Juden in Kamen

von Klaus Holzer

Vorbemerkung:

Der Anlaß für diesen Artikel ist das 120-jährige Jubiläum der Einweihung der neuen Kamener Synagoge am 15./16. November 2021.

Abriß der Geschichte der Juden in Kamen.

Historisches

Juden gibt es in Kamen nachweislich seit 1348. In diesem Jahr stellte Graf Engelbert III (1347 – 1391) einem Juden namens Samuel einen Schutzbrief auf sieben Jahre aus, in dem er ihm dieselben Rechte gibt, „wie sie unsere anderen Juden in Hamm, Unna und Kamen haben“. Solch ein Schutzbrief wurde immer nur für eine bestimmte Anzahl von Jahren ausgestellt, und die auferlegte Gebühr war jedes Jahr neu zu entrichten. Daß Juden überhaupt eines Schutzbriefes bedurften, zeigt deutlich, wie prekär ihr sozialer Status war. Sie galten als „Wucherjuden“, da sie oft als Geldverleiher auftraten (im MA waren Wucher und Zins synonym, ein Geldverleiher verlangte natürlich Zinsen) und, weil Kapital knapp war, hohe Zinsen verlangten, wie auch ihre christlichen Konkurrenten, die aber nicht den Nachteil hatten, als „Christusmörder“ zu gelten. Und 1403 erteilte der römisch-deutsche König Ruprecht von der Pfalz (1352 – 1410; ab 1400 König) einem Juden in Kamen freies Geleit.

Die Pest, die in Europa zuerst zwischen 1348 und 1350 wütete und etwa ein Drittel der Bevölkerung des Kontinents hinwegraffte, führte zu den ersten Judenpogromen. Man hatte damals keine naturwissenschaftliche Erkenntnis über den Ursprung dieser Seuche. Da fiel es auf, daß die Pest unter den Juden weit weniger heftig wütete als unter den anderen Bevölkerungsgruppen. Was man nicht ahnte, war, daß der Grund dafür die unter den Juden weit stärker ausgebildete Hygiene war. Da fiel es leicht, sich die Juden als Sündenböcke vorzunehmen: sie hätten die Brunnen vergiftet und trügen daher die Schuld am Ausbruch der Pest. Zudem standen sie im Verdacht, für ihre religiösen Feste und für magische und medizinische Zwecke Kinder zu töten¹. Auch in der märkischen Hauptstadt Hamm kam es zu einem Pogrom, in der Hauptstadt des Grafen, der eben noch einem Juden einen Schutzbrief ausgestellt hatte. Das Eigentum von Juden, die einem Pogrom zum Opfer gefallen waren, wurde konfisziert und füllte auch die Kasse des Landesherrn auf.

Abb. 1: Herzöge Kleve & Grafen von der Mark: Nachfolger von Graf Engelbert, vor der Schwanenburg in Kleve

Ob es danach noch Juden in der Grafschaft Mark gab, kann nur vermutet werden. Und wenn, dann wird es wohl keine geschlossenen jüdischen Gemeinden gegeben haben, denn für das Gebet, d.h., für die Existenz einer Gemeinde braucht es mindestens zehn Männer. Erst 1413 gab der Graf von Kleve und Mark² fünf Juden samt Familien Geleit nach Kamen gegen eine jährliche Abgabe von drei Gulden. 

Abb. 2: Luther: Von den Jüden und ihren Lügen (Titelseite von 1543)

Mit der Reformation durch Martin Luther, einen erbitterten Judenfeind (Martin Luther, Von den Jüden und ihren Lügen, 1543), verschlechterte sich die Lage der Juden in ganz Deutschland erheblich. Gewerbefreiheit und Mobilität, kurz Freiheit – alles das gab es für sie nicht. Ihnen blieb nur eine Existenz als Hausierer, Geldverleiher und im Landhandel, alles Gewerbe, die nicht besonders attraktiv waren. Allerdings gab es auch Ausnahmen. Ein Dokument von 1564 bezeugt die Dankbarkeit des Drosten Dietrich von der Recke, der auch Burgmann in Kamen war, gegen den jüdischen Kaufmann Nathan. Überhaupt scheint dieser Dietrich ein gerecht denkender Mensch gewesen zu sein, belegt doch eine weitere Urkunde, daß er dafür sorgte, daß ein zu Unrecht eingekerkerter Jude freigelassen wurde. Und für 1605 ist weiterhin belegt, daß ein Jude Abraham der Stadt Kamen die jährliche Abgabe für seinen Schutzbrief schuldig geblieben war. Daher ist uns seine Existenz bekannt. Man sieht: Juden wurden gebraucht … und dennoch verfolgt. Es gab also wohl im MA über lange Zeit Juden in Kamen, doch kaum jüdische Gemeinden, weil es sich i.d.R. um einzelne Juden mit ihren Familien handelte.

Das Vierte Laterankonzil³ dekretierte, daß Juden sich nicht mehr so kleiden durften wie Christen, sondern daß sie sich stattdessen „jederzeit in den Augen der Öffentlichkeit durch die Art ihrer Kleidung von anderen Menschen unterscheiden sollten“. Es sollte sichergestellt werden, daß christliche und jüdische Männer und Frauen „sich nicht irrtümlich miteinander einlassen“. Trotz aller Probleme, die das 16. Jh. für die Juden brachte, gab es aber auch Fortschritte im Bereich der Religionen. 

Abb.: 3: Die beiden Schlußseiten des Augsburger Religionsfriedens von 1555

Mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 kam die Kompromißformel „cuius regio, eius religio“ ([in] wessen [Herrschafts-] Gebiet [jemand wohnt], dessen Glaube [folgt er]) einer neuen Toleranz in Sachen Religion gleich, setzte ein Umdenken ein, wenn es auch kaum die Juden betraf. Einen wichtigen Schritt in Richtung weiterer Duldung Andersgläubiger stellte der Westfälische Frieden von Münster und Osnabrück von 1648 dar. Zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands wurde Religionsfriede vertraglich geregelt und damit festgelegt. Für die Märker, und damit die Kamener Juden, wurde das Jahr 1609 besonders wichtig, als die Vereinigten Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg dem Kurfürstentum Brandenburg zugeschlagen wurden. Das Territorium war zu groß, um eine Politik der religiösen Intoleranz zu verfolgen. Vor allem der Große Kurfürst, Friedrich Wilhelm (1620 – 1688) gewährte 1656 allen jüdischen Familien in seinen westlichen Territorien, darunter Kleve und Mark, einen gemeinsamen Schutzbrief, der es ihnen gestattete, sich niederzulassen und ein Gewerbe und das Geld- und Pfandleihgeschäft zu betreiben, was für die Juden nicht weniger als eine nicht unbeträchtliche Sicherheit ihrer Existenz bedeutete, zum ersten Mal in ihrer heute 1700-jährigen Geschichte in Deutschland. Ende der 1650er Jahre erhielten die Kamener Juden Meyer Moses und Salomon Moses ein Geleitpatent, natürlich gegen einen erheblichen jährlichen Tribut von sechs Talern. In den folgenden Jahren wurde diese Politik auf weitere Familien in der Grafschaft Mark ausgeweitet, darunter wohl auch Kamener Juden. Weitere Belege für Schutzbriefe gibt es aus den Jahren 1689, 1694, 1703 und 1705. 

