von Klaus Holzer
Der Mensch ist ein mobiles Wesen. Per pedes mußte er sich als Sammler und Jäger an einen neuen Ort aufmachen, wenn es am alten kein Wild und keine Beeren mehr gab. Er domestizierte das Pferd und wurde noch mobiler. Er brauchte kein ausgebautes Straßensystem, Mensch wie Pferd waren geländegängig. Flüsse wurden ebenfalls seit Jahrtausenden genutzt. Daß vor allem seefahrende Völker das Meer als Reise– und Transportroute nutzten, versteht sich von selbst.
Abb. 1: Binnenschiffahrt, 1531
Abb. 2: Phönikier mit seetüchtigem Boot
Der persische König Dareius d. Gr. war es, der als erster richtige Straßen bauen ließ, im 5. Jh v.Chr. Er hatte das persische Großreich aufgebaut und mußte es nun militärisch sichern, und seine Kriege gegen Griechenland hätte er ohne Straßen auch nicht führen können. Um seine Truppen mit ihren Streitwagen schnell in alle Ecken und Winkel seines Reichs verlegen zu können, brauchte er die entsprechende Infrastruktur. Er verband dabei gleich alle wichtigen Städte, Handelsniederlassungen und Häfen miteinander, und sein Reich blühte.
Abb. 3: Die Seidenstraße
Nachfolger wurde im Osten die Seidenstraße, die nachweislich von 115 v.Chr. bis ins Mittelalter die wesentliche Landverbindung zwischen Mittelmeer, Mittelasien und Ostasien darstellte. Hier wurde besonders deutlich, daß Straßen immer auch mehr sind als nur gepflasterte Wege, die schnelles Vorankommen ermöglichen. Ja, es läßt sich durch sie leichter Krieg führen, zerstören und töten. Aber zugleich reisen auf ihnen auch Kaufleute und Gelehrte. Sie bringen mit sich Waren, fremde Kulturen, Ideen, z.B. Religionen. So konnten sich das Christentum und der Buddhismus im Osten ausbreiten.1 Und daß die Römer geniale Ingenieure waren, ist noch heute vielerorts zu bestaunen, Zentralheizung, Viadukte und Straßen, die gewölbt waren, damit das Regenwasser leicht abfließen konnte. Auf ihnen wurden Waren und Legionen transportiert. Und da Rom zentralistisch organisiert war, ist die Metapher durchaus auch wörtlich zu nehmen: Alle Wege führen nach Rom.
Abb. 4: Straßennetz im römischen Reich
Abb. 5: Alle Wege führen nach Rom
Abb. 6: Die Via Appia, nach 2000 Jahren noch intakt
Nördlich der Alpen gab es außer den von den Römern angelegten Straßen bis ins Mittelalter hinein kaum befestigte Wege. Am 25. Dezember 800 AD ließ sich Karl d.Gr. zum Kaiser des ersten gesamteuropäischen Reichs krönen. Um sein Reich verwalten zu können, ließ er Pfalzen und Reichshöfe im Abstand von Tagesritten bauen, und er brauchte befestigte Wege, um sie zu erreichen.
Abb. 7: Das mittelalterliche System der „via regia”
Damit sie passierbar blieben, verpflichtete er die Anrainer seiner Heerstraße (via regia, auch via regis2), sie in Breite und Höhe den Erfordernissen seiner bewaffneten Reiter anzupassen, sie „hell“ zu schneiden (vgl. „Hellweg“). Natürlich wurden diese Straßen von jedermann benutzt, erlaubten sie doch schnelles Reisen und Unterkunft in regelmäßigen Abständen. Hinzu kam, daß Karl überall christliche Kirchen errichten ließ, vorzugsweise auf ehemaligen heidnischen Opferstätten. Um diese herum siedelten sich Menschen an, eine Burg, die weitere Menschen, Handwerker vor allem, nach sich zog. Ohne Straßen also auch keine Städte.
In Kamen (und anderswo) kam noch etwas hinzu, das die Errichtung einer frühen Siedlung höchst attraktiv machte: die Sesekefurt, die eine „natürliche“ Nord-Südroute ermöglichte. An dieser Stelle entstand schnell eine kleine Ansiedlung, und da hier ein immer wichtiger werdender Weg entstand, der zudem Einnahmen verhieß, entstand hier schon vor 1100 die Grafenburg derer von der Mark, gleich danach die St. Severinskirche als ecclesia propria (Eigenkirche des Grafen), beide stark befestigt, die somit Schutz boten und weitere Menschen anzogen. Mit der Stadtwerdung etwa um 1240 konnte Kamen Wochen– und Jahrmärkte abhalten. Diese zogen natürlich Händler von überall her an, so daß als Ergänzung zur Nord-Südroute sich selbstverständlich eine Ost-Westroute entwickelte. Schon ganz früh entstand so das erste Kamener Kreuz, das heute noch stadtplanprägend ist: Nord–, Ost– und Weststraße stoßen aufeinander, nach Süden ergänzt durch „Am Geist“, diagonal über den Markt, durch die Bahnhofstraße aus der Altstadt hinaus zum Hellweg führend.
Da auch der Handel zwischen den verschiedenen Regionen zunahm – im 12. Jh. entstanden vermehrt Städte, die Märkte abhielten, in die mehr und mehr Menschen zogen, die wiederum Kaufleute anzogen, die Hanse entstand – brauchte man Wagen, von Pferden gezogen, um größere Mengen über weitere Strecken transportieren zu können. Aber Wagen blieben in unwegsamem Gelände stecken, die Hansekaufleute drangen auf Befestigung von Wegen, sonst hätten sie kaum Lieferungen planen können. Es entstand eine Infrastruktur, die den Beginn der Moderne ermöglichte: z.B. die Alte Salzstraße zwischen Lüneburg und Lübeck zu Lande, ergänzt durch den Stecknitz-Kanal3; die Hansestraße von Lübeck nach Lüneburg, von dort nach Magdeburg mit Anschluß an die Elbe (denn Wassertransport war sicherer und billiger, weil einfacher), Erfurt (sie kreuzte dort die via regia) und weiter nach Nürnberg, Augsburg, über die Alpen nach Italien; die Via imperii (Reichsstraße): eine Handelsstraße, die aus Italien über Franken/Schwaben (Nürnberg, Augsburg, Ulm) über Mitteldeutschland in die Mark Brandenburg und weiter in den Hanseraum/das Baltikum führte und in Leipzig4 die via regia kreuzte.
