen ab 1712), der Abstand der Häuser zueinander ebenfalls wegen der Brandgefahr (in allen Häusern gab es offene Feuerstellen), aber auch, damit jedes Haus den notwendigen Lichteinfall hatte.

Nach dem Ersten Weltkrieg war Kamen eine kleine Stadt, die sich noch viel von ihrem mittelalterlichen Erscheinungsbild bewahrt hatte. Immer noch war sie das ländliche Ackerbürgerstädtchen, das sich nur an zwei Stellen über die alte Stadtmauer ausgedehnt hatte: im Westen hatte sich die Zeche Monopol angesiedelt, im Süden bot der Bahnhof Anschluß an die Köln-Mindener Eisenbahn, die den Beginn des Industriezeitalters ermöglichte, den Anschluß an die Moderne.

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Abb.2: Kamen auf einem Luftbild von 1922: ein kleines Ackerbürgerstädtchen

Nach der langen Amtszeit als Bürgermeister von Vater und Sohn von Basse (1847 – 1913!), trat Dr. Kurt Hermann Wiesner am 1. Juli 1913 sein Amt als Kamener Bürgermeister an, verließ Kamen aber am 13. November 1923, um Polizeipräsident in Erfurt zu werden. Nach einem zweijährigen Interregnum, in dem der Beigeordnete August Siegler von November 1922 an stellvertretender Kamener Bürgermeister war, wurde am 25. September 1924 der aus Aplerbeck gebürtige Gustav Adolf Berensmann sein Nachfolger. Dieser war vorher schon BM in Laasphe gewesen und erwies sich als ausgesprochen tatkräftig. In einer seiner ersten Amtshandlungen holte er seinen dortigen Stadtbaumeister Gustav Reich nach Kamen. Er wußte genau, wen er da holte. „Baurat Reich ist von uns berufen, die alte Stadt mit ihrem schiefen Turm aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken,“ mit diesen Worten führte Berensmann ihn am 1. Mai 1925 in sein Amt ein. Reich brachte für seine neue Aufgabe reichlich Erfahrung mit. Von 1911 bis 1914 war er Regierungsbaumeister und Bauführer in Frankfurt gewesen, anschließend 6 Jahre in Wiesbaden, war dabei auch „als Kommissar gegen die Verschandelung des Rheintals“  zuständig gewesen. Reich brachte sowohl in der Planung wie Bauausführung, im Tiefbau wie im Hochbau viel Erfahrung mit. Zu seinem neuen Tätigkeitsbereich in Kamen gehörten das gesamte Bauwesen und die Versorgungsbetriebe: Verwaltungsabteilung und Baupolizei, Stadtplanungs– und Baupflegeamt, Hochbauamt, Tiefbauamt, Grundstücks– und Vermessungsamt und die Städtischen Betriebswerke.

GR hatte zuvor bereits vier Jahre im Ersten Weltkrieg gedient, schied 1918 als Oberleutnant der Reserve aus dem Dienst, reich dekoriert: EKI und EK II, Ritterkreuz des Zähringer Löwen mit Schwertern, das Ehrenkreuz für Frontkämpfer und das Treudienstehrenzeichen.

Abb. 3

Abb.3: Reichs Entwurf der Stadtplanung für Kamen von 1927

Ohne Titel

Abb.4: Kamen auf einem Luftbild von vor 1938, Reichs Handschrift ist schon zu erkennen

Reich erwies sich als ebenso energiegeladen wie Berensmann. Umgehend entwickelte er eine Stadtplanung, um Kamen zu einer modernen Stadt zu machen, fit fürs 20 Jh. 1927, nach nur zwei Jahren im Amt, wartete GR mit einem Stadtbauplan auf, der „als Grundlage jedweden gemeindlichen Unternehmens nach neuzeitlichen Gesichtspunkten“ (GR) aufgestellt war, für Kamen, die siebenhundertjährige Stadt, der erste Stadtbebauungsplan überhaupt. Wenn eine Leitidee darin zu entdecken ist, dann die des „Zusammenklangs von weltlicher und geistlicher Autorität“ (GR). Dr. Fred Kaspar von der Denkmalbehörde des LWL urteilte 1988: „Das … in seiner Komplexität weit überdurchschnittliche Konzept … ist … bis heute prägend geblieben“. Und weiter: „Die Bebauung und Konzeption der beiden Gartenplätze sowie der anschließenden Straßenstücke, insbesondere von Ostring und Kastanienallee [ist] exemplarisch für die großen und künstlerisch anspruchsvollen Konzepte des Städtebaus … in Kamen nach dem Ersten Weltkrieg ….“ Dr. Kaspar bezieht Reichs Konzeption für den Postbereich, den Edelkirchenhof bzw. den Bereich von Koppelteich und Schwimmbad mit ein, beklagt aber die Veränderungen durch Um– und Neubauten. Er schlußfolgert: „Für die Erhaltung und Nutzung dieses Stadtbezirkes (gemeint: Gartenstadt Ost (Ostring, Hammer Straße/Kastanienallee, Gartenplatz, Hüchtweg) in seiner ursprünglichen Konzeption liegen daher künstlerische, wissenschaftliche und städtebauliche Gründe vor.“ Er verlangt: „Sie ist als ein (Gesamt–)Baudenkmal zu betrachten.“ Und: „Der Zusammenhang der Gebäude wird … insbesondere durch die achsiale Ausrichtung der Anlage und deren Betonung durch Elemente wie Baumreihen (Pappeln, Kastanien), Hecken (Weißdorn) oder Mauern geschaffen.“ Er bescheinigt Reich „hohen gestalterischen und formalen Anspruch.“