Bei aller damals gezeigten Toleranz sollten wir aber nicht vergessen, daß Juden weiterhin Menschen minderer Klasse waren, die rechtlich ihren Nachbarn eben nicht gleichgestellt waren. Es versteht sich von selbst, daß ihnen Hausbesitz kaum möglich war.

Auch wenn Geldverleiher nicht gut angesehen waren, kam ihre Tätigkeit doch auch der Stadt Kamen zugute. Mehrmals zwischen 1680 und 1711 liehen jüdische Geldverleiher aus Hamm wie auch aus Kamen sowohl Privatpersonen wie auch der Stadt erhebliche Summen Geldes. Vor allem die Stadt wäre ohne diese Darlehen in große Schwierigkeiten gekommen, hätte sie doch anders ihre Kontributionen an einquartierte Truppen nicht bezahlen können, und das hätte Zerstörung und Plünderung, gar Brandschatzung, bedeutet.

1701 wurde das Kurfürstentum Brandenburg zum Königreich Preußen. Da Kleve-Mark erst 1666 durch Erbvergleich endgültig brandenburgisch geworden war, war es an der Zeit, eine Bestandsaufnahme zu machen (was für die zu dieser Zeit äußerst moderne und effektive preußische Verwaltung kein großes Problem darstellte): wie groß waren die westlichen Gebiete Preußens? Welche Städte gab es? Wie groß waren sie? Wie stand es mit Handel und Handwerk? Wie groß war die Wirtschaftskraft? usw. Daher schickte Wilhelm I. fähige Leute in die Provinz, die anschließend in einem ausführlichen Bericht die Lage darstellen sollten. Nach Kamen wurde der Steuer- und Kommissionsrat Motzfeld geschickt, der unter dem Datum des 7. Februar 1722 seinen „Historischen Bericht von der Stadt Kamen“ nach Berlin schickte. Hier zählt er ganz präzise die „Ahnzahl der Einwohner“ auf, nach allen möglichen Kriterien aufbereitet, und gleich darunter „Manufactrice und Handwerker“. Im letzten Satz hier schreibt er: „Daneben sind noch 5 Judenfamilien, welche schlachten und allerhand handlung treiben“. 

Juden waren zu dieser Zeit nicht frei, sich niederzulassen, wo sie wollten, weil ihr Schutz- oder Geleitbrief immer nur für die eine bestimmte Zeit und Stadt galt, ist mit Klaus Goehrke anzunehmen, daß diese fünf Familien den Kern der Kamener jüdischen Gemeinde bildeten, die in den 1930er Jahren von den Nazis vertrieben oder ermordet wurden. „Demnach konnten Juden, die 1933 in Kamen ansässig waren, ihre Kamener Familientradition bis ins 17. Jh. zurückführen – nicht viele Kamener Familien können das für sich in Anspruch nehmen.“

Emanzipationsbewegungen

Wie haben sich nun die Zahlen, soweit bekannt, entwickelt? Hier gibt es vor allem drei Quellen: Motzfeld (1722), Buschmann (1841) und Pröbsting (1901). Danach ergibt sich folgende Entwicklung:

722   –   5 Familien

1725   –   4 Familien ohne Freizügigkeit

1802   –   43 Personen

1816   –   54 Personen

1830   –   12 Familien; Kaufleute, Handelsleute und Metzger;

Buschmann kommentiert das: „Die Bevölkerung der Stadt besteht zwar zum größten Theile aus Evangelischen, doch leben hier auch viele Katholiken und 12 jüdische Familien. Diese Verschiedenheit religiöser Bekanntnisse übt jedoch auf das bürgerliche Leben durchaus keinen störenden Einfluß.“ Und weiter: „Schon seit undenklichen Zeiten wohnten hier einige Schutzjuden, die, gegen Erlegung einer jährlichen Abgabe, ungestört ihren Geschäften nachgehen konnten. Seit etwa 3 Jahrzehnten (Anm.: das schreibt Buschmann etwa 1840) hat sich die Zahl der hiesigen Israeliten vermehrt, ihre Geschäfte haben an Ausdehnung gewonnen und ihr Wohlstand ist sehr gewachsen.“

1840-88 Personen; 9 Kaufleute: 8 Händler mit seidenen, wollenen und baumwollenen Waren, 1 Eisenhändler

1847   –   108

1880   –   113

1885   –   119

1895   –   105

1897   –   109

1899   –   130

1900   –   135

1910   –   112

1925   –   90

1933   –   56

1938   –   33

1939   –   20

1940   –   11

Es wird deutlich, daß von der Mitte des 19. Jh. an die Zahl der Juden in Kamen kontinuierlich zunimmt. Dazu haben mehrere Entwicklungen beigetragen. 

Zum einen brachte Napoleon zu Anfang des 19. Jh. die in Frankreich schon vorher eingeführte Judenemanzipation auch ins Königreich Westfalen, das von „König Lustik“4 in Kassel regiert wurde, namentlich ins westlich angrenzende  Großherzogtum Berg, zu dem die Grafschaft Mark von 1807 bis 1813 gehörte. Diese kurze Phase der französischen Besatzung brachte in vielerlei Hinsicht einen Modernisierungsschub. 1807 verkündete der Großherzog Joachim Murat, daß es „die höchste landesherrliche Absicht ist, dieselben (Anm.: die Juden) allmählich in die nämlichen Rechte und Freiheiten zu setzen, denen (sic) die übrigen Einwohner genießen“. Allerdings wurden viele Rechte kurz danach wieder zurückgenommen. 