Der endgültige Schub, eine Verkehrs-Infrastruktur zu erschaffen, kam in Deutschland Mitte des 19. Jh. durch die Industrielle Revolution. Der Transport von immer größeren Mengen über immer weitere Strecken erzwang den Ausbau von Straßen, Flüsse wurden durch ein Kanalsystem ergänzt, z.T., vor allem in Westfalen durch die Preußen, auch ersetzt (z.B. die Lippe). Gerade vorher hatte der Eisenbahnbau eingesetzt, Deutschland wurde von einem immer dichter werdenden Netz von Schienen überzogen, anders als in Frankreich wegen der kleinteiligen politischen Struktur stark dezentralisiert (weswegen hierzulande auch heute noch keine so schnellen Zugverbindungen wie dort möglich sind). Die Schiffe wurden größer, die Erfindung des Automobils ermöglichte eine immer effektivere Nutzung dieser Straßen. Auto und Lastkraftwagen wurden größer, stärker und schneller, die riesigen Entfernungen im Deutschen Reich schmolzen, doch das Fahren auf Landstraßen blieb mühevoll und zeitraubend. Von Königsberg in der äußersten Nordostecke des Deutschen Reiches bis nach Aachen, Stuttgart oder München waren es knapp unter 1.500 km, eine Fahrt mit dem Lkw, der oft zwei, manchmal gar drei Anhänger hatte, dauerte dann drei bis vier Tage, unterbrochen von nur wenigen, und dann kurzen Pausen. Rasthäuser gab es nicht, geschlafen wurde im Fahrzeug, gegessen ebenfalls. Eine solche Fahrt war ein Abenteuer der härtesten Sorte, ein Achsbruch war jederzeit möglich, das Abrutschen in einen Graben ebenfalls. Und der örtliche Verkehr mit Pferd und Wagen sorgte für weitere Probleme. Und was hieß das: befestigte Straße? Im besten Fall „Katzenköpfe“, rutschig und holprig.
Da gründete sich am 6. November 1926 ein privater Verein, die HaFraBa: Hansestädte-Frankfurt-Basel. Die Gründungsidee: eine reine Autoverbindung von den norddeutschen Hansestädten für die 880 km bis nach Basel zu bauen.
Ein Modell gab es schon: die Avus in Berlin. „Avus“ stand für Automobil-Verkehrs-Uebungsstraße. Sie wurde 1913 geplant, nach längerer Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg erst 1921 als gebührenpflichtige Straße für den Autoverkehr freigegeben. Da nur wenige Leute, Reiche, überhaupt ein Automobil besaßen und überdies eine Gebühr verlangt wurde, war die Avus grundsätzlich ein Projekt für die Reichen, Modernen und Eleganten, den Jetset der 1920er Jahre. Hier konnten sie sich austoben, ihrer Leidenschaft für das Automobil, die neueste Errungenschaft der Technik, frönen. Und da diese Straße ohne Ampeln und Kreuzungen auskam, wurde sie schnell zur ersten Rennstrecke Deutschlands.
Die HaFraBa gab ab 1928 eine Zeitschrift heraus, „Die Autobahn“, analog zu „Eisenbahn“, und schuf für die neue Art von Straßen damit auch gleich die Bezeichnung, die sich durchsetzen sollte. Damit ist deutlich, daß die Nationalsozialisten auch in dieser Sache mit Lug und Trug operierten, die Autobahn ist eben keine Erfindung Hitlers, wie sie behaupteten. Übrigens auch keine deutsche: die erste reine Autostraße verband Mailand mit den lombardischen Seen. Die erste deutsche Autobahn war die zwischen Bonn und Köln, die heutige A 555. Die Planungen begannen Mitte der 1920er Jahre, während der Zeit der Weimarer Republik, gebaut wurde von 1929 bis 1932, die Streckenlänge betrug 20 km. Der damalige Kölner Oberbürger-meister und spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer weihte sie am 6. August 1932 zusammen mit seinem Bonner Kollegen Franz Wilhelm Lürken ein. Ende 1935 gab es insgesamt 108 km Autobahnen in Deutschland, Ende 1943, also unter den Nationalsozialisten, immerhin schon 3.896 km . Eine beachtliche Leistung, besonders auch unter Berücksichtigung der damaligen technischen Möglichkeiten, mußte doch vieles noch durch Handarbeit erledigt werden, mit Hacke und Schaufel. Doch selbst, wo Maschinen hätten eingesetzt werden können, wurde das untersagt. Und trotzdem konnten die Nationalsozialisten ihr Versprechen, die Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen, nicht halten. Es gelang nicht, 10.000 km Autobahn zu bauen und alle Deutschen in Arbeit und Lohn zu bringen. Dennoch wurde die Maßnahme von den Deutschen freudig begrüßt, signalisierte sie doch den Einzug der Moderne.
Ein zweite Behauptung ist nicht unumstritten, daß nämlich die Autobahnen vor allem schon im Hinblick auf den anzuzettelnden Zweiten Weltkrieg als Aufmarschstraßen geplant waren. Die Wehrmacht war in die Planungen einbezogen, zog jedoch die Eisenbahn für ihre Planungen vor, da sie als zuverlässiger und leistungsfähiger eingestuft wurde.
Unbestritten hingegen ist, daß der Bau dieser modernen Straßen Hitler anregte, den KdF-Wagen (Kraft-durch-Freude) bauen zu lassen, heute besser als Volkswagen bekannt. Gab es Straßen, brauchte es Automobile. Nahm die Zahl der Automobile zu, wurden mehr Straßen gebraucht. Diese Wechselwirkung ist belegt. Noch heute wird dieser Streit unter den Befürwortern und Gegnern von (Umgehungs)Straßen(bau) ausgetragen.
Abb. 8: Deutsches Autobahnnetz, Stand der Planung 1933
Abb. 9: Deutsches Autobannetz, Bestand und Planung 1935
Abb. 10: Deutsches Autobahnnetz, Stand 1950
Da die Absicht bestand – anders hätte das auch keinen Sinn ergeben – das Deutsche Reich mit einem möglichst dichten Netz von Autobahnen zu überziehen, entstand für die Fahrer bei Richtungswechseln automatisch das Problem von Kreuzungen. Lösungen konnten hier sein: Stoppschilder, Ampeln, Kreisverkehr. Alle drei waren unpraktisch, verzögerten das Reisen, schufen neue Gefahren. Also mußten ganz neue Ideen her, um Richtungswechsel kreuzungsfrei machen zu können. Der erste, der ein solches System erdachte, war der Amerikaner Arthur Hale, der am 29. Februar 1916, also vor genau 100 Jahren, das Patent auf ein Autobahnkreuz erhielt, das Richtungswechsel ohne Kreuzungsverkehr erlaubte, allerdings führte er die Straßen dazu auf zwei Ebenen.