Abb. 5

Abb.5: Das Haus Kirchplatz Nr. 5a & 5b, mit Pflanzkreuz in der Mulde

Was heißt das nun konkret? Die alte Stadt Kamen war von zwei Polen bestimmt: hier die 900 Jahre alte Pauluskirche, dort das 700 Jahre alte Rathaus. Alle anderen Bauten, Profanbauten, sind darauf zugeordnet. Um diesen Gedanken zu betonen, legte GR zwischen den beiden großen Kirchen einen Platz an, der dem Gedenken der im Ersten Weltkrieg Gefallenen gewidmet war. Der Platz war als Mulde angelegt, um, wie GR es formulierte, den Sakralbauten „Erhöhung nach oben“ zu geben. Darinnen befand sich an zentraler Stelle ein gepflanztes Kreuz. Als Ergänzung, um ein würdiges Ensemble zu schaffen, stellte er vor das städtische Wahrzeichen, den schiefen Turm,

seitlich versetzt ein Mahnmal, das Löwendenkmal, vom Dortmunder Bildhauer Beyer geschaffen. Der Sockel trug die Inschrift: „So betet, daß die alte Kraft erwache.“ Dieses Mahnmal wurde im Februar 1945 bei dem schwersten Bombenangriff auf Kamen, zusammen mit dem schiefen Turm, schwer beschädigt und 1946 abgerissen.

Und dann wurde Kamen in atemberaubendem Tempo verändert. Mitte der 1920er Jahre war die Wohnungsnot groß, Wohnungsbau wurde zu einer zentralen Aufgabe für die öffentliche Hand. Am  Beispiel Kamen: Die Stadt Kamen besaß 1924 43 stadteigene Wohnungen, 1928 bereits 190! Natürlich konnte GR bei allen seinen Bauprojekten auf das große Reservoir an Arbeitskräften zugreifen, das, verarmt durch die Inflation, nur auf Beschäftigung wartete. Reichs Pläne verhalfen der Stadt zu einer Erneuerung, den Arbeitslosen zu Einkommen. Der Stadtplaner und Architekt Reich war in seinem Element.

Dabei war eine berufliche Orientierung als Architekt gar nicht sein erstes Ziel. Direkt nach dem Abitur in Hanau 1906 ging er ans Konservatorium nach Frankfurt und studierte Musik, Klavier und Violine. Dieses Studium brach er zwar nach einem Jahr wieder ab, doch war er ein so guter Musiker, daß er z.B. im März 1921 bei einer „Beethoven-Feier in der städtischen Turnhalle in Laasphe“ als Pianist in einem Beethoven-Trio und einem –quartett , als Sologeiger und Chorleiter auftrat. Da war er bereits Stadtbaumeister in Laasphe.

Keine drei Monate nach GRs Amtsantritt in Kamen, am 24. August 1925, begannen die Arbeiten am Bau der Kamener Kanalisation, 15 km wurden unter seiner Ägide gebaut. GR bettete diese Arbeiten in ein umfassenderes Konzept ein. Begünstigt wurden viele dieser Arbeiten durch die Möglichkeit, sie im Rahmen von Notstandsarbeiten durchzuführen, insgesamt 12 Maßnahmen. Er ließ die Hauptstraßen in der Innenstadt ausbauen, plante und baute Umgehungsstraßen, legte Straßen und Plätze in neu erschlossenen Stadtteilen an und legte die entsprechenden Versorgungsleitungen.

Ohne Titel

Abb.6: Der Koppelteich, auch Gondelteich genannt

Abb. 7

Abb. 7: Der Postteich, von vielen ebenfalls Gondelteich genannt

Es besteht ein Zusammenhang mit der zu dieser Zeit stattfindenden Sesekeregulierung, da das Abwasser nun in die regulierte Seseke floß. Und in dieses Konzept gehörte auch die Anlage zweier „Gondelteiche“ (ca. 1930), die den Freizeit– und Erholungswert Kamens erheblich steigerten, zu einer Zeit, in der der jährliche Urlaub für die Mehrheit der Menschen keineswegs eine Selbstverständlichkeit war.

Abb. 8

Abb.8: Sommeridyll am Postteich

Ohne Titel

Abb.9: Winterfreuden auf dem Koppelteich

Im Sommer waren diese Teiche beliebte Ziele für Spaziergänger, fast immer saßen Angler an ihren Ufern, die Karpfen und Hechte fingen, im Winter war Schlittschuhlaufen auf wirklich großen Flächen beliebte Freizeitbeschäftigung, Eishallen gab es schließlich nicht. Enten und Schwäne fühlten sich auf ihnen wohl, Häuser für sie waren auf Inseln in die Teiche gebaut. Beide Teiche lagen, wie auch die Mulde zwischen den Kirchen, mehrere Meter unter Straßenniveau.

Bestimmte Gestaltungsprinzipien sind bei Reichs Entwürfen und ihren Ausführungen durchgängig erkennbar:

  1. Symmetrie ist ein zentrales Prinzip: Abgang in Bogenform am Postteich, zentral vor Postgebäude gelegt; Eingang zur Kastanienallee von der Hammer Straße her; ähnlich am Koppelteich: gegenüberliegende Auf/Abgänge; Anordnung der Bebauung an der (heutigen) Koppelstraße links und rechts der Auffahrt zur Hochstraße; Skulpturen am Gebäude der (heute) alten Post, desgl. am Privathaus Reichs, Kreis und Oval sowie ihrer beider Segmente, an verschiedenen Stellen im Plan erkennbar, u.a. auf dem Edelkirchenhof. Durch diese Symmetrie ergeben sich immer wieder interessante Sichtachsen.
  2. Springbrunnen an Land, im Wasser Inseln
  3. Anlage der beiden Schulgebäude am Koppelteich einander gegenüber, Gebäude in einem einheitlichen Baustil errichtet
  4. Die Mulde zwischen den Kirchen ist nach diesem Prinzip angelegt
  5. Gartenplatz I & II in der Gesamtanlage wie auch der Detailgestaltung desgl., das gilt auch für die zentralen Mulden
  6. Reich hat sehr häufig Pappeln verwendet: ihre schlanke Form wirkt wie ein Rahmen: Edelkirchenhof, Koppelteich, Hemsack u.a., überhaupt war Kamen eine „grüne“ Stadt. Es dominierten Pappeln, Trauerweiden und Rotdorn.