Im Zuge der preußischen Reformbewegung nach dem Zusammenbruch gegen Napoleon, mit dem Namen des Reformers Karl August von Hardenberg verbunden, wurde 1812 das Edikt erlassen: „Die Juden und deren Familien sind für Einländer und preußische Staatsbürger zu achten.“ Diese Gleichstellung mit allen anderen eröffnete den Juden den Weg zur bürgerlichen Existenz. Seit dieser Zeit haben sie auch erbliche Familiennamen. Natürlich tauchte die Frage auf, was für Namen sie bekommen sollten, war es doch u.a. erklärtes Ziel, dadurch zur Integration beizutragen. Darum gab es viel Streit, weil die örtlichen Behörden nicht immer bereit waren, den Regierungsanweisungen zu folgen.

An den Befreiungskriegen gegen Napoleon nahm der 17-jährige Salomon Herzberg aus Kamen als Freiwilliger im 1. Westfälischen Kavallerie-Regiment teil. Er fiel 1815 in der Schlacht von Ligny, zwei Tage vor Waterloo, einziger Gefallener aus Kamen. 

Auf dem Wiener Kongress 1815 wurden viele dieser Verbesserungen wieder zurückgenommen, allerdings hatten viele Juden die von den Franzosen eingeräumten Chancen ergriffen und waren erfolgreiche „sehr gute ruhige Bürger“ geworden. 

Am 23. Juli 1847 trat ein Gesetz in Kraft, das Juden erneut Freizügigkeit und Handelsfreiheit zusicherte. Das bedeutete ebenfalls, daß die Juden nunmehr offiziell als Religionsgemeinschaft und als juristische Körperschaft mit eigener Vermögensverwaltung anerkannt wurden. Und daß jüdische Lehrer von der Regierung konzessioniert wurden, Deutsch als Unterrichtssprache das Hebräische ersetzte und jetzt auch für alle jüdischen Kinder Schulpflicht bestand.

Bismarck unterzeichnete 1869 das „Gesetz betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung“, was die Gleichstellung der Juden in Deutschland bedeutete, auch wenn der Antisemitismus damit nicht verschwand. Und ihre Gleichstellung hieß für die Juden alle Rechte und Pflichten, wie jedermann sie zu erfüllen hatte, also auch, daß sie zum Militärdienst eingezogen werden konnten. Zwei Kamener Juden nahmen am Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 teil, im Ersten Weltkrieg wurden mehrere Kamener Juden mit dem EK II ausgezeichnet.

Ab der Mitte des Jahrhunderts nahm die Industrialisierung Deutschlands rasant zu. Die Wirtschaft blühte auf, auch die Juden profitierten von dieser Entwicklung. Vielen gelang es, sich aus dem ärmlichen Dasein als Hausierer durch wirtschaftlichen Erfolg in bürgerliche Verhältnisse emporzuarbeiten. Dazu trug sicherlich auch der Drang der Juden nach Bildung bei. Bildung war mobiles Gut, mobiles Vermögen, das ihnen nicht weggenommen werden konnte, das sie immer bei sich hatten, wenn sie wieder einmal vertrieben wurden. Ihr Bildungshunger trug zu ihrem Erfolg bei, weckte aber auch den Neid der weniger Erfolgreichen. Die jüdischen Gemeinden blühten auf, überall wurden neue Synagogen gebaut. Spannung entstand, wo traditionelle Juden und Reformjuden aufeinandertrafen. Letztere wandten sich der Moderne zu und zeigten starke Tendenz zur Assimilation, wozu offenbar auch die Kamener Juden gehörten (s. weiter u.).

Synagoge

Schon früh gab es ein jüdisches Bethaus, eine Synagoge, in Kamen. Das erste soll in der Mühlenstraße gestanden haben, das ist die heutige Bahnhofstraße zwischen dem Markt und der Mühle an der Maibrücke, doch ist nicht bekannt, wo genau. Dann erwähnt Buschmann eine „jetzt dem Herrn Pröbsting gehörende […] Scheune“ als Bethaus. 1756 bauten „die hiesigen jüdischen Eingesessenen“ eine neue Synagoge an der Cämstraße (heute Kämerstraße: der südliche Teil dieser Straße hieß Judengasse), die jedoch „klein und schlecht“ war. Sie soll eine hebräische Inschrift über der Haustür getragen haben: „Dieses Versammlungshaus ist entstanden zur Ehre Gottes im 3. Monat (Siwan) des Jahres 5450.“. Nach der christlichen Zeitrechnung wäre das 1689. 1830 wurde ein neues Gebäude, das aus Spenden der kleinen Gemeinde bezahlt wurde, an derselben Stelle errichtet. Dabei dürfte es sich um das Fachwerkhaus handeln, das am 14. Mai 1973 abgebrochen wurde. Dort steht heute ein Lebensmittelmarkt.

Abb. 4: Die alte Synagoge

Abb. 5: Luftphoto von Kamen; die Synagoge ist rechts oben, gegenüber dem hellen, einzeln stehenden Haus der Familie Evers (s.a. Abb. 12)

Abb. 6: Die Synagoge (zwischen den Pappeln) vom Sesekedamm aus gesehen

Abb. 7: Die Synagoge (ganz links am Bildrand) vom überschwemmten Mersch her gesehen

Kurz vor der Jahrhundertwende 1899/1900 erreichte die Kamener jüdische Gemeinde ihre größte Anzahl von 135 Personen. Die alte Synagoge wurde zu klein und mußte durch eine neue ersetzt werden. Die Gemeinde erwarb daher ein Grundstück an der Grünen Straße (heute etwa die Auffahrt zur Hochstraße von der Bahnhofstraße her). Der Erlös aus der Versteigerung (6.500 Mark) der alten Synagoge an den Metzger Joseph Jacob5  trug wesentlich zur Finanzierung des Vorhabens bei.

Abb. 8: Die neue Kamener Synagoge

Schon ein Jahr später legte der Dortmunder Architekt Max Lorf einen Bauplan vor. 1901 stand der Neubau, der sich durch seinen neuromanischen Baustil kaum von seiner Nachbarschaft abhob. Wegen Pfuschs am Bau stürzte ein Teil des Baus vor der Fertigstellung ein.

Abb. 9: Ein Stein, vermutlich aus der neuen Synagoge stammend (im Museum)

Abb. 10: Gebetbuch, vermutlich aus der neuen Synagoge stammend (im Museum)

Abb. 11: Die Synagoge stürzt zum Teil ein

Abb. 12: Familie  Evers vor der Synagoge (s.a. Abb. 5)

Abb. 13: Familie Siekman feiert Hochzeit vor der Synagoge (die Mauer rechts gehört zum Amtsgericht, heute Museum)

Der Bau hatte große Ähnlichkeit mit der Dortmunder Synagoge (auch hier war Lorf einer der Architekten), beide wiesen einen großen zentralen Rundbau mit einer Kuppel auf, allerdings war die Kamener Synagoge mit 100 Plätzen deutlich kleiner. Wie sehr die Kamener Juden assimiliert waren, wie sehr sie sich also in ihrer Heimatstadt zu Hause fühlten, wird an der Einweihungsfeier am 15./16. November 1901 deutlich. 