Die für das Kamener Kreuz gewählte Form kommt aus Europa, aus der Schweiz. Als die HaFraBa im Jahre 1927 eine Ausstellung ihres Projektes in Basel veranstaltete, war einer der Besucher dieser Ausstellung der Schweizer Schlosserlehrling (!) Willy Sarbach, der von der Idee der Autobahn besessen war und sich nachher zu Hause an den Tisch der elterlichen Wohnung setzte und zu zeichnen begann. Er tüftelte: Wie kann ich zwei Straßen mit vier Richtungen kreuzungsfrei gestalten? Und zwar so, daß Abbiegen nach links möglich ist, ohne durch den Gegenverkehr zu müssen? Daß Wenden möglich ist, ohne den Gegenverkehr zu behindern? Die Lösung fand er in der Natur: das Kleeblatt!
Abb. 11: Das alte Kamener Kreuz
Bei der HaFraBa war man von der Idee begeistert, so begeistert, daß der junge Mann einen Preis für seinen Genieblitz erhielt: einen Satz Reißzeug (das ist ein Zirkelkasten mit einer zusätzlichen Feder zum Ausziehen von Linien mit Tusche)! Die HaFraBa war es übrigens auch, die alle später verwendeten technischen Einzelheiten bereits schriftlich festgelegt hatte: Bauuntergrund, Dicke der einzelnen Schichten, Kurvenwinkel und –neigung, höchstmögliche Steigung bzw. Gefälle auf gebirgigen Strecken usw.
Daß die Strecke Köln – Bonn als Pilotstrecke ausgewählt wurde, war kein Zufall, war die Rheinschiene doch extrem wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung der rheinischen Großregion. Es ging um die Verbindung von Industrie-, Handels- und Verwaltungsstädten. Noch in den 1930er Jahren wurde die Planung der A2 von Köln über Hannover nach Berlin begonnen, die Einweihung des Abschnitts Recklinghausen – Bielefeld nahm Reichsarbeitsdienstleiter Dr. Fritz Todt am 12. November 1938 vor. Hatte Kamen schon im MA an einem ersten Straßenkreuz gelegen (vgl.o.), war der Bau dieser Ost-West-Magistrale der entscheidende Schritt zum Bau des Kamener Kreuzes in Kleeblattform. Die Einweihung erfolgte am 27. Oktober 1956. Sie wurde in den beiden Kamener Hotels, dem Hotel Preußischer Hof (Biermann) und dem Hotel König von Preußen (Bergheim), gebührend gefeiert. Und man war so stolz auf diesen Akt, daß man gemeinsam eine Ansichtskarte mit Erinnerungsdruck anläßlich dieses Ereignisses herausgab,
Abb. 12: Postkarte der beiden Kamener Hotels
auch wenn es nur das zweite in Deutschland war, nach dem Kreuz Schkeuditz bei Leipzig, wo sich die A9 und die A14 kreuzen. Das Schkeuditzer Kreuz wurde am 21. November 1936 in Betrieb genommen, aber erst am 5. November 1938 fertiggestellt. Es war das erste Autobahnkreuz in Europa. Die ursprüngliche Bauform war ein vollständiges Kleeblatt mit deutlich kleineren Dimensionen.
Abb. 13: Das Ende der A1 vor dem Ausbau bis Münster
Zunächst endete die A1 hier in Kamen, erst 1965 kam der Abschnitt bis Münster hinzu. Bevor dieser Abschnitt offiziell in Betrieb genommen wurde, machten sich einige Kamener auf, sie zu Fuß inoffiziell einzuweihen. Sie beluden einen Bollerwagen mit ein paar Kisten Bier und wanderten die ganze Strecke bis nach Münster auf der leeren Autobahn. Und je weiter sie kamen, umso leichter war der Bollerwagen zu ziehen.
Im Zuge dieser Bauarbeiten entstand für ein paar Jahre eine Behelfs– oder Notausfahrt zur Hammer Straße, der B61, gegenüber der Einmündung der Hansastraße, die vom 27. Oktober 1956 bis zum 1. Juli 1965 existierte, als das Teilstück bis Münster dem Verkehr übergeben wurde. 1968 dann folgte die Verlängerung bis nach Bremen. Die Leistungsfähigkeit des Kamener Kreuzes wurde ab 1. Januar 1973 auf die Probe gestellt, als die A45, die Sauerlandlinie, fertiggestellt und angeschlossen wurde, und zwei Jahre später, im Juli 1975, auch die A44 nach Kassel mit Anschluß Richtung Osten.
War dieses Kreuz schon von Anfang an eines der meistbefahrenen in Deutschland, gab es noch einmal eine Zunahme an Verkehr nach 1990, als die damalige DDR dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland beitrat, so daß Maßnahmen ergriffen werden mußten, um den drohenden Kollaps des Kamener Kreuzes zu vermeiden. Heute ist es eines der wichtigsten Kreuze im deutschen Autobahnnetz, es passieren täglich mehr als 170.000 Fahrzeuge diesen Bereich. Und um die berüchtigte Verkehrsmeldung „Stau am Kamener Kreuz“ Vergangenheit werden zu lassen, wurde das Kleeblatt ab 2004 verändert – mit einer Bauunterbrechung 2006 wegen der Fußball-WM in Deutschland, später das „Sommermärchen“ genannt – und in der neuen Form am 25. August 2009 eingeweiht. Zwei entscheidende Veränderungen machen es viel leistungsfähiger: da ist zum einen der allgemeine Ausbau auf drei Fahrbahnen und, ganz entscheidend, die neue Streckenführung innerhalb des Kreuzes: es wurde eine neue Spur für die Autofahrer gebaut, die auf der A2 aus Richtung Hannover im Bogen um drei Kleeblätter herum auf die A1 in Richtung Köln fahren, wozu es zwei neue Brückenbauwerke brauchte, für die Überquerung der A2 westlich des Kreuzungspunktes und die Unterquerung der A1 nördlich des Kreuzungspunktes. Die neue Streckenführung ist kürzer und schneller, damit halten sich Fahrzeuge nicht mehr so lange im Kreuz auf, der Verkehr fließt also schneller ab. Für die entgegengesetzte Fahrtrichtung blieb alles beim alten, jedoch wurde die Tangente baulich auf zwei Fahrspuren aufgerüstet. So wurde die Kapazität praktisch verdoppelt, wenn die Autofahrer beide Spuren benutzen. Alle übrigen Verbindungen sind deutlich schwächer belastet und blieben unverändert.