Abb. 11a

Abb.10: Der Edelkirchenhof, von 100 Pappeln umstanden

13. Dezember 1925: die Arbeiten zur Umgestaltung des Edelkirchenhofs in eine Parkanlage beginnen. Er wird nun von 100 Pappeln umstanden.

Anfang der 1920er Jahre baute die Zeche die Zechenhäuser nördlich des heutigen kleinen Kreisels an der Lünener Straße, die bis zum ehemaligen Hause Recker reichten. Dafür wurde als Ausgleichsgelände der neue Park „Am Edelkirchenhof“ angelegt. Dieser war bis dahin eine Viehweide des Bauern Koepe gewesen. An diese Familie erinnert heute noch der Koepeplatz.

Im Zuge des Baues dieser neuen Häuser entstand die neue Straße „Am Reckhof“.

Abb. 10

Abb.11: Am Reckhof

15. Februar 1926: der Ausbau des Kirchplatzes mit dem Kriegerehrenmal beginnt.

Abb. 12

Abb.12: Einweihung des Löwendenkmals vor der Pauluskirche am 27. Oktober 1927

29. April 1926: der Kamener Stadtrat faßt den Beschluß, der Reichspost ein Grundstück im Mersch zu schenken, damit dort die neue Post gebaut werden konnte. Hintergrund war 1928 die Ankündigung der Reichsbahn gewesen, den alten Bahnhof aufzugeben und hierher zu verlegen. Dann hätte man die zwei wichtigsten Transportträger, Bahn und Post, an einer Stelle im Stadtgebiet zusammen gehabt. Doch der neue Bahnhof wurde nie gebaut.

Abb. 13

Abb.13: Die neue Reichspost

4. März 1926: Beginn des Umbaus des Krankenhauses

15. Juni 1926: Beginn des Rathausumbaus.

15. März 1927: Abschluß der Instandsetzungsarbeiten des Stadtparks an der Hammer Straße

12. Mai 1927: Beginn des Baus der Badeanstalt im Hemsack

Ohne Titel

Abb.14: Reichs Planung in der Umsetzung: Koppelteich, Badeanstalt, Hemsack mit 3 Sportplätzen und Deutschlands einziger 1000-Meterbahn

2. Oktober 1927: Einweihung des Kriegerehrenmals am Kirchplatz

24. September 1927: Einweihung des Ratskellers im Rathaus

Abb. 16

Abb.15: Der Ratskeller, Innenansicht

28. August 1928: die Badeanstalt im Hemsack wird eröffnet

Abb. 15

Abb.16: 28. August 1928: Bürgermeister Berensmann eröffnet die Badeanstalt im Hemsack

9. Juni 1928: Einbau des Gedächtnisbrunnens für die gefallenen Verwaltungsbeamten und –angestellten der Stadt Kamen in der Rathaushalle.

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Abb.17: Gedächtnisbrunnen im alten Rathaus

1. November 1928: Beginn der baulichen Erschließung des feuchten Merschgebietes

1. November 1928: Beginn des Baus des Bürgermeisterhauses am Sesekedamm

Abb. 19

Abb.18: Das Bürgermeisterhaus für BM Berensmann

1930: die Arkaden des Schwesterngangs werden errichtet

Abb. 18

Abb.19: Die Arkaden am Schwesterngang

12. November 1938: die Reichsautobahn Recklinghausen – Bielefeld wird eingeweiht, heute A2.

Überall in Kamen tauchte der neue Stadtbaurat auf, war sogleich bestens bekannt, fuhr er doch ein einzigartiges Fahrrad, ein Familienerbstück von 1890, dessen Rahmen so hoch war, daß er gar nicht „normal“ aufsteigen konnte. Dazu brauchte er die auf der Hinterachse liegenden kurzen Trittstangen, mit deren Hilfe er sich in einem kuriosen Schwung von hinten in den Sattel hievte. Und immer hatte er seine geliebte Pfeife im Mund, manchmal durch eine Zigarre ersetzt. Einmal passierte es, daß sich seine Hose in der offenen Kette verfing, auf der Bahnhofstraße, gleich hinter dem Rathaus, in Höhe der Metzgerei Radtke. Reich stürzte, die Pfeife aber behielt er im Mund. Passanten sahen das und sagten: „Selbst beim Unfall hat er seinen Knösel im Mund.“ Und sogar für Urlaubsfahrten nahm GR immer das Fahrrad, zusammen mit seiner Familie ging es bis an den Bodensee.

Allerdings brachte der passionierte Radfahrer sich (und andere) auch immer mal wieder in Gefahr. An der Gabelung Bahnhof–/Horst-Wessel-Straße (heute Koppelstraße) war immer viel Verkehr. GR radelte einfach weiter: „Ich habe Vorfahrt.“ Später besaß er ein leichtes Motorrad, das von Ernst Sander aus der Zünderfabrik betreut wurde. Als GR eines Tages nach Heeren fuhr, aber dort nicht ankam, ging man auf die Suche nach ihm. Er wurde verletzt im Straßengraben an der Derner Straße gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Weil GR beim Fahren zunehmend unsicher wurde und seine Familie sich sorgte, beschwor Reichs Sohn Herbert Herrn Sander, seinem Vater zu sagen, er könne es nicht mehr reparieren. Leider müsse er von nun an auf sein Motorrad verzichten. Da war es mit dem Fahrrad dann doch sicherer.

Ohne Titel

Abb.20: Kamens zweite Straßenbrücke an der Koppelstraße

Im Zuge seiner Planungen entstanden mehrere Straßen, die wichtigste wohl die damalige Emil-Rathenau-Straße, dann Horst-Wessel-Straße, heute Koppelstraße, weil in ihrem Verlauf die erst zweite vollwertige Straßenbrücke über die Seseke entstand. Bis 1923 war die 1695 zum ersten Mal erwähnte Maibrücke die einzige Straßenbrücke in Kamen. Die Notwendigkeit einer zweiten Brücke war offenbar geworden, als die Maibrücke 1923 baufällig geworden war und erst halbseitig, dann ganz gesperrt werden mußte und alle Bauern, die aus dem Süden auf den Kamener Markt wollten, große Umwege über Derne bzw. Weddinghofen gehen mußten.