Abb. 14: Zeitungsannonce zur Einweihung der Synagoge

Damit alle Kamener, vor allem die Honoratioren der Stadt, teilnehmen konnten, fand am Abend des 16. November 1901, an einem Sabbat, ein Festball statt! Und alle, alle kamen, auch die Pfarrer der christlichen Gemeinden – nur der Bürgermeister Adolf von Basse ließ sich entschuldigen, obgleich ihm sicherlich keine Judenfeindlichkeit nachgesagt werden konnte. Und so, wie die christliche Gesellschaft an der Einweihung der Synagoge teilgenommen hatte, kamen Vertreter der jüdischen Gemeinde zur Konsekration der Kirche Hl. Familie im Oktober 1902. 

Abb. 15: Redaktionelle Ankündigung

Und schon seit einigen Jahrzehnten nahmen die Kamener Juden rege am Kamener Vereinsleben teil. Sie stellten Schützenkönige, sangen in den Männer-Gesangvereinen aktiv mit, stellten Vorsitzende. Dennoch wurden in dieser Zeit zwei Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof geschändet. 

Diese Synagoge war natürlich auf lange Zeit angelegt, und so entstand in ihr ein reges Gemeindeleben. Niemand konnte wissen, daß sie nur bis 1938 ihren Dienst tun würde. In diesem Jahr hörte die jüdische Gemeinde Kamen auf zu bestehen. Viele hatten Kamen bereits verlassen, sich vor den Nationalsozialisten in Sicherheit gebracht. Viele aber wurden Opfer der Verfolgung durch die Nazis. Von den 135 Juden in Kamen (1900) waren 1933 noch 56 in ihrer Heimatstadt. 

Und was geschah mit der Synagoge? 1938 entzogen die Nazis allen jüdischen Gemeinden ihren Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts, stuften sie nur noch als bloße Vereine ein. Somit wurde es zu schwer für die noch verbliebenen Juden, die Kosten ihrer Synagoge zu tragen, außerdem war die Zahl der Gemeindemitglieder inzwischen so klein geworden, daß die erforderlichen 10 Männer für die Abhaltung des Gottesdienstes nicht mehr zu finden waren. Schließlich kaufte die Stadt Kamen unter dem Bürgermeister Otto Braunheim Grundstück und Gebäude für den Schleuderpreis von 3.600 Mark ließ sogleich den Davidstern von der Kuppel entfernen und begann bald mit dem Abriß des Gebäudes.

Abb. 16: Der Abbruch Synagoge wird angekündigt

Wie sehr die Nazis in den Alltag eingriffen, mögen die folgenden zwei Beispiele demonstrieren: es gibt einen ermäßigten Gepäcktarif für Arier – ist Kleinlicheres vorstellbar? Und gleichzeitig Wirkungsvolleres? Abb. 17:  Ermäßigter Gepäcktarif für Arier

Und wenn der „Führer“ sprach – dafür gab es den „Volksempfänger, ihn hatte der geniale Propagandist Joseph Göbbels als Medium mit enormer Reichweite früh erkannt – wurde diese Rede landesweit übertragen und möglichst viele Leute hingelockt. Diese beiden Beispiele zeigen, in welchem Ausmaß die Nazis das Alltagsleben regulierten.

Abb. 18: Eine Führerrede ist Pflichtveranstaltung für Parteigenossen

Nach dem Kriege verklagte die Jewish Trust Corporation, die in Fällen, wo keine Erben zu ermitteln waren, tätig wurde, die Stadt Kamen wegen des viel zu niedrigen Kaufpreises der Synagoge. 1954 mußte Kamen in einem Vergleichsverfahren DM 15.000 an die Corporation zahlen. 

Das Synagogengrundstück war der Stadt willkommen, weil man hier eine Adolf-Hitler-Straße bauen wollte. 

Abb. 19: Neue Straßennamen  für Kamen

Abb. 20: Adolf-Hitler-Straße

Das immerhin blieb Kamen erspart. In der sogenannten Reichskristallnacht am 9. November 1938, heute Pogromnacht genannt, gab es brutale Ausschreitungen gegen Kamener Juden, jüdische Geschäfte wurden beschädigt und von vielen anschließend gemieden, es kam zu ersten Inhaftierungen. In der Folgezeit wurden immer mehr Geschäfte geschlossen, manche „arisiert“, d.h., zum Schleuderpreis von Nachbarn übernommen.

Die unbenutzte Synagoge verfiel, Kamener Schüler, die der Hitlerjugend angehörten, zerschlugen Fenster und schändeten sie. Im Krieg erhielt sie einen Treffer und wurde 1946 abgerissen.

Abb. 21: Die Edelstahltafel am früheren  Standort der neuen Synagoge

Heute erinnern an diese Synagoge eine Edelstahltafel bei den Garagen hinter der Kanzlei Weskamp und eine Mauerruine an der Hochstraßenauffahrt, an der am 27. Januar jeden Jahres, dem Auschwitz-Tag, eine Gedenkveranstaltung mit Kranzniederlegung stattfindet. 

Abb. 22: Die Mauerruine zur Erinnerung an die Kamener Juden

An dieser Mauer wurde 1978 eine Tafel angebracht, die in einem wichtigen Detail falsch war: „Zur Erinnerung an unsere jüdischen Mitbürger, die in den Jahren 1933 – 1945 Opfer der Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden. Hier stand das am 9. November 1938 zerstörte Gotteshaus der Synagogengemeinde Kamen. Die Bürger der Stadt Kamen.“ Der 1989 korrigierte Text lautet: „Zur Erinnerung an unsere jüdischen Mitbürger, die in den Jahren 1933 – 1945 Opfer der Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden. Die Bürger der Stadt Kamen.“

Nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Zahl der Kamener Juden kontinuierlich ab. An den Zahlen nach 1933 erkennt man, daß die Politik der örtlichen Nazis begann, sich auszuwirken:

