Das 8. Zeitzeichen – „Kopfbuchen”

Borys Sarad

Photo: Borys Sarad

von Klaus Holzer

8. Zeitzeichen des KKK

Am Donnerstag, 13. November 2014, fand im Haus der Stadtgeschichte in Kamen das 8. Zeitzeichen des Kulturkreises Kamen statt. Heribert Reif, bis Januar 2014 Leiter des Botanischen Gartens Rombergpark in Dortmund sprach über „Kopfbuchen – zum Geschichtsverständnis früherer Waldnutzung“. Mit tiefer Kenntnis und voller Begeisterung referierte Heribert reich über Holz– und Waldnutzung während der letzten anderthalb Jahrtausende. Und er wußte Erstaunliches zu berichten.

Wer von seinen Zuhörern wußte schon, daß

… bereits Karl der Große eine erste Waldschutzsatzung erließ, weil er die Bedeutung von Holz zum Bauen, Heizen, Kochen und für den Waffenbau erkannt hatte?

… sich anhand der Bepflanzung vom Gardasee übers Piedmont bis in die Toskana deutsche Siedlungsspuren nachweisen lassen? (Die germanischen Fürsten hatten, als sie zur Völkerwanderungszeit nach Italien zogen, in ihrem Troß eben auch Bauern und Handwerker dabei, die im fremden Land genau das taten, was sie von zu Hause kannten?)

… die mangels Geschichtskenntnissen heute oft banal Monsterbäume oder –wälder genannten Anpflanzungen das Ergebnis bäuerlicher und forstwirtschaftlicher kultureller Leistung sind? (Ausgewachsene Buchen zu fällen, war früher viel mehr als heute härteste Knochenarbeit, gab es doch keine Motorsäge. Daher war es sehr wirtschaftlich, die Bäume in ca. zwei oder zweieinhalb Metern Höhe zu schneiden und statt der dicken Stämme die dann von hier aus gewachsenen jungen Äste zu ernten, sobald sie die richtige Dicke hatten. Das Sägen wurde leichter, und das Spalten entfiel. Und unter der Höhe von zwei Metern ging das nicht, weil das frei weidende Vieh sonst die frischen Triebe abgefressen hätte. Für die Tiere blieben aber die seitlich aus der Wurzel wachsenden Triebe als Futter. Baumäste sind übrigens vorteilhaft für die Gesundheit der Tiere.)

… die Linde der Baum der Franken war, der regelmäßig alle 10 – 15 Jahre in Form geschnitten wurde, wovon es noch heute Beispiele am Niederrhein und im Oberbergischen gibt?

…die Eiche ursprünglich vor allem nördlich der Lippe (seit vielen Jahrhunderten eine geographische, ethnische, politische und religiöse Grenze) und in Ostwestfalen und im Lippischen angepflanzt wurde, also im Gebiet der Sachsen, und nicht beschnitten wurde, sondern frei wuchs? (Karl zwangschristianisierte die Sachsen bekanntlich vor 800 und eroberte dabei ihr Land, was dann für die weitere Verbreitung des „sächsischen“ Baumes sorgte.)

… Bäume, wenn sie regelmäßig beschnitten und somit zu neuem Austrieb animiert werden, viel älter werden als ihre unbeschnittenen Nachbarn?

… kein Baum älter als ca. 800 Jahre wird, auch wenn immer wieder von „tausendjährigen“ Eichen usw. die Rede ist? (Die 1000 Jahre sind leicht zu erklären, wenn man die Erinnerungsspanne des Menschen zugrundelegt: drei, höchstens vier Generationen, deutlich unter 100 Jahren. Diese „tausendjährigen“ Bäume bleiben immer tausendjährig.)

… die Linde der Baum der Frau ist, in matriarchalischen Gesellschaften dominierte? Der Baum Marias, weil ihre Blattform an ein Herz erinnert? Der Gerichtsbaum wurde, weil auch Justitia eine Frau ist?

… die Eiche der männliche Baum ist, in patriarchalischen Gesellschaften vorherrschte?

… in Ostwestfalen/Lippe die Linde in manchen Gegenden in ca. zwei Metern Höhe beschnitten wurde, damit man die neuen Triebe so biegen und wachsen lassen konnte, daß darauf ein Gerichtsraum eingerichtet werden konnte? (Die Seitentriebe wurden miteinander verflochten, so daß ein Baumhaus entstand.)

Vieles mehr wußte Heribert reif zu berichten, immer hoch interessant, fesselnd erzählt, das meiste neu, wenngleich mancher ihm nicht immer folgen mochte, so z.B. bei den Ausführungen des Referenten zu den Gründen für die Reformation. Da bleibt so mancher wohl doch eher bei der orthodoxen Deutung.

Über eineinhalb Stunden dauerte der Vortrag, doch niemand ging vorzeitig. Heribert Reif hatte seine Zuhörer in seinen Bann gezogen.

KH

Westfälische Kulturkonferenz 2014 in Höxter

Westfälische Kulturkonferenz 2014

Am Freitag, 26. September 2014 fand in der Residenz Stadthalle Höxter die Westfälische Kulturkonferenz 2014 des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe statt. Eröffnet wurde sie von Matthias Löb, dem neuen LWL-Direktor, den Standpunkt der Landesregierung zu Kultur vertrat Ministerin Ute Schäfer, das Engagement des LWL für Kultur erläuterte Dr. Barbara Rüschhoff-Thale, LWL-Kulturdezernentin. Als einer von 387 Delegierten vertrat Klaus Holzer den Kultur Kreis Kamen.

Das Thema der Konferenz war: Wie kann es gelingen, die Bürger an der Kulturplanung und –durchführung zu beteiligen? Ist das überhaupt wünschenswert?