Abb. 14: Das Kamener Kreuz vor und nach dem Umbau
In dieser neuen Form bedeckt das Kamener Kreuz nunmehr eine Fläche von 18 ha und umfaßt inklusive der Verbindungstangenten eine Strecke von 11 km! In seiner neuen Form kann es viel mehr Verkehr aufnehmen. Derzeit sind es etwa 185.000 pro Tag!
Baugeschichte:
Daß bei einer solchen Unternehmung Bauingenieure das Sagen haben, ist klar, doch gingen die damaligen Planer einen Schritt weiter und taten etwas, das selbst uns heute noch sehr modern anmutet. Die neuen Autobahnen sollten sich „weich in das Landschaftsbild einfügen“, daher bekam jede Bauabteilung einen Landschaftsbauingenieur. Der Sitz des Dienstgebäudes der Reichsautobahnen, Bauabteilung Kamen, war die ehemalige Fabrik von Wilhelm Wienpahl an der Hammer Straße (vgl. hierzu den Artikel über Wilhelm Wienpahl unter „Kamener Köpfe“ auf www.kulturkreiskamen.de). Immerhin hatte das Amt bereits zwei Dienstfahrzeuge. Ab 1946 hieß es „Bundesautobahn“ statt „Reichsautobahn“, und da die Zuständigkeit für Straßen grundsätzlich in die Hoheit der neu geschaffenen Länder gegeben wurde, hieß die zuständige Behörde jetzt „Landesstraßenbauamt Autobahnen Kamen“ und es blieb vom 1. April 1946 bis zum 31. März 1956 in unserer Stadt. Zum 1. April 1956 zog die Behörde nach Hamm um, weil in Kamen keine Räume für die größer gewordene Dienststelle gefunden werden konnten.
Die Fahrbahnen wurden mit 12 m langen, 22 cm starken Betonteilen belegt, die bis 1963 Standard waren. Alle Anschlußstellen und Parkplätze wurden mit Kleinpflaster, meist Grauwackepflaster, seltener auch mit dem rutschigen Blaubasalt, belegt, damit die autobahnunerfahrenen Automobilisten merkten, wann sie wo waren. Diese Pflasterung wurde erst 1961 beseitigt.
Im Zuge des Baues der Autobahnen wurden bei Hamm-Ost Urnen aus der ausgehenden Bronzezeit (um 800 v.Chr.) ausgegraben und dem Provinzial-Museum Münster übergeben.
Am Ende des Krieges sprengte die Wehrmacht sämtliche Brücken westlich des Kamener Kreuzes, östlich weniger, um das Vorrücken der alliierten Armeen zu behindern. Nur eine Brücke blieb hier bestehen, die Feldwegüberführung des Hofes Frielinghaus in Dortmund, dessen Wirtschaftsland beidseits der Autobahn lag. Als die Wehrmachtsoldaten anrückten, um auch diesen Überweg zu sprengen, bot die Bäuerin, Hulda Frielinghaus, ihnen ein fettes Schwein an – damals waren Schweine noch fett, je fetter, desto beliebter – wenn die Brücke erhalten bliebe. Bei einem solchen Angebot konnten die Männer nicht nein sagen, und die Brücke bekam den Namen „Schweinebrücke“. Erst im Zuge des Ausbaus der A2 auf sechs Spuren wurde sie 2003 entfernt.
Die gesprengten Brücken wurden in der direkten Nachkriegszeit durch sogenannte Baileybrücken5 ersetzt, damit der allgemeine Verkehr wieder in Gang gebracht werden konnte. In Kamener Zuständigkeit lag die Unterhaltung von 283,7 km Streckenabschnitt mit den Autobahnmeistereien Brackwede, Oelde und Recklinghausen. Bei den Autobahnmeistereien waren Tischler– und Malerwerkstätten untergebracht, die die gesamte Beschilderung von Hand aus Holz anfertigten. Die erste Schilderbrücke mit Aluminium-Schildern am Kamener Kreuz wurde 1962 aufgestellt. Bis 1952 wurden alle Fahrbahnmarkierungen mit Hilfe von Schablonen von Hand aufgetragen, erst seit 1952 maschinell. Die erste westfälische Rast– und Tankstätte wurde in Rhynern gebaut, in beiden Fahrrichtungen, Rhynern-Süd und Rhynern-Nord. Die beiden Raststätten sollten durch eine Unterführung miteinander verbunden werden. Dazu kam es aber wegen des Krieges nicht mehr. War sie im Frühjahr 1939 zunächst in Baracken untergebracht, wurde mit Kriegsbeginn der Rohbau bezogen. Stellplätze gab es für 250 Pkw und 120 Lkw! Heute stehen beide Gebäudekomplexe unter Denkmalschutz.
Zur Geschichte der Polizeikaserne an der heutigen Dortmunder Allee in Kamen
Abb. 15: Die Plozeikaserne an der Dortmunder Allee, 1938
Anfang der 1930er Jahre nahm der Verkehr auf Deutschlands Straßen beträchtlich zu. Es gab immer mehr Unfälle, immer öfter wurde die Polizei hinzugerufen, um Sachverhalte zu klären, die Unfälle aufzunehmen, rechtliche Verfahren zu ermöglichen. Generell erschien es erforderlich, daß „der Verkehrsraum, die Verkehrsteilnehmer und die Verkehrsmittel“ konzentrierter überwacht wurden. Dazu wurden 1930 im Reichsgebiet 16 motorisierte Bereitschaften gegründet, davon eine in Kamen, weil Kamen, anders als Unna, günstiges Baugelände für das notwendige Dienstgebäude bereitstellte und die Lage am Kamener Kreuz leichten Zugang zu allen Autobahnen ermöglichte. Diese Dienststelle umfaßte 72 Mann mit 19 Kraftfahrzeugen.