1910   –  112 Personen

1925   –   90

1933   –   56

1938   –   33

1939   –   20

1940   –   11

1943   –   0

Schulwesen

Schon 1680 hatten die Kamener Juden eine eigene Schule. In der Synagoge von 1756, die in der Judengasse stand, gab es eine Lehrerwohnung und ein kleines Schulzimmer, im Neubau an derselben Stelle ebenfalls. Der Vorsänger in der Synagoge war gleichzeitig Lehrer in der Schule. Alle Kosten für die Schule trug die jüdische Gemeinde selbst. Das führte zu heftigem Streit: Sollten alle Gemeindemitglieder sich an den Kosten für die Schule beteiligen oder nur die Eltern der Schüler? Das änderte sich erst 1874, als die Schule als öffentliche Volksschule anerkannt wurde. Das bedeutete, daß der Lehrer „als öffentlicher Volksschullehrer in dem Genuß aller Zulagen und Wohlthaten“ war. Das war besonders bemerkenswert, weil die Zahl der jüdischen Schüler immer nur sehr gering war, niemals mehr als 15 (1885). Das für den Unterhalt der Schulen und des Unterrichts nötige Geld konnte die Stadt Kamen sich leisten, weil die Zeche Monopol ihren Vollbetrieb aufgenommen hatte und, wie alle größeren Arbeitgeber mit mehr als 40 Arbeitern, eine Kopfgewerbesteuer von 10 bis 15 Mark zu entrichten hatte. Die Stadt zahlte auch der jüdischen Schule 10 Mark für jedes Schulkind. Und natürlich gingen viele jüdische Kinder auf die weiterführenden Schulen Kamens. Ab 1933 durften jüdische Kinder nicht mehr zur Kamener Oberschule gehen, sie gingen stattdessen zum Lyzeum nach Unna.

Für den Unterricht mußte von der Gemeinde allerdings ein Raum angemietet werden. 1894 kaufte sie schließlich für 14.000 Mark ein Haus in der Wilhelmstraße (heute Hanenpatt) und richtete hier ihre Schule mit Lehrerwohnung ein. Da gleichzeitig auch die neue Synagoge an der Bahnhofstraße/Grünen Straße gebaut wurde, bemerkt Pröbsting: „Diese wird ein ehrendes Zeugnis für die Opferwilligkeit der jüdischen Gemeinde sein.“ Wie unabhängig in finanzieller Hinsicht die jüdische Gemeinde war, ja, sein mußte, wird von Buschmann klar gemacht: „Für ihre Armen sorgt die jüdische Gemeinde selbst und allein. Den Dürftigen werden aus einer kleinen Armencasse regelmäßige Unterstützung, und von den einzelnen Glaubensgenossen nebenher, milde Gaben verabreicht.“

Begräbniswesen

Jahrhundertelang durften Juden nicht innerhalb der Mauern einer Stadt begraben werden, zusammen mit Christen auf dem Kirchhof, weil man sie verantwortlich machte für den Tod des Erlösers7. In Kamen befand sich seit dem Ende des 18. Jh., als die Zahl der Juden in der Stadt zu wachsen begann, der jüdische Friedhof südlich des Westentores an der heutigen Koppelstraße, d.h., vor dem Galenhof, natürlich außerhalb der Stadtmauer. Der städtische Friedhof lag zu der Zeit zwischen der Chaussée nach Hamm und der Rottumer Straße, heute Hammer Straße und Derner Straße, damals direkt vor dem Ostentor, wo es noch kein einziges Haus, also Platz genug gab. Das Gelände des heutigen Stadtparks war seit 1810 (Kamen gehörte zu der Zeit zum Arrondissement Hamm im Großherzogtum Berg) der Kamener Totenhof, der erste kommunale, d.h. überkonfessionelle, Friedhof, doch stellte man nach wenigen Jahrzehnten fest, daß der Grundwasserstand zu hoch war, alle Särge im Wasser standen, was zu einer Zeit, in der man sein Frischwasser aus Brunnen holte, besonders gefährlich war. Also wurde dieser Totenhof 1866 geschlossen und ein neuer am Overberger Weg, heute Friedhofstraße, angelegt, mit dem Haupteingang an der Westseite, der Münsterstraße. Heute ist das der alte Friedhof. Jetzt endlich profitierten auch die Kamener Juden von den Neuerungen der Moderne. Sie bekommen, von der Kommune bezahlt, eine eigene Begräbnisstätte auf dem neuen kommunalen Friedhof. Buschmann schreibt: „Daß die Todten der verschiedenen christlichen Confessionen auf diesem neuen städtischen Begräbnisplatze der Reihe nach und durch­einander begraben werden, ist selbstverständlich; nur die Juden werden abgesondert begraben und ist ihnen ein dreieckiger Platz vorn am Overberger Wege zum jüdischen Begräbnisplatz eingeräumt und auf Kosten der Stadt eingerichtet worden. Dies Verfahren muß als eine Rücksichtnahme gegen die Judengemeinde bezeichnet werden, welche diese hoch anschlagen und anerkennen sollte, da ihr hier­durch die Befolgung ihrer religiösen Sitten ermöglicht wird, wel­che sich sogar die Christen auf dem Communalen Todtenhofe versagen müssen.“ Noch heute ist dieses Stückchen Gräberfeld erhalten, jedoch haben nur wenige Gräber die Naziherrschaft überdauert.

Abb. 23: Der Judenfriedhof in Kamen

Abb. 24: Leser Stern: das älteste noch erhaltene jüdische Grab, nur 23 Jahre nach Eröffnung des Friedhofs angelegt

Abschließendes

Am 19. Sept. 1941 wurde von den Nazis der Judenstern eingeführt, der von allen getragen werden mußte, die nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 rechtlich als Juden galten.

Abb. 25: Der Judenstern, der hebräischen Schrift nachgeahmt

Im Jahre 1943 war die jüdische Gemeinde Kamen ausgelöscht, im Nazi-Jargon „judenrein“. Hier ein paar Zahlen zu den Juden in Deutschland: Vor 1933 gab es ungefähr 500.000 Juden in Deutschland; die Nazis brachten 6 Millionen Juden aus ganz Europa um; im Jahr 2005 betrug die Zahl der Juden in Deutschland 108.200, seitdem ist sie kontinuierlich auf 93.695 im Jahre 2020 gesunken. 

Die jüdische Gemeinde Kamen brachte hervorragende Leute hervor:

Abb. 26: Dr. Bernhard Heymann

Bernhard Heymann, 23. April 1861 in Kamen – 10. Mai 1933 in Leverkusen

Er war einer der Chemiker, die Deutschland einmal den Beinamen „Apotheke der Welt“ eingetragen haben. 

Bernhard Heymann war der Sohn des Kamener Kaufmanns Isaak Heymann und seiner Frau Sarah Levy, die ihr Geschäft für „Manufakturwaren, Konfektion, Betten, Möbel“ in der Weststraße 20 hatten. 