Die zweite Frage wurde eindeutig bejaht, von Ehrenamtlern, Politikern und dem LWL. Ohne eine gleichberechtigte Beteiligung von Bürgern an allen kulturellen Prozessen bleibt Kultur leblos, spielt sich nur in der Nische ab und wird kaum wahrgenommen, kann also auch keine große Wirkung entfalten, da sie eben nicht mehr einfach vorausgesetzt werden kann, wie das beim Bildungsbürgertum noch der Fall war, während heute neue Schichten für Kultur erschlossen werden müssen. Und „gleichberechtigt“ bezieht sich auf alle Institutionen, die sich mit Kultur befassen, also LWL, Politik und Verwaltung in Stadt und Kreis.

Mit der ersten beschäftigte man sich ausführlich. Dazu wurde es als unabdingbar erachtet, aus den gewohnten Denkschemata auszubrechen, was besonders Politik und Verwaltung schwerfällt, gehört dazu doch vor allem, Macht abzugeben, vorhandene Strukturen zu hinterfragen. Es müssen die Potenziale von Künstlern aller Art (Malerei, Skulptur, Musik, Tanz etc.) wie auch von Ehrenamtlichen erforscht und eingesetzt werden. Diese müssen von Anfang an in die Planung eingebunden und an der Umsetzung beteiligt werden. Diese Potenziale müssen weiterentwickelt werden, dabei darf es keine Denkverbote geben. Und vor allem: Stärken müssen erkannt und verstärkt werden. Der Begriff „Kultur” müsse erweitert werden, junge Leute müssen an Kultur herangeführt werden.

Oft bringen Bürgermeister und Verwaltungen das Argument vor, es sei kein Geld vorhanden, die sozialen Kosten, gesetzlich verankert, fräßen Rücklagen auf. So richtig das sein mag, war man sich auf der Konferenz doch einig, daß Sozialkosten nicht gegen Kulturinvestitionen aufgerechnet werden dürfen, weil mehr Kultur ausufernde soziale Folgekosten vermeide. Mehr Bildung und Kultur wirken als Prävention vor späteren sozialen Reparaturkosten (vgl. die NRW-Landespolitik und ihre Begründung für mehr Investitionen in Kindergärten und Schulen).

Um Kulturarbeit zu breiter Akzeptanz zu verhelfen, muß sie sichtbar gemacht werden. Dazu braucht es eine Kulturdatenbank, z.B. vom Kulturamt einer Stadt erstellt, die alle in der Kultur Tätigen erfaßt, die so voneinander erfahren und zur Zusammenarbeit finden können; die den Bedarf an Kultur erfaßt, um Probleme bewältigen zu können (Musiker, Tänzer, bildende Künstler z.B. brauchen einen Proben– oder Malraum); die Transparenz schafft, was erfahrungsgemäß zu weniger Vorbehalten in der Öffentlichkeit gegenüber aller Art von Kultur führt.

Für ganz wichtig wurde der Kulturwirtschaftsbericht gehalten, der, wissenschaftlich begleitet, zu der Erkenntnis beiträgt, daß mehr Ausgaben für Kultur Investitionen sind, die sich auf mittlere Sicht auszahlen, und die nicht konsumtiv sind.

Vertreter der Kulturpolitik und –verwaltung aus vielen Städten, Kreisen und Institutionen waren gekommen, KH war aus Kamen der einzige.

KH

Raum der Erinnerung

„Raum der Erinnerung“

DEZMUS 2

Wir leben in einer globalisierten Welt, in der dem Einzelnen hohe Mobilität abverlangt wird: Wenig ist von Dauer, der Wandel ist stetig. Die früher übliche lebenslange Bindung an eine Stadt, einen Arbeitsplatz, scheint obsolet. Gerade die junge Generation, mit dem Internet aufgewachsen, findet es immer schwerer, Wurzeln zu schlagen. Ihre Welt ist oft nur noch die virtuelle Welt. Es wird immer schwerer, dauerhafte Bindungen einzugehen.

In dieser Situation ist zu beobachten, daß mehr und mehr Menschen offenbar das Bedürfnis haben, sich an ihre Herkunft zu erinnern, sich ihrer zu vergewissern. Es besteht ein starkes Interesse an Familienforschung, der Herkunft und Bedeutung des eigenen Namens, an Heraldik (Familien legen sich wieder Wappen zu) und Stadt– wie auch Regionalgeschichte (Gesprächskreise wie die Kamener Arche oder Bergkamener Zeitzeugen u.a.), Heimat– und Geschichtsvereine haben Zulauf, Archive öffnen sich einer zunehmend interessierten Öffentlichkeit.

Dieser Strömung will der Kultur Kreis Kamen im Rahmen eines Projekts eine Stimme geben. Arbeitstitel:

„Raum der Erinnerung“

(weitere mögliche Titel: „Zeitinseln“ oder „Geschichte/Vergangenheit/Erinnerung im Schuhkarton“)

DEZMUS 1

Hier soll Erinnerung persönlich verstanden werden. Es geht nicht um die „große“ Geschichte wie Kriegserklärungen, Schlachten, das Verhältnis von Staaten zueinander, sondern darum, wie der Einzelne seine Erinnerung an die Vergangenheit mit konkreten Dingen füllt. Das kann sein:

  • eigene oder in der Familie aufbewahrte und weitergereichte Tagebücher
  • Photos
  • verschickte Postkarten (z.B. aus dem ersten Italienurlaub, mit Touropa hingefahren)
  • altes Gerät, das in der Familie eine Rolle gespielt hat (z.B. das Waffeleisen aus der Kindheit, die Wärmflasche usw.)
  • die Fahrkarte des (ersten) Gastarbeiters in Kamen in die neue Heimat oder die für seine (erste) Reise zurück in die alte Heimat
  