Er plante außerdem bereits eine Umgehungsstraße, die vielleicht sogar die in den 1970er Jahren gebaute, die Stadt zerschneidende Hochstraße überflüssig gemacht hätte, den heutigen Unkeler Weg.

Abb. 21

Abb.21: In der Fortführung des Ostrings: der als Umgehungsstraße geplante Unkeler Weg

Weiters baute GR den Friedhof an der Werner Straße um und verlegte den Haupteingang wegen des zunehmenden Verkehrs in die Friedhofstraße. Er erlaubte sich keine Ruhe, seine Ideen sprudelten nur so aus ihm heraus. Das merkten natürlich auch seine Mitarbeiter, die stickum Reißaus nahmen, wenn sie ihren Chef am späten Nachmittag auf dem Fahrrad erspähten, wie er Kurs auf das Rathaus nahm, fand er doch gar nichts dabei, auch um 7 Uhr abends noch schnell etwas zu diktieren.

Abb. 22

Abb.22: Gartenplatz der neuen Gartenstadt „Kamen – Ost

Abb. 23

Abb. 24

Abb.23 & 24: Einfahrt von der Hammer Straße in die Kastanienallee, die zwischen Gartenplatz I und Gartenplatz II verläuft. Zwei Bauprinzipien Reichs sind schön zu sehen: Symmetrie und Kreissegmente. Ergebnis: die Bewohner haben sich dort immer wohlgefühlt.

Reich Gartenplatz Haussäulen

Ein besonders schönes Beispiel eines Einfamilienhauses am Gartenplatz

Einen Höhepunkt seines Wirkens stellen die beiden Wohnsiedlungen Gartenplatz I und II im Osten Kamens dar. Nur wenige Jahrzehnte vorher, 1898, hatte der Engländer Ebenezer Howard sein Buch „To-Morrow: A Peaceful Path to Real Reform“ veröffentlicht, in dem er das Modell einer Gartenstadt entwickelte. Sie sollte die Trennung zwischen Stadt und Land aufheben und die Vorzüge beider in einem verwirklichen. GR brachte Grün in das Wohnumfeld, die Nähe zur Stadtmitte war ohnehin gegeben. In jede der beiden Siedlungen fügte er einen zentralen Platz ein, wieder als Mulde ausgelegt, mit einem Springbrunnen in der Mitte, „zur Erhöhung nach oben“, hier sogar auf Profanbauten bezogen. Plätze waren für ihn konstitutives Element von Stadt, Versammlungsorte, Orte der Gemeinschaft.

Abb. 25

Abb.25: Die Kastanienallee verläuft zwischen Gartenplatz I und Gartenplatz II

Wie detailversessen GR war, zeigt sich an den Einzelheiten: Einzelhäuser immer giebelständig, Doppelhäuser traufenständig; Anordnung der Gauben nach festen Regeln; Dachgestaltung; symmetrische Fassadengestaltung; Fenstergestaltung; Freisitze; Baumaterial.

Ein weiterer Punkt, wo Kamen GRs Dickschädel viel zu verdanken hat, war der Bau der Reichsautobahn Recklinghausen – Bielefeld. Die ursprüngliche Planung sah vor, daß „seine“ Stadt, wie er fand, durch den Damm der Fahrbahnen „gedankenlos zerschnitten“ werde sollte. Er sorgte dafür, daß das Stadtgebiet nicht nach Norden geschlossen wurde, wodurch der Verkehr mit den Gemeinden im Norden und Westen empfindlich gestört worden wäre. Ein Zeitgenosse versichert, daß es in keiner Stadt, auch keiner Großstadt, so viele Durchlässe durch die Autobahn gibt wie in Kamen, nämlich acht (und nachträglich noch der Radweg Klöcknerbahntrasse), was sich heute als wahre Wohltat erweist. Und er trug seine Ideen zum Kamener Kreuz bei. Ideen und Planungen waren bei ihm kein Selbstzweck, sondern hatten immer den Menschen und ihrer Stadt zu dienen. Er radelte vor Ort und überprüfte seine Pläne auf ihre Stimmigkeit und Umsetzbarkeit.

Abb. 29

Abb.26: Das alte Kamener Kreuz.

 

Abb. 30

Abb.27:  Die Einweihung der Autobahn, heute A2, am 12. November 1938

Natürlich kam jemand wie Reich nicht an den Nationalsozialisten vorbei. Nach eindringlicher Aufforderung trat er am 1. Mai 1937 in die NSDAP ein, doch scheint er sich nichts haben zuschulden kommen lassen, wurde er doch gleich nach dem Krieg, nachdem er einen Entnazifizierungsbogen ausgefüllt hatte, wieder in den Dienst der Stadt Kamen aufgenommen. So geschah es, daß er 1946 als Dienstältester im Kamener Rathaus ca. ein halbes Jahr als Stadtdirektor amtierte und somit den höchsten Posten in der Stadt bekleidete.

In dieser Funktion erreichte ihn auch eine Anfrage des Arnsberger Regierungspräsidenten, ob Kamen gewillt sei, Hilfe aus Bloomfield, einem 16000-Einwohnerstädtchen (das stellte sich später als Übertragungsfehler heraus, man hatte eine Null zuviel angehängt; vgl.a. Montreuil-Juigné) in Nebraska/USA, anzunehmen.

Abb. 26

Abb.28: Spende aus Bloomfield: von links: Reich, Rissel, Canaday, Heitsch

Ohne Titel

Abb.29: Carepakete werden vor dem Rathaus abgeladen

Abb. 28

Abb.30: Die Kamener warten schon auf die Verteilung

Dort gebe es einen Farmer namens Claude Canaday, der sich vorgenommen habe, eine ausgebombte Stadt und ihre darbenden Einwohner in der schweren Nachkriegszeit mit Hilfslieferungen zu unterstützen. Reich sagte ja, und es setzte eine lange Reihe von Carepaket-Lieferungen nach Kamen ein. Bloomfield übernahm für Kamen eine Stadtpatenschaft, die immerhin dazu führte, daß Reichs Tochter und einer seiner Söhne noch im Sommer 1968 nach Bloomfield fuhren und den Kontakt erneuerten. Offenbar gibt es immer noch einen Sohn von CC, heute 85 oder 86 Jahre alt.