Abb. 16a – f: Motorisierte Gendarmerie 1938 – 1945 in ihrer Unterkunft in der Polizeikaserne Kamen
Dieses Dienstgebäude, das, was unter dem Namen Polizeikaserne in Kamen bekannt ist, wurde in den Jahren 1937/38 gebaut und im Juni 1938 bezogen. Bestandteil der Anlage waren eine Kraftfahrzeugwerkstatt (man führte leichtere Reparaturen und Services an den Autos selber durch), Garagen und sonstige Einrichtungen.
1945, als große Kriegsschäden in der Innenstadt den Betrieb des Krankenhauses unmöglich machten, diente die Kaserne als Notkrankenhaus mit 90 Patientenbetten. Alle anderen zur Anlage gehörenden Gebäude wurden von den Alliierten genutzt.
Nach den organisatorischen Veränderungen, die die Niederlage im Krieg mit sich gebracht hatte, wurden die Gebäude im April 1954 an den RP Arnsberg übergeben. Als nun die neuen Verkehrsüber-wachungskommandos eingerichtet wurden, war das auch die Geburtsstunde der „Weißen Mäuse“.
Abb. 17: „Weiße Mäuse” im Käfer.
Die Autos wurden schneller, der Überwachungszug mußte schneller werden, um seiner Aufgabe noch gerecht werden zu können.
Abb. 18: Ein Porsche der „Weißen Mäuse”
Deshalb wurde 1961 ein Porschezug der „Weißen Mäuse“ gegründet, eine besonders schnelle Einheit, die weiß gekleidet war – weiße Jacke zu grüner Hose, weißes Koppel, weiße Mütze, weißer Mantel, auf dessen Ärmelschleifen der Schriftzug „Polizei“ verdeutlichte, um wen es sich handelte – und weiße Porsche-Cabrios fuhr, zunächst 14 an der Zahl, an denen man kleinere Dienste
Abb.19: Die „Weißen Mäuse” im Einsatz
wie Ölwechsel selber vornahm. Für größere Reparaturen mußten die Beamten in eine Spezialwerkstatt nach Dortmund fahren, so daß dieser Zug schon ziemlich teuer wurde. Hermann Böhne argwöhnt noch heute, daß die Kamener Weißen Mäuse so etwas wie Versuchsfahrer für Porsche waren. Der weiße Mantel war besonders wichtig, da eine Dienstvorschrift besagte, daß die Besatzung der Wagen bis zu einer Temperatur von 3° offen fahren mußte! Der Name „Weiße Mäuse“ wurde übrigens voller Bewunderung verwendet und mit Freude aufgenommen. In den weißen Porsches waren sie durchaus Gegenstand von Bewunderung. Wer konnte schon solch ein Auto fahren? James Dean ja, Otto Normalverbraucher doch nicht! Am 15.3.1961 zog der Porschezug der Autobahnpolizei Kamen hier ein. Er nahm seinen Streifendienst am 20.3.1961 auf und war für 248 km Autobahn A1/A2 zuständig. Zum Zug gehörten 20 weiße Porsche-Cabrios, ein hellgrauer Zivilwagen und ein VW-Bulli als „Semmelwagen“. Es wurden 12-Stunden-Schichten gefahren. Im ersten Jahr wurden 2140 Verkehrs– und 67 Kontrollstreifen gefahren, 820.000 km zurückgelegt.
Es waren jetzt hier stationiert: „82 Beamte mit 43 Kraftwagen und 23 Krädern“ (Krafträdern).
Abb. 20 & 20a: Kräder
Sie hatten 50 km Autobahn von Uentrop bis Henrichenburg zu überwachen und die Bundesstraßen der Kreise Soest, Unna, Arnsberg und Ennepetal. Am 16.3.1964 wurde dieser Zug schon wieder aufgelöst, zum größten Bedauern aller Beteiligten. Böhne weiß nicht genau, warum, doch scheinen zum einen die Kosten zu hoch geworden zu sein, zum anderen wurde damals eine neue Art der Verkehrsüberwachung eingeführt. Und es griff eine neue Arbeitszeitverordnung, wonach die 12-Stundenschichten der Weißen Mäuse nicht mehr zeitgemäß waren. Das endgültige Ende der „Weißen Mäuse“ kam dann 1974.
Etwas, das man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann, betraf das Unfallkommando der Verkehrsüberwachung Nordbögge: es war seit 1955 in einer Holzbaracke untergebracht, die so dicht an der Fahrbahn stand, daß ein aus dem Fenster gehaltener Arm in Gefahr war, abgerissen zu werden. Und es gab keinen Funk und kein richtiges Telephon, nur ein Wachhäuschen an der Fahrbahn. Von dort ertönte ein Signal, wenn die Leitstelle „anrief“. Dann mußte der wachhabende Beamte hinausgehen, die Meldung empfangen („Unfall auf der A2 bei …“), zurückeilen in seine Baracke und per Funk einen Streifenwagen alarmieren, der dann zur Unfallstelle fuhr. Und was noch schlimmer war, es gab in der Baracke keinen Strom, kein Wasser, keine Toilette. Wer „mal mußte“, mußte mit dem Streifenwagen zur nächstgelegenen Wache fahren oder, wenn es eilig war, das nächstgelegene Gebüsch aufsuchen. Später gab es dann sogar ein „Herzhäuschen“. Was für ein Luxus! Und Kaffeewasser holte man sich von der Raststelle Rhynern.
Vor der Einführung der Funkgeräte mußten die Dienstwagen auf Streifenfahrt an jeder Dienststelle, an der sie vorbeikamen, anhalten und sich nach dem neuesten Stand der Dinge erkundigen. Für den Fall von Fahrten auf den Autobahnen, wo es keine Dienstgebäude gab, führten sie Telephonhörer mit Klinkensteckern mit sich. Diese konnten sie in Säulen auf dem Mittelstreifen (!) der Autobahn einstöpseln und eine Verbindung herstellen.