Abb. 27: Das Geschäft der Heymanns in der Weststraße (links)

Er absolvierte zunächst eine kaufmännische Lehre, doch befriedigte ihn die damit verbundene Tätigkeit nicht. Also entschloß er sich, das Abitur nachzuholen (in Soest) und zum Studium der Chemie nach München zu gehen. An der dortigen Ludwig-Maximilians-Universität promovierte er bei Wilhelm Koenigs, einem damals bekannten Chemiker, nach dem die Koenigs-Knorr-Methode benannt ist, die eine der bekanntesten Reaktionen der Kohlenhydratchemie ist, und der dem jungen Heymann wohl die ersten Impulse für seine spätere Arbeit gab. 

Im Alter von 36 Jahren erhielt er die Führung des Forschungslabors der Bayer & Co. in Elberfeld (heute Wuppertal; heute Bayer AG, Leverkusen) und führte es in kurzer Zeit zu internationalem Renommee. Die wichtigsten unter seiner Leitung entstandenen Ergebnisse betrafen chemisch-technische Prozesse wie Textilhilfsmittel (zum Färben und zum Veredeln von Textilien, z.B., um sie wasserdicht zu machen), Pflanzenschutz, Kautschukhilfsmittel (um ihm die gewünschten Eigenschaften zu geben wie z.B. Haltbarkeit, Elastizität, Biegsamkeit, Dichtigkeit usw.) und die chemische Katalyse. 

1912 wurde Heymann stellvertretendes, 1926 ordentliches Vorstandsmitglied der Bayer AG, bzw. der I.G. Farben.

Schon seit 1913 arbeitete Bernhard Heymann auch persönlich an der chemotherapeutischen Synthese. Unter seiner Leitung gelang Richard Kothe und Oscar Dressel ein Präparat, das gegen den Erreger der Schlafkrankheit wirksam ist. Wilhelm Roehl führte dieses Medikament zur Marktreife. 

Die Schlafkrankheit wird von der Tsetsefliege übertragen und führt nach einem Verlauf in drei Stadien zum Tode. Im Endstadium verfällt der Infizierte in einen schläfrigen Dämmerzustand, woher sich der Name ableitet. Das Medikament wurde zunächst als Bayer 205 eingesetzt und später „Germanin“ genannt. Für diese Entdeckung bzw. Entwicklung erhielt Bernhard Heymann hohe wissenschaftliche Auszeichnungen, u.a. die Ehrendoktorwürde der Universitäten Bonn und Dresden. Und von Frankreich, damals noch Kolonialmacht, stark in Afrika engagiert, wurde diese Erfindung so bewertet (lt. Brief seines Schwiegersohnes W.E. Brenner vom 14.4.1931): „Sie ist mehr wert als alle Reparationsleistungen.“ Er bezog sich mit seiner Aussage auf die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg auferlegten Reparationen8.

Der damalige Kamener Bürgermeister, Gustav Adolf Berensmann, gratulierte Bernhard Heymann zu seinem 70. Geburtstag. Er schrieb: „Dem bekannten Wissenschaftler und bedeutenden Sohn unserer Stadt sendet zu seinem 70. Geburtstage die herzlichsten Glückwünsche der Magistrat der Stadt Kamen. gez. Berensmann, Bürgermeister.“ Die Kamener Zeitung berichtete über die Ehrung des „bekannten Wissenschaftlers und großen Sohnes unserer Stadt Dr. phil., Dr. med., h.c., Dr. ing. e.h. Bernhard Heymann“. 

Abb. 28: Ernst Moses Marcus

Ernst Moses Marcus, 3. Sept. 1856 in Kamen – 30. Okt. 1928 in Essen

Ernst Moses Marcus’ Eltern betrieben im Haus Markt 10 in Kamen ein Geschäft für Aussteuer und Hochzeitsausstattungen. Dieses im klassizistischen Stil gebaute Haus von 1860 steht heute noch. Ernst besuchte das Archigymnasium in Soest, studierte anschließend Jura in Bonn und Berlin. 1885 kam er als Gerichtsassessor nach Kamen zurück, wurde, nach einigen Zwischenstationen, Amtsrichter in Essen. Hier begann er, sich mit philosophischen Fragestellungen zu beschäftigen. 1916 wurde er mit dem Titel „Geheimer Justizrat“ ausgezeichnet, lehnte danach alle weiteren Beförderungen ab, um sich weiter seinen philosophischen Studien, vornehmlich Immanuel Kant, widmen zu können.

Marcus veröffentlichte, neben vielen Essays und Aufsätzen in philosophischen Fachzeitschriften, 16 Bücher über die Lehre seines Lieblingsphilosophen Kant. Noch 1981 wurden ausgewählte Schriften von ihm veröffentlicht.

Abb. 29: Dr. Julius Voos und seine Frau Stephanie

Julius Voos, 3. April 1904 in Kamen – 2. Jan. 1944 in Auschwitz

Julius Voos wuchs in Kamen, Schulstr. 2, mit fünf Geschwistern auf. Er wur­de dort Schüler der evangelischen Wilhelmschule (andere Quellen sprechen von der benachbarten Diesterwegschule) (bis 1918) 

Abb. 30: Julius Voos mit seiner Schulklasse (2. Reihe, 3. von rechts, um 1913)

Abb. 31: Julius Voos als Rabbiner

Abb. 32: Die Metzgerei Voos (1. Haus links) in der Schulstraße, um 1930

Abb. 33: Die Schulstraße, vom Turm der Pauluskirche gesehen, 1930er Jahre 

und war anschließend sechs Jahre zur Lehrerausbildung als Internatsschüler in der Marks-Haindorf-Stiftung9 in Münster. Er bestand 1923 das Religionslehrer-, 1924 das Vorbeter- und Volksschullehrerexamen. Seine erste Anstellung erhielt er von 1924 bis 1928 als Religionslehrer und Kantor in Meisenheim am Glan/ Pfalz. 

Im Selbst­studium bereitete er sich neben seiner Lehrertätigkeit auf das Abitur vor, das er als Externer an der Ober­realschule in Idar-Oberstein am 10.10.1927 bestand. Er studierte anschließend an der Berliner Universi­tät und an der „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ Philosophie, Geschichte, Psychologie und Religionsgeschichte u.a. Dr. Leo Baeck.

Voos wurde in Bonn zu einem Thema über die Geschichte der messianischen Be­wegung im Judentum (16. Jh.) zum Dr. phil. promo­viert.