Für eine kurze Zeit muß GR seine Arbeit in Kamen unterbrechen, als er am 1.8.1939 zu einer Militärübung eingezogen wird, anschließend zur Teilnahme am Krieg nach Polen, Belgien und Frankreich (in Rennes organisiert er die Wasserversorgung) abkommandiert wird. Am 27.9.1940 kommt er hierher zurück, als Hauptmann der Reserve, vom Kreis Unna als kriegswichtig angefordert. Während der Kriegszeit teilt er seine Arbeitszeit zwischen dem Kreis, wo er nebenamtlich das Bauamt leitet, wozu das gesamte Luftschutzsystem gehörte, und der Stadt Kamen auf.

Wer viel macht und tut, eckt an. Immer wird es unterschiedliche Ansichten und Meinungen geben. Und GR war ein Mann mit Ecken und Kanten. So gab es 1946 eine  politische Auseinandersetzung über den Wiederaufbau eines städtischen Hauses in der Schlachthofstraße, die in einem Disziplinarverfahren endete. Doch der Regierungspräsident in Arnsberg empfahl Abwarten, die Sache geriet in Vergessenheit und verlief im Sande.

Was an GRs Planung auffällt, ist die Modernität auch in unserem heutigen Sinne, und das vor 80/90 Jahren. Das war die Zeit, als Kohle und Stahl die wichtigsten Wirtschaftsträger waren, die die mit Abstand meisten Arbeitsplätze boten. Doch war die Arbeit anstrengend und schmutzig, die Luft durch Kohlekraftwerke, Verkokung und Stahlherstellung verpestet. Filter, die Abgase reinigten, für uns selbstverständlich, gab es nicht. Urlaub an der See, in den Bergen, war für die Arbeiter an der Ruhr unerschwinglich. Erholung konnte es also nur in der unmittelbaren Nähe, zu Hause, geben. Grün in der Stadt war überlebenswichtig, und GR plante überall mit Grün.

GR wurde auch als Käufer von Grundstücken für die Stadt tätig: z.B. Haus Heide mit seinen 450 Morgen Land, die er als Reserve ansah, die den Kamener Ackerbürgern im Tausch angeboten werden konnten, wenn eines Tages ihr Land für die Stadtentwicklung gebraucht werden sollte.

Abb. 34

Abb.31: Häusergruppe am Ostring

Abb. 35

Abb.32: Das ehemalige Altersheim Am Ufer 

Neben diesen vielen Großprojekten kümmerte sich GR aber auch um einzelne Häuser. Die Häuser am Ostring, im Baustil der 1930er Jahre, mit Ornamenten, Pilastern und Gesimsen, gehen auf sein Konto. Das Haus 5a/b am Kirchplatz, das Altersheim an der Seseke und die beiden Schulen am Koppelteich ebenfalls, im Stil der 1950er Jahre.

Die beiden Schulen am Koppelteich

Abb. 31

 

Abb. 32

Abb.33: Glückauf-Schule (oben) und Abb.34:  Martin-Luther-Schule (unten)

Abb. 33

Abb.35: Der Koppelteich mit den beiden Schulen (oben, Bildmitte)

GR wurde am 31. März 1953 aus dem Dienst verabschiedet. Und er hatte noch viel vor, jedenfalls wollte er „keine Kakteen züchten“. in den nächsten anderthalb Jahrzehnten wirkte er weiter und nutzte seine riesige Erfahrung als Baumeister im Dienste verschiedener Wohnungsbaugesellschaften,insbesondere der GAGFAH (Gemeinnützige Aktiengesellschaft für Angestellten-Heimstätten), aber auch  privater Bauherren. In Gerichtsverfahren wirkte er als amtlich bestellter Gutachter mit. Erst im April 1957 konnte er mit seiner Familie in das eigene Haus in Kamen einziehen, natürlich selber entworfen und mit einem Relief über der Eingangstür geschmückt, das seine drei Kinder über dem Zirkel des Architekten zeigt, wieder entworfen vom Dortmunder Bildhauer Beyer.

Abb. 36Abb. 37

 

 

Abb. 36: Der Eingang zu Reichs Privathaus (links)

Abb.37: Das Relief über der Haustür zeigt Reichs Kinder und den Architektenzirkel (unten)

 

 

Im Frühjahr 1970 gibt es erste Anzeichen einer schweren Gefäßerkrankung. Nur vier Monate später, am 9. Juli 1970, stirbt Stadtbaurat i.R./Regierungsbaumeister a.D. Gustav Reich in Kamen. Die Spuren, die er hinterließ, sind verwischt. Junge Kamener kennen seinen Namen nicht, ältere erinnern sich an einen Großen der Kamener Stadtgeschichte. Stadtbaurat i.R. Gustav Reich liegt auf dem alten Friedhof begraben, zusammen mit seiner Frau Luise, mit der er seit 1923 verheiratet war. Der Stein auf ihrem Grab wurde nach seinem eigenen Entwurf für das Grab seiner Eltern im Spessart als Kopie in Kamen angefertigt.

Abb. 38

Abb.38: Das Grab von Gustav und Luise Reich

Die heutige Stadt muß, um zu funktionieren, u.a. folgende Dinge verbinden: Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Freizeit, Kultur, soziale und Gesundheitspflege, Verkehr. Worum kümmerte sich GR? Worum nicht?