Abb. 21 & 21a: Das „ Autobahn- Benimmbuch”
Autobahnfahren war nichts, das in der Fahrschule gelehrt wurde7, der durchschnittliche Autofahrer fuhr kaum jemals auf der Autobahn, entsprechend unerfahren war er. Im Bereich des Kamener Kreuzes wuchsen Blumen an den Böschungen, Margeriten und Lupinen und andere. Da kam es am Sonntagnachmittag nicht selten vor, daß ein Wagen anhielt, eine Familie ausstieg und Blumen für den Besuch pflückte, für den Besuch, den man ansteuerte. Lt. Böhne waren das meistens Autos mit den Kennzeichen SO, MK und EN.6 Klar, daß das gefährlich war. Da verfaßte der Polizeihauptkomissar (PHK) und Bereitschaftsführer Paschedag im Auftrag der Verkehrsüberwachungsbereitschaft im Landespolizeibezirk Arnsberg einen Leitfaden „Wie verhalte ich mich auf Autobahnen?“, der am 15. März 1957 herauskam und allen Autofahrern die Benutzung des ein halbes Jahr vorher eröffneten Kamener Kreuzes erklärte. Dabei ging es um Grundsätzliches: Autobahnen sind Einbahnstraßen, abbiegen und wenden müssen bestimmten Regeln folgen und gehen nur über die Blätter des Kleeblattes. Und jedes Thema wurde anhand einer Zeichnung illustriert.
Zu den vielen Anekdoten, die der ehemalige PHK Hermann Böhne erzählen kann, gehört auch die des Handwerkers, der in den späten 1970er Jahren mit seinem defekten Wagen an der Kamener Polizeiwache strandete, die damals mitten im Kreuz lag,
Abb. 22: Die Polizeiwache im Kamener Kreuz
und die Polizisten bat, seine Frau anzurufen – von Handys noch jahrzehntelang keine Spur – die ihn abholen sollte. Und so stand man gemeinsam, Polizei und Handwerker, an der Wachbaracke und paßte auf, wann die Frau auftauchen würde. Als sie endlich gesichtet wurde, war sie gerade dabei, an der Wache vorbeizufahren, da sie die richtige Abfahrt nicht gefunden hatte. Also drehte sie die Runde – und fand sie wieder nicht. Das geschah mehrmals, immer wieder rauschte sie an den Wartenden vorbei. Schließlich hatte Böhne genug davon und schickte einen Streifenwagen hinterher, der sie „einfing“ und zur Wache geleitete.
Abb. 23: Stau am Kamener Kreuz
Nicht nur diese Frau hielt sich länger an „unserem“ Kreuz auf, als sie wollte, das passierte vielen. Das alte Kamener Kreuz war deutschlandweit ein Begriff, und auch im europäischen Ausland machte es sich einen Namen. Wer kennt nicht die Geschichten, die Urlauber zu erzählen haben, darunter die, daß sie im Urlaub gefragt wurden, wo sie denn herkommen. Da sie annahmen, daß sowieso kein Mensch Kamen kennt, gaben sie als ihren Heimatort das Kamener Kreuz an. Und immer hieß es dann: Ach so! Da haben wir auch schon im Stau gestanden! Für seine Staus war es jahrzehntelang bekannt und berüchtigt. Im Verkehrsfunk war eine der häufigsten Meldungen: Stau am Kamener Kreuz. Bitte weiträumig umfahren! Die Kamener selber mußten auch immer wieder darunter leiden, wenn das Kreuz wieder einmal „dicht“ war und lange Autoschlangen sich über die Werner und die Lüner Straße wälzten und den Ortsverkehr zum Erliegen brachten.
Abb. 24: November 1973, einer der vier autofreien Sonntage (Autobahn bei Rottum)
Wenn man Hermann Böhne fragt, was er noch alles vorn „seinem“ Kamener Kreuz zu erzählen weiß, sprudelt es nur so aus ihm heraus. Und immer wieder ist er persönlich daran beteiligt. Junge Leute wollten in der Zeit des Wirtschaftswunders reisen und wie immer bei ihnen mußte es billig sein. Da gab es zwei Möglichkeiten: Interrail oder, noch billiger, per Anhalter. Mit letzteren hatte Böhne es am Kamener Kreuz zu tun.
Aus den Erinnerungen Hermann Böhnes:
Abb. 25: Anhalter im Kamener Kreuz
Anhalter
Die 1960er/70er Jahre waren die hohe Zeit der Anhalterei. Junge Leute aus ganz Europa reisten durch den ganzen alten Kontinent, der damals für alle der neue Kontinent war. Überall waren Grenzen, überall gab es einen Stempel in den Paß, bei allen begehrt, weil sie zeigten, daß man weitgereist war. Hermann Böhne erinnert sich an einen besonders schlimmen Tag an einem besonders heißen Sommertag: 18 Anhalter standen an verschiedenen Stellen im Kamener Kreuz herum und reckten ihre Daumen in die Höhe. Und das nicht etwa auf den Parkplätzen, sondern direkt auf den Randstreifen. Immer wieder hielten aufnahmewillige Fahrer einfach an und ließen Mitfahrer einsteigen. Nicht auszudenken, was da passieren konnte! Und einen Platzverweis auszusprechen, kam ebenfalls bei 18 weit verteilten Leuten nicht in Frage. Was tun? Böhne rief einen 24-sitzigen Opel-Unfallaufnahmewagen heran, sammelte alle Anhalter ein und fuhr sie zur Raststätte Rhynern, wo er sie zur Weiterreise wieder hinausließ. Während der Fahrt nach Rhynern war es ein lustiges Singen in allen möglichen europäischen Sprachen, es herrschte beste Stimmung. Wer so reiste, hatte keinen Fahrplan, nahm alles, wie es kam, die Laune ließ man sich bestimmt nicht verderben.
Abb. 26: Opelbus der Polizei
Hier könnte die Geschichte zu Ende sein, und es wäre eine schöne Geschichte. Es gibt aber eine Fortsetzung.
1985 machte Böhne mit seiner Frau Urlaub auf Teneriffa in Santa Bela Cruz. Am Sonntag gingen sie in die Fischerkirche St. Elmo, wo ein spanischer Pfarrer einen Gottesdienst auf Deutsch abhielt. Während die Gemeinde die drei Strophen des Schlußlieds sang, ging der Pfarrer zur Tür, um die Gottesdienstbesucher zu verabschieden. Mit vielen wechselte er noch ein Wort. Böhnes fragte er nach ihrer Herkunft. „Aus der Nähe von Dortmund“, gab es zur Auskunft. „Wo da genau?“ „Aus Kamen.“ „Ach,“ meinte der Pfarrer, „da bin ich als Anhalter mal gestrandet. Es war heiß und wir wußten nicht, wie wir weiterkommen sollten. Da hat die Polizei uns zu einem Rasthaus gefahren, von wo wir dann alle wegkamen.“ Da gab Hermann Böhne sich zu erkennen und die beiden freuten sich über die kuriose Geschichte.