Nach dem Rabbinerexamen fand er eine An­stellung in Guben/Niederlausitz. In der Pogromnacht 1938 ging die Synagoge seiner Gemeinde in Flammen auf. Julius Voos wurde im KZ Buchenwald inhaftiert und erst nach einigen Wochen freigelassen, weil seine Frau inzwischen die Emigration der Familie nach China eingeleitet hatte, die dann aber nicht zustande kam. 

Am 19.1.1939 ver­zog Julius V. mit seiner Frau nach Münster. Dort wurde er von der Gemeinde als Rabbiner und, an der Marks-Haindorf-Stiftung, als Lehrer eingestellt. Bis 1940 scheiterten alle Emigrationspläne u.a. am Geldmangel. Er war seit 1926 Eigentümer des elterlichen Hauses und musste 1940 nach langen Verhandlungen dem Verkauf an einen früheren Nachbarn in Kamen unter dem Einheits­wert zustimmen („Arisierung“).

Am 30.3.1942 wur­de er zur Zwangsarbeit in einer Fahrradfabrik in Bielefeld herangezogen und wohnte mit seiner Familie dort in den „Judenhäusern“10. Am 2.3.1943 wurde er einem Berliner Transport zu­geteilt und nach Auschwitz deportiert. Während sei­ne Frau und sein Sohn in der Gaskammer ermordet wurden, wurde er an der Rampe „selektiert” und kam anschließend u.a. ins Lager Auschwitz III (Mo­nowitz), wo er bei Hungerverpflegung Schwerstarbeit zu leisten hatte.

Laut Zeugnis eines Überle­benden war Julius Voos, der letzte Rabbiner in Münster, der einzige Rabbiner in Auschwitz, der das „Lager er­barmungslos mitgemacht, schwerst gearbeitet, ge­hungert und gedurstet und die Kameraden noch auf­gerichtet” hat. Es ging mit ihm ein „vorbildlicher Mensch, der für jeden ein gutes Wort hatte, zugrun­de.” 

Abb. 34: Der Stolperstein zum Andenken an Dr. Julius Voos

In Münster und in Kamen (seit Dez. 1996) gibt es je eine Gasse, die seinen Namen trägt.

Abb. 35: Julius-Voos-Gasse

Zum Schluß möchte ich Klaus Goehrke zitieren, der, gegen Ende seines Buches „Weil wir Juden waren“, folgende Einzelheiten aufführt:

„So konnte denn, im Nazijargon, festgehalten werden: 1943 war Kamen „judenrein“. Halten wir abschließend fest, wessen wir gedenken müssen. Es ist eine lange Liste. Mindestens 29 Kamener Bürger sind Opfer der Deportationen geworden, sei es, daß sie direkt aus Kamen über Dortmund in den Tod geschickt wurden sei es, daß sie zur Deportationszeit  schon außerhalb von Kamen, vielleicht sogar in den Niederlanden, gewohnt hatten. Hinzu kommen mindestens 35 Ermordete, die in Kamen geboren sind oder zeitweise hier gelebt haben, jedoch vor 1933 in einen anderen Ort verzogen waren. Die Todesorte sind längst nicht immer bekannt. Am häufigsten, über zwanzig mal, müssen wir an Auschwitz denken, dann an die schrecklichen Ghettos von Riga, Zamosz und Lodz und die damit verbundenen ostpolnischen Vernichtungslager. 

Sicherlich kann man auch einen Teil der in den Jahren der Verfolgung verstorbenen Juden zu den Opfern zählen, vor allem die aus Kamen Geflüchteten, die durch ihren vorzeitigen Tod der Deportation entgingen. Es sind Abraham Jacoby, der im Juli 1939 in Haarlem verstarb; Johanna Langstadt, geb. Stern, die 51-jährig 1939 in Nijmwegen verschied, und Anna Odenheimer geb. Heymann, die 1943 mit ihrem Mann Max Odenheimer in Amsterdam zu Tode kam.

Nur von fünf der Deportierten ist bekannt, daß sie die Lagerhaft überlebt haben. Und den etwa 60 Opfern stehen insgesamt ungefähr 50 mit Kamen verbundene Juden gegenüber, die sich rechtzeitig durch die Emigration nach England, Amerika oder Israel retten konnten.“

Heute

In Kamen gibt es nach Auskunft der jüdischen Gemeinde Unna heute fünf oder sechs Juden, die jedoch nicht der liberalen Unnaer Gemeinde angehören. Die jahrhundertelange jüdische Geschichte Kamens ist erloschen. In Kamen sind keine antijüdischen Handlungen aus den letzten Jahren bekannt, doch mag, nein kann man es nicht glauben, daß es heute schon wieder (noch immer?) Antisemitismus in Deutschland und Europa (und anderswo in der Welt, etwa im Nahen Osten) gibt. Wir fallen zurück in überholt geglaubte Verhaltensweisen. Aus der Geschichte lernen? Manche, zu viele, nie.

Einzelne aus Kamen vertriebene Juden haben nach dem Krieg immer mal wieder ihre ehemalige Heimatstadt besucht. Eine jüdische Familie hat vor nicht allzu langer Zeit Kamen verlassen, es gibt  in Kamen keine jüdische Gemeinde mehr. Seit 2006 wurden in Kamen 50 Stolpersteine verlegt. Seit 1980 ist Eilat in Israel eine der Kamener Partnerstädte. 

Abb. 36: Das Eilater Wappen am Partnerschaftsbrunnen in Kamen

Abb. 37 : Der Davidstern

Jüdisches Leben in Kamen ist Erinnerung, dank den Stolpersteinen. Wie schön wäre es, wenn Juden selbstverständlich wieder dazugehörten, ohne Diskriminierung, ohne Hervorhebung. Einfach als Kamener.

KH

Nachbemerkung: Wer das Thema vertiefen möchte, sollte zu Klaus Goehrkes Buch „Weil wir Juden waren“ greifen (vgl.a. Quellenangaben)

Fußnoten:

1 Dieses Ritualmordmotiv entstand Anfang der 1250er Jahre in der ostenglischen Stadt Lincoln, als die Leiche eines kleinen Jungen, gen. Hugh, in einem Brunnen gefunden wurde. Umgehend entstand das Gerücht, er sei von Juden entführt und bei einer Scheinkreuzigung ermordet worden. Ein Mann namens Copin wurde verhaftet und gestand unter der Folter, daß fast alle Juden Englands hinter dem Tod des Jungen standen. Copin wurde hingerichtet, und mit ihm 18 weitere Juden. Dieser Fall führte letztendlich zur Ausweisung aller Juden aus England durch Edward I. im Jahre 1290.