Wenn man diese Definition von Stadt heute zugrundelegt, fällt auf, wie sehr GR Generalist war, immer das große Ganze im Blick hatte. Stadt war für ihn ein zivilisierter Lebensraum, der dem Menschen zu dienen hatte. Daher entwarf er das System Stadt und paßte alle Einzelteile in dieses System ein. Wenn man sich seine Häuser ansieht, fällt deutlich auf, daß GR sich nicht den modernistischen Entwicklungen des Bauhauses anschloß. War hier die Intention, Handwerk und Kunst zusammenzubringen, modulares Bauen zunächst für den Industriebau zu entwickeln, dann auch für den Wohnungsbau vor allem in Großstädten, bewahrte GR „menschliche“ Dimensionen, baute das „Häuschen für Otto Normalverbraucher“, Siedlungen für Arbeiter am Sommerweg, auf dem Kupferberg. Jedoch entstanden unter seiner Leitung auch repräsentative Häuser: das Bürgermeisterhaus, die Häusergruppe am Ostring, und auch die Häuser in der Gartenstadt Ost waren vorwiegend für Angehörige Freier Berufe, Lehrer und gehobene Angestellte gedacht.

Reichs Schwerpunkt lag sicherlich auf der Stadtplanung: wie soll Kamen in der Zukunft aussehen? Wie gestalte ich die Stadt, damit sie zum einen sich den neuen technischen Entwicklungen öffnen kann, zum anderen den Kamenern Heimat ist, eine Stadt, die lebenswert ist. Innerhalb dieses Bereichs kümmerte er sich besonders um Wohnen, Freizeit, soziale und Gesundheitspflege, der kulturelle Bereich spiegelte sich in der Gestaltung. Arbeiten und Einkaufen scheinen nur am Rande, vielleicht als Folge anderer Entscheidungen, eine Rolle gespielt zu haben.

28 Jahre lang hat GR das Bild dieser Stadt geprägt. Was ist davon übriggeblieben?

  • Die beiden Gondelteiche sind verschwunden, die sie ersetzenden Parks sind nach Meinung vieler Kamener kein echter Ersatz geworden.
  • Die Mulden zwischen den Kirchen und in der Gartenstadt sind ebenfalls verschwunden. Sie wurden verfüllt, die Mulde zwischen den Kirchen ist halb Kinderspielplatz, halb Parkplatz.
  • Der repräsentative Zugang zur Kastanienallee von der Hammer Straße ist verschwunden: Pavillonbauten, seitliche Mauern, metallener Torbogen.
  • Das Löwendenkmal ist verschwunden, nach Beschädigung durch Bomben im Krieg wurde es 1946 abgerissen.
  • Der Edelkirchenhof ist nach seiner Neugestaltung von hohen, dichten Bäumen bestanden, dunkel, wenig attraktiv.
  • Der Anbau des alten Rathauses ist mitsamt dem Ratskeller verschwunden.
  • Die alte Badeanstalt wurde mehrfach verbessert, steht aber heute auf dem Prüfstand.
  • Die Sportplätze im Hemsack werden demnächst bebaut, die 1000-Meter-Bahn ist seit Jahrzehnten verschwunden. Niemand wußte mehr, wie sie zu verwenden war.
  • Die Arkaden am Schwesterngang sind verschwunden.
  • Das Bürgermeisterhaus war als Privathaus von vornherein in Randlage
  • Haus Heide wurde verkauft

Die vielen großen Veränderungen geschahen besonders in den Jahren 1965 bis 1975, als man allerorten die „autogerechte Stadt“ schaffen wollte, die dann aber die menschlichen Dimensionen einbüßte. Zwar entstand in Kamen die Fußgängerzone, doch zog sie Parkplätze nach sich, man konnte mit dem Auto überall hinfahren. Kamen mutierte damals zur „schnellen Stadt“. Die heutige gute Stube, der alte Markt, war zentraler Parkplatz, von Straßen umrundet. Aus der Not machte man eine Tugend: Kamen wurde die Stadt mit „freiem Parken“. Der große, umfassende Stadtentwurf aber fehlte.

Durch das Verschwinden wesentlicher Anlagen Reichs sind seine Symmetrie und Kreis– bzw. Ellipsensegmente aus dem Stadtbild verschwunden. Kamen hat sich verändert, jede Stadt muß sich verändern. Ob immer zum Besseren, ist durchaus fraglich, sind doch viele Zeugen von Kamens mittelalterlicher Vergangenheit aus dem Stadtbild verschwunden und zu oft durch nichtssagende oder schlechte Architektur ersetzt worden. Weitere alte Gebäude stehen auf der Abrißliste. Der Tag ist wohl nicht mehr fern, da wir die Kamener Altstadt nicht mehr „Altstadt“ nennen können.

 

Luftbild Hemsack Kamen ©Stefan Milk Kämerstraße 45 A 59174 Kamen 02307 12998 0171 5447957 stmilk@aol.com

Abb.39: Der Hemsack 2015, ein letzter Blick. Auch er wird verschwinden.

 

Mein Dank gilt Frau Reinhild Reich für ihre Geduld bei zwei langen Gesprächen über ihren Vater und die Überlassung von Material.

Desgleichen danke ich dem Stadtarchiv Kamen für die Photos, die es mir zur Verfügung gestellt hat, besonders Herrn Jürgen Dupke.

Dank auch an Rüdiger Plümpe und Hans Jürgen Kistner.

Und natürlich an Stefan Milk für die Überlassung des Luftphotos vom Hemsack.

Aspekte des Denkmalschutzes habe ich entnommen: „Zum Denkmalwert der Gartenstadt Ost (Ostring, Hammer Straße/Kastanienallee, Gartenplatz, Hüchtweg)“, von Dr. Fred Kaspar, Westfälisches Amt für Denkmalpflege, Münster 1988

 

Abbildungen:

Familie Reich: Nr. 1,5,13, 32

Stadtarchiv: Nr. 2,3,4,14,16,20,22,24,25,26,27,28,29,30

Archiv Klaus Holzer: Nr. 6,7,8,9,10,11,12,15,19; Photos Nr. 18,21,31,33,34,36,37,38

Rüdiger Plümpe: Nr. 17

Archiv Hans Jürgen Kistner: Nr. 35

Stefan Milk: Nr. 39

KH

Pfarrer Gerhard Donsbach

von Klaus Holzer


 Wenn es im Gedächtnis der Kamener Protestanten einen Pfarrer gegeben hat, der als prägende Figur in Erinnerung geblieben ist, dann wohl Gerhard Donsbach. Generationen von Kamenern hat er getauft, konfirmiert, getraut und zur letzten Ruhestätte begleitet, ihre Kinder und Kindeskinder. Jahrzehntelang. Von 1933 bis 1975.