„Republikflüchtlinge“
1985 geschah noch eine merkwürdige Sache, wie sie nur im geteilten Deutschland passieren konnte. Ein Berliner Ehepaar machte auf der Fahrt nach Westdeutschland Rast auf einem Parkplatz an der Transitstrecke, wollte sich eigentlich nur ein Päckchen Zigaretten kaufen, entfernte sich also nur für wenige Minuten von seinem Mercedes 220. Anschließend ging’s weiter Richtung Westen. Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Dann plötzlich, kurz vor der Raststätte Rhynern, hörte die beiden Geräusche aus dem hinteren Teil des Autos. Ein Defekt? Ein loses Teil? Als Rhynern in Sicht kam, fuhr der Fahrer auf den Parkplatz und schaute im Kofferraum nach, ob da etwas zu sehen sei. Als ihm beim Öffnen der Klappe zwei Jugendliche entgegenkamen, war er arg erstaunt. Natürlich folgte eine Runde Fragen: Wer seid ihr? Wie kommt ihr in meinen Kofferraum? Was ist hier überhaupt los? Kurz und gut: es handelte sich um zwei Jugendliche aus Magdeburg, die an dem Rastplatz an der Transitstrecke gewartet hatten, einfach um mal zu sehen, was da so los war. Und als sich die Möglichkeit bot, in den Mercedes der beiden Berliner zu klettern, überstiegen sie den Zaun, der alle Rastplätze auf den Transitstrecken zwischen der DDR und Westdeutschland umgab, „sicherte“, wie es im Osten hieß, und versteckten sich dort. Für die Führung der DDR war das „Republikflucht“. Die wurde mit Zuchthaus bestraft, und die beiden Westberliner wären bei einer weiteren Kontrolle als „Fluchthelfer“ ebenfalls ins Gefängnis gekommen. Von Rhynern aus wurde sofort die Polizei verständigt, die die beiden Flüchtlinge abholte und in die Wache nach Kamen brachte.
Das war nun wegen der politischen Implikationen eine heikle Sache , was durch Telephonate mit vorgesetzten Behörden bestätigt wurde. Zunächst einmal wurde absolutes Stillschweigen angeordnet, bis man zu einem Entschluß über das weitere Vorgehen gekommen wäre. Da fiel Böhne die für seine Wache eleganteste Lösung ein. Die beiden waren doch in Rhynern gefunden worden? Und Rhynern gehörte doch zu Hamm! Also wurden die beiden flugs an das Jugendamt Hamm übergeben. Sollten die sich doch mit dem Fall beschäftigen. Nach einigem Hin und Her wollten die beiden Jugendlichen dann doch zurück in die DDR. Ein Mitarbeiter der „Ständigen Vertretung“ (so hieß die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Deutschen Demokratischen Republik: man wollte dort vertreten sein, aber damit sollte keine Anerkennung verbunden sein) holte sie ab und übergab sie den DDR-Behörden. Was dann aus ihnen wurde, ist nicht bekannt.
„Landebahn“
Daß ein langes, gerades Stück Autobahn sich auch für noch ganz andere Dinge eignet, erlebte Böhne zusammen mit seinem Kollegen Keller im Frühjahr 1961. Zwischen der Anschlußstelle (AS) Kamen-Süd und der AS Unna-Massen gab es die Notlandung einer einmotorigen Cessna 172. Ich lasse Hermann Böhne selber zu Wort kommen:
Abb. 27: Ein Flugzeug auf der Autobahn
„Es herrschte richtig mieses Wetter. Regenträchtige Wolken lagen tief auf, die von einem steifen Nordwest getrieben wurden. Hin und wieder gab es einen kräftigen Guß. Es stand reichlich Wasser auf den Fahrbahnen, und die Kraftfahrzeuge zogen Wasserfahnen hinter sich her.
Mit meinem Streifenkollegen Hilger Keller […] befuhren wir die A2 in Richtung Oberhausen. Wir hatten soeben den Brunsberg passiert, als wir Motorengeräusche über uns wahrnahmen. Und das sehr deutlich. Alsbald tauchte das Flugzeug im Blickfeld vor uns auf. In niedriger Höhe schien es das Betonband der Autobahn als Orientierungshilfe zu benutzen. Was hat der Pilot eigentlich vor?Will er etwa auf der Autobahn notlanden? Diese und weitere Fragen stellten wir uns, ohne jedoch eine Antwort zu bekommen. Dann und wann zog der Pilot eine Schleife, so daß der Blickkontakt zu uns eigentlich nie abriß. Über dem Kamener Kreuz zog der Pilot abermals eine Schleife, um dann in Richtung Unna zu fliegen. Wir hatten uns entschlossen, dem Piloten irgendwie die Landung zu ermöglichen. Eine Kontaktaufnahme per Funk scheiterte. Ein zweiter Streifenwagen wurde herbeigerufen (Polizeimeister (PM) Tobias / PM Senz), um den auflaufenden Verkehr abzusichern. Wir fuhren inzwischen mitten auf der Fahrbahn, verlangsamten den Verkehr und ließen uns nicht überholen. Die Flughöhe der Cessna war nun beängstigend niedrig. In Höhe Kamen-Zentrum überquerte eine Hochspannungsleitung die BAB. Diese sah der Pilot wohl erst im letzten Augenblick. Mit einem „Steilsprung“ – uns blieb fast das Herz stehen – schaffte er das Hindernis in letzter Sekunde.
Der vor uns befindliche Verkehr war inzwischen so weit abgelaufen, daß genügend Freiraum für eine Landung vorhanden war. Das erkannte auch der Pilot, der nun nach einer weiteren Schleife zur Landung ansetzte. Die Autobahn bestand zu dieser Zeit aus zwei Fahrstreifen und einem Seitenstreifen. Die Landung klappte dann ohne weitere Komplikationen.“
Anschließend wurde die Cessna auf dem fertiggestellten, aber noch nicht freigegebenen Stück des Kreuzes Dortmund/Unna geparkt, bis, bei besseren Wetterverhältnissen, das Autobahnamt Hamm die Starterlaubnis erteilte. Der Pilot und seine drei Passagiere bedankten sich herzlich und landeten kurze Zeit später in Dortmund-Wickede.