2 Die Grafschaft Mark existierte von 1180 bis 1391; von 1391 bis 1521 Grafschaften Kleve und Mark in Personalunion vereinigt; 1521 trat der Herzog von Jülich-Berg die Nachfolge in Kleve-Mark an, bis 1609; in diesem Jahr vorläufig, 1666 bei einem Erbvergleich endgültig, gelangten diese Territorien an Brandenburg; 1701 wurde Brandenburg das Königreich Preußen; von 1807 bis 1813, unter französischer Herrschaft, gehörte das Territorium der ehemaligen Grafschaft Mark zum Großherzogtum Berg; von 1813 bis 1918 war es preußisch. Hier wird exemplarisch deutlich, wie genealogische und dynastische Verhältnisse, Erbstreitigkeiten, Kriege, politische Ambitionen u.a. das Schicksal der Menschen prägten.

3 11. – 30. November 1215; Lateran: päpstlicher Bereich im Zentrum Roms

4 Jérôme Bonaparte, ein Bruder Napoleons; angeblich waren seine Worte „Morgen wieder lustik“ alles, was er an Deutsch konnte.

5 Goehrke berichtet hierzu eine groteske Geschichte: „Ab etwa 1926 wohnte dort die Familie des SA-Mannes Alerich S., der bei den späteren großen Saal- und Straßenkämpfen in Kamen bis zur Machtübernahme durch den Führer eine maßgebende Rolle spielte und den ältesten Kamener SA-Sturm -ehrenhalber- … geführt hat.“

6 Dortmunder Straße – heute: Dortmunder Allee; Hermann-Göring-Straße – heute: Borsigstraße; Hindenburgdamm – heute: Sesekedamm; Horst-Wessel-Platz – heute: etwa dort, wo sich die Auffahrt von der Koppelstraße zur Hochstraße befindet; Horst-Wessel-Straße – heute: Koppelstraße; Gondelteich – Koppelteich, heute Koppelteichpark; die Vinckestraße war die Verbindung zwischen dem Amtsgericht (heute: Museum) über die Vinckebrücke zum Schwesterngang

7 Die Juden für den Tod des Erlösers verantwortlich zu machen, geht auf die Kirchenväter des 4. Jh. zurück. Daß Jesu 12 Jünger (und er selber) alle Juden waren, ist klar, doch wird dieses Jüdischsein ausschließlich Judas zugeschrieben, wozu sein Name sicherlich beiträgt. Judas verrät Jesus und wird so, als paradigmatischer Jude, für den Tod des Erlösers verantwortlich gemacht.

8 Um diese Aussage richtig einordnen zu können: Im Versailler Vertrag wurde zuerst festgelegt: 20 Milliarden Goldmark – das entsprach ca. 7.000 Tonnen Gold – sollte Deutschland innerhalb von drei Jahren zahlen. Das war nicht möglich, also geriet Deutschland in Rückstand und sollte daraufhin  269 Milliarden Goldmark in 42 Jahresraten abstottern.

9 Die Marks-Haindorf-Stiftung war eine wohltätige Körperschaft des öffentlichen Rechts in Münster und widmete sich der Integration der jüdischen Bürger Westfalens, benannt nach den Stiftern Elias Marks und Alexander Haindorf. Sie bestand von 1825 bis 1940 und unterhielt in MS ein Schule. Außerdem förderte sie „Handwerke und Künste unter den Juden“.

10 In der NS-Sprache Häuser aus ehemals jüdischem Besitz, in die ausschließlich Juden als Mieter zwangseingewiesen wurden, um Wohnraum für Arier freizumachen.

11 Ein Wort zur Verwendung des Wortes „Jude: Der Duden rät von der Verwendung dieser Bezeichnung ab, weil sie als diskriminierend empfunden werden könnte. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden (sic!) in Deutschland, sagt dazu, „Jude“ sei kein Schimpfwort, und daß er sich mit diesem Wort auf Augenhöhe mit Katholiken und Protestanten sehe (Jüdische Allgemeine, 3. Feb. 2022), und Ayala Goldmann, Kommentatorin bei der Jüdischen Allgemeinen, erklärt, daß sie keinen Juden kenne, der dieses Wort als diskriminierend empfinde. Es sei eher Nichtjuden unangenehm, weil sie sich immer noch an den nationalsozialistischen Mißbrauch der Bezeichnung erinnert fühlen. (Jüdische Allgemeine, 7. Feb. 2022)

Literatur:

Goehrke, Klaus, „Weil wir Juden waren“, Schicksal der Juden in Kamen, Kamen 1999

Goehrke, Klaus,  Burgmannen, Bürger, Bergleute, Eine Geschichte der Stadt Kamen, Greven 2010

Hermann-Ehlers-Gesamtschule Kamen, Spuren jüdischen Lebens in Kamen von 1900 – 1945, Werne 1998

Holland, Tom, Herrschaft. Die Entstehung des Westens, 3. Aufl., Stuttgart 2021

Holzer, Klaus, Bernhard Heymann, Chemiker aus Berufung, in: Beiträge zur Geschichte Kamens, Kamen 2016

Khariakowa, Alexandra, Jüdische Gemeinde Unna, im Gespräch 

Kistner, Hans-Jürgen (Bearb.), Kamen, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe – Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Münster 2016, S. 484 – 496

Möllenhoff, Gisela, Julius Voos, Ein Kamener Junge, StA, in Kopie 

Moore, Charles, The Spectator’s Notes, The Spectator, 12th February 2022

Paulus, Julia (Bearb.), Zwischen Kulturkampf und Glaubensvielfalt, Religiosität und Kirchen, in: 

Westfalen in der Moderne, 1815 – 2015; LWL-Institut für Westfälische Regionalgeschichte, Münster 2015

Rennspieß, Uwe, Von der Weltwirtschaftskrise zur Gleichschaltung, Stadtgeschichte und Kommunalpolitik Kamens 1929 – 1933, Essen 1992

Simon, Theo, Kleine Kamener Stadtgeschichte, Kamen 1982

Zeitungen: Camener Zeitung vom 2.11.1901; Camener Zeitung vom 14.12.1901; Volksblatt vom 23.  24.1938; Volksblatt vom 26.9.1938; Volksblatt vom 24.10.1938; Volksblatt vom 12.12.1938, alle im StA Kamen

Bildquellen:

Abb. 1 – 3, 28 & 37: Wikipedia

Abb. 4, 5, 8, 11 – 20, 26, 29 & 30: StA Kamen

Abb. 6, 7, 27, 32 & 33: Archiv KH

Abb. 9, 10, 21 – 25, 34 – 36: Photo KH

Abb. 31: Leo Baeck Institute New York