Donsbach Barett Photo 1 Kopie Gerhard Donsbach,  12. Mai 1905 – 3. Dezember 1996 (Photo: HA)

Das war nicht von Anfang an klar, als er am 1. Februar 1932 als Hilfsprediger hier ankam. Doch schon ein Jahr später, am 19. Februar 1933, wurde er durch Superintendent Carl Philipps in der Pauluskirche ordiniert, mitten in der Zeit, wo sich Deutschlands Schicksal entschied. Und es war sicherlich ein gutes Zeichen, daß er von Philipps ordiniert wurde, der als Anhänger der Bekennenden Kirche sich treu blieb und sich nicht den Deutschen Christen anschloß, einer den Nationalsozialisten nahestehenden Ausformung der Kirche. So konnte sein Nachfolger Manfred Nemitz 1975 sagen: „Gerhard Donsbach war eine bestimmende Konstante dieser Stadt. Er hat sein Mäntelchen nie nach dem Winde gehängt.“

Am 1. Dezember 1933 übernahm er die Vierte Pfarrstelle  der Evangelischen Kirchengemeinde Kamen, die Kamen-Ost, Lerche, Rottum und Derne umfaßte. Während des Krieges mußte er auch Vertretungen in Unna übernehmen, wo er alle 14 Tage Gottesdienst in der Stadtkirche hielt, außerdem kirchlichen Unterricht und alle kirchlichen Amtshandlungen in Königsborn, Afferde, Massen und Obermassen.

Als es 1937 zur Spaltung des Presbyteriums zwischen Anhängern der Bekennenden Kirche und Deutschen Christen kam, verhielt Donsbach sich „diplomatisch“, wie es einer seiner Weggefährten ausdrückte, der Kirchenarchivar Wilhelm Wieschoff, wiewohl er mit der Bekennenden Kirche sympathisierte. Wie sehr er als Persönlichkeit und Kollege die Achtung auch der Anhänger der Deutschen Kirche genoß, spiegelt folgende Anekdote: Ende der 1930er Jahre wollte die Gestapo Donsbach im Konfirmandenunterricht verhaften. Er hätte nichts dagegen tun können. Da kam ausgerechnet vom Amtskollegen Kochs, einem Deutschen Christen, Hilfe. Er vertrieb die Gestapo mit Hilfe seines goldenen Parteiabzeichens. Und Donsbach konnte sich revanchieren. Als Kochs nach dem Krieg schon fast auf dem Transport-Lkw der Alliierten in Richtung Internierungslager saß, vermochte er ihn umgekehrt da herunter zu holen. Und noch eine Geschichte wirft ein Schlaglicht auf den Menschen Gerhard Donsbach. Ein Kamener hatte ihn im Konfirmanden-unterricht als Hitlerjunge wegen seines Bekenntnisses ständig gepeinigt. Und ganz spät, kurz vor seinem Tod, quälten ihn seine Gewissensbisse so sehr, daß er wieder in die Kirche eintrat.

Da in den späteren Kriegsjahren wegen Fliegeralarms oft keine Busse fuhren, mußten alle notwendigen Fahrten in seine vielen Gemeinden mit dem Fahrrad unternommen werden. Während des Krieges gab es Eilbegräbnisse in aller Frühe, und selbst zu dieser Tageszeit schon unter Beschuß der angreifenden Tiefflieger. Gerhard Donsbach bewältigte alles das nicht nur, ohne zu murren, sondern ging in seinem Amt auf. Was seine Kamener Heimatpfarrei anging – da war er ein lebendes Lexikon. Er kannte jeden, mit Namen und Beruf.

Daß er nie einen Führerschein besessen hatte, führte immer wieder zu kuriosen Situationen, weiß sein Nachfolger, der heutige Superintendent Martin Böcker, zu berichten, der ihn oft zu einem Ziel kutschierte: „Er wollte oft schon unterwegs aussteigen oder hatte sich hoffnungslos im Gurt verheddert.“

Das Pfarrhaus an der Hammer Straße ist ein würdiger Bau, der stark an englische Häuser des gothic style erinnert, dunkler violett-roter Ziegel. Hier saß die Familie 1947 mit Freunden zusammen, als an der Kellertür Geräusche zu hören waren. Jeder dachte sofort an Einbrecher. Gerhard Donsbach sprang als erster auf, unerschrocken nach der Feuerklatsche greifend, zur Verteidigung und Abwehr schreitend. Die anderen griffen, was da stand und lag, darunter eine Mistgabel. Als man sich der Kellertreppe näherte, löste sich die Spannung in Lachen auf. Da stand ein Pferd, das offenbar von der benachbarten Wiese des Pferdemetzgers Weber ausgerissen war.

Nach dem Krieg hat er zusätzlich zur eigenen Pfarrei noch zwei vakante Pfarreien, die erste und die dritte, mit verwaltet. Nebenher baute er kriegsbeschädigte, gar zerstörte kirchliche Gebäude wieder auf. Die Pauluskirche war von zwei Bomben getroffen worden, der Turmhelm schwer beschädigt.  Um alles kümmerte er sich selber. Doch damit war es noch nicht genug. In der Nachkriegszeit mußte erst alles wieder ans Laufen gebracht werden: das kirchliche Sonntagsblatt „Friede und Freude“ für Kamen, Heeren-Werve und Bergkamen mußte redigiert werden, der Kirchenchor brauchte einen Vorsitzenden, die Frauenhilfe mußte wiederaufgebaut werden, Gemeindebibelstunden wurden gewünscht. Gerhard Donsbach war zur Stelle. Und nebenher schrieb er noch die Geschichte seiner geliebten Kapelle Lerche auf, mit der Hand. Anläßlich seines 50. Ordinationsjubiläums sagte er selber: „Aus heutiger Sicht habe ich vieles falsch gemacht, aber meine Arbeit hat mir immer viel Freude bereitet. Ich habe vieles lernen dürfen, und Gott hat mir bei meinen Aufgaben Kraft gegeben.“

Seine Verabschiedung aus dem Dienst war am 30. Mai 1975. In allen diesen Jahren stand ihm seine Frau Luise treu zur Seite. Perfekt füllte sie die klassische Rolle der evangelischen Pfarrersfrau aus, wie sie sich in den Jahrhunderten nach Luthers Reformation entwickelt hatte. 1937 heirateten Gerhard und Luise, und von dem Tag an übernahm sie den Singekreis der Gemeinde, war 60 Jahre lang Vorsitzende der Frauenhilfe.