Lakonisch schließt Hermann Böhne: „So war das damals. Mit einem Vermerk auf dem Streifenbefehl war diese Aktion auch für uns erledigt.“
Auf einer Autobahn mit soviel Verkehr kam es zwangsläufig zu vielen Unfällen. Dann Hilfe herbeizurufen, ohne alle heutigen technischen Hilfsmittel, war nicht einfach. Z.B. stellte sich der „Gelbe Engel“ (damals noch auf dem Motorrad) mit einem Schild an den Straßenrand und hoffte darauf, daß ein Arzt vorbeikam.
Abb. 28: Hilferuf
Neben den Todesfällen gab es aber auch eine Geburt.
Abb. 29: Eine Geburt auf der A1 bei Holzwickede (WR, 23.1.1999)
Einmal war auch ein Tippelbruder mit seinem Gespann auf der Schnellstraße unterwegs. Den zu retten, bedurfte es einiger Überredungskunst seitens der Beamten. Der war so störrisch wie sein Esel: das sei doch eine wunderbare Strecke, immer geradeaus.
Abb. 30: Tippelbruder auf der A1
Und am 12.9.1965 berichtete die Bildzeitung, daß die Kamener Autobahnpolizisten und ein Kamener Taxifahrer das Münsteraner Konzert der Rolling Stones retteten. Der Leihwagen des Gitarristen Bill Wyman war am Kamener Kreuz liegen geblieben, und das, wo doch das Konzert schon angefangen hatte! Ein Taxi mit Polizeieskorte in Höchstgeschwindigkeit auf der A1!
Abb. 31: Auch die Rolling Stones mußten durchs Kreuz
Anmerkungen:
1 Es ist eine durchaus berechtigte Frage, ob sich Gutenbergs epochale Erfindung, der Buchdruck, so schnell verbreitet hätte, wenn sein Ausgangspunkt nicht Mainz gewesen wäre, in der Nähe großer Flüsse und Straßen, mit Frankfurt als einem bedeutenden Messeplatz mit kaiserlichem Privileg seit 1240 gleich nebenan.
2 Zunächst allgemeine Bezeichnung für Königsstraßen (also durch den König/Kaiser angelegte und bewachte und durch seine Truppen benutzte Straßen), später der Name einer Pilger–, Haupt– bzw. „Hohen“ Straße quer durch Mitteldeutschland (1252 erstmals als „strata regia“ erwähnt, noch heute im Verlauf einiger Bundesstraßen in Thüringen und Sachsen erhalten)
3 Der Stecknitzkanal (alte Bezeichnung: Stecknitzfahrt) wurde in den Jahren 1392 bis 1398 zwischen Lübeck und Lauenburg gebaut.
4 Messestadt mit landesherrlichem Privileg seit 1156, mit kaiserlichem Privileg seit 1497.
5 Die Bailey-Brücke ist eine transportable, aus vormontierten Einzelbauteilen zusammensetzbare, Not- oder Behelfsbrücke. Sie ist leicht aufzubauen, kann aber schwerste Lasten tragen.
6 Am 1.10.1906 wurde das erste deutschlandweit einheitliche Kennzeichen eingeführt. Direkt nach der Kapitulation Deutschlands erhielten deutsche Autos Militärkennzeichen, anschließend bis zum 5.5.1955 Nummernschilder der Militärverwaltung der jeweiligen Besatzungszone.1956 wurde das heutige System der Kennzeichen eingeführt.
7 Fahrstunden auf der Autobahn als verpflichtenden Teil der Ausbildung gibt es erst seit den 1970er Jahren. Es mußten fünf Stunden sein, die ans Ende der Ausbildungszeit gelegt wurden, damit die Grundfahrkenntnisse schon gefestigt waren.
Quellen:
Ammoser, Hendrik, Das Buch vom Verkehr, Die faszinierende Welt von Mobilität und Logistik, Darmstadt 2014
Bundesminister für Verkehr, Abt. Straßenbau, Hrsg., HAFRABA, Bundesautobahn Hansestädte – Frankfurt – Basel, Rückblick auf 30 Jahre Autobahnbau, Wiesbaden – Berlin 1962
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Ministerium für Bauen und Verkehr des Landes NRW, Hrsg., Um– und Ausbau des Kamener Kreuzes (A1/A2), o.O. & o.J.
Ebbrecht, Theodor, Landesoberbauamtsrat a.D., Vom Autobahnbau zum Autobahnbetrieb, Geschichtliche Entwicklung des Autobahnamtes Hamm 1934 bis 1975, o.O. & o.J.
Paschedag, Polizei-Hauptkommissar und Bereitschaftsführer, Das Kamener Kreuz, o.O., 1957
Regierungspräsident Arnsberg, Hrsg., 25 Jahre Dienst am Bürger, Arnsberg 1989
Mein besonderer Dank gilt Hermann Böhne, Polizei-Hauptkommissar a.D., der mir als der in Kamen beste Kenner der Geschichte des Kamener Kreuzes in vielerlei Hinsicht Hilfestellung leistete, vor allem als Auskunftei auf zwei Beinen. Und er kennt alle Geschichten um das Kamener Kreuz. Im Kamener Haus der Stadtgeschichte hat er ein kleines Museum zum Kamener Kreuz und zur Autobahnpolizei eingerichtet. Dort gibt es auch das Archiv der Kamener Autobahnpolizei. Zusätzlich besteht noch eine von ihm zusammengetragene und betreute Sammlung von Ausrüstungsgegenständen der Polizei aus vielen Jahrzehnten im neuen Gebäude der Autobahnpolizei Kamen auf der Funckenburg.
Dank auch an das Kamener Stadtarchiv, das über umfangreiches Bildmaterial verfügt und dieses zur Verfügung stellte.
Bildnachweis:
Abb. 1. Binnenschiff vom Typ Oberländer aus dem Köln-Prospekt des Anton Woensam 1531 (aus: Detlef Sender, Häfen, Schiffe, Wasserwege. Zur Schifffahrt des Mittelalters)
Abb. 2 – 7: Wikipedia
Abb. 8 – 10: Autobahnkarten / Autobahnnetz historisch ab 1926. Quelle: Landkarten & Stadtplan Index – Michael Ritz – Mönchengladbach
Abb. 11 – 13, 17, 19, 22 – 25, 28 – 30: Stadtarchiv Kamen
Abb. 14: Wikimedia.org
Abb. 15, 16a – f, 18, 20 – 20a, 26, 27: Hermann Böhne, Archiv der Kamener Autobahnpolizei