Natürlich war der 19. Februar 1983 ein großer Tag für die Kamener evangelische Gemeinde, der Tag des 50jährigen Ordinations-Jubiläums von Pfarrer i.R. Gerhard Donsbach. Das wurde mit einem Festgottesdienst in der Pauluskirche begangen, anschließend gab es ein Kaffeetrinken im  evangelischen Gemeindehaus. Und alles, was Rang und Namen in der evangelischen Kirche von Westfalen hatte, war da. Ein Erinnerungsalbum an diesen Festtag ist voller Glück– und Segenswünsche. Nicht nur einer Handschrift sieht man an, daß der Schreiber hohen Alters ist, langjähriger Wegbegleiter. Und selbst einige der ersten Konfirmandinnen von 1933 waren gekommen, die in einem herzlichen Schreiben „Rückschau auf 50 Jahre Freud und Leid“ hielten. In altdeutscher Schrift betonen sie, daß Pfarrer Donsbach immer ihr „treuer Pfarrer“ war. Superintendent Meier hob vor allem seinen Einsatz im alltäglichen Dienst hervor. Selbst das Ergebnis der Kollekte anläßlich dieses Tages läßt die hohe Wertschätzung des Jubilars erkennen. Sie erbrachte DM 1188,-.

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Gerhard Donsbach mit seiner Ehefrau Luise bei seinem 60. Ordinationsjubiläum 1992 (Photo: Privat)

Wenn man ihn sah, mit strengem Blick, buschigen Augenbrauen, förmlich gekleidet, nie nachlässig, wirkte er eher distanziert. Wir Kinder hatten einen Heidenrespekt vor ihm. Ein früheres Presbyteriumsmitglied, das mit ihm zusammengearbeitet hat, erzählt, daß Gerhard Donsbach ihm der liebste aller damaligen Kamener Pfarrer gewesen sei. Wenn er am Sonntag nach dem Gottesdienst das Geld aus dem Klingelbeutel gezählt und sortiert habe, kam Donsbach immer dazu und half. Und er kam immer dazu, weil er seine Predigten nie überzog, immer waren sie angemessen kurz, aber klar und auf den Punkt. Man hörte gern zu, weil man ihn verstand. Berühmt war er auch für seine volksnahen Sprüche– und Liedtextsammlungen, die er gern für seine Predigten nutzte. Und er war warmherzig und seiner Gemeinde nah. Dem Zeitgeist war er nie erlegen. Er blieb immer er selbst.

Donsbach Grab 3

Photo: KH

Am 3. Dezember 1996 starb Pfarrer Gerhard Donsbach in Kamen im Alter von 91 Jahren. Seine Frau Luise folgte ihm, hundertjährig, 17 Jahre später. Sie liegen beide nebeneinander begraben auf dem alten Kamener Friedhof.

KH

Nach der Veröffentlichung dieses Artikels meldete sich eine interessierte Leserin, Elke Jaeger aus Lerche, die eine sehr erhellende Anekdote über Pfarrer Gerhard Donsbach beitragen konnte.

Auch wenn Lerche heute ein Stadtteil von Hamm ist, seine Kirchengemeinde gehört seit Jahrhunderten zu Kamen, Kirchenkreis Ost, für den Pfarrer Donsbach in den 1960er Jahren zuständig war. Die kleine Elke, damals noch Nüsken, erinnert sich an den Pfarrer als einen strengen Mann, vor dem sie, wie alle Kinder damals, große Ehrfurcht empfand.

Elkes Mutter war früh gestorben, so daß Vater Nüsken als Witwer mit drei kleinen Kindern dastand, und das auf einem Bauernhof. Wie sollte das gehen? Er lernte eine andere Frau kennen, die sehr herzliche Klara Löer, die zwar selber einen Sohn hatte, aber gleichzeitig auch den Kindern Vater Nüskens eine gute Mutter war. Alles paßte. Also beschloß man, zu heiraten. Aber es gab ein Problem: Nüskens waren evangelisch, Klara Löer aber katholisch! Was uns heute vielleicht mittelalterlich anmutet, war damals ein echtes Problem, eine sogenannte Mischehe. Es war eine Zeit, wo Kinder denen der anderen Konfession noch Schmähverse hinterherriefen, wo man sich auch schon mal „kloppte“, wo es noch Priester und Pfarrer gegeben hat, die die jeweils andere Konfession als „vom Teufel“ bezeichneten.

Herr Nüsken und Frau Löer gingen zu ihrem Pfarrer Donsbach und trugen ihm ihr Anliegen vor. Bei wie vielen Pfarrern wären sie abgeblitzt? Anders Gerhard Donsbach: am 30. Januar 1960 erteilte er dem Paar den kirchlichen Segen. Für ihn war das menschliche Glück wichtiger als kirchliche Richtlinien, und er sah, daß in dieser neuen Familie alle miteinander glücklich waren. Aber er hatte doch noch etwas in petto. So wie er für seine volksnahen Sprüche bekannt war, so hatte er doch auch seinen ganz persönlichen Humor. Als Trauspruch wählte er aus: „Alle Sorgen werft auf ihn, denn er sorgt für euch.“ (1. Petrus 5, Vers 7)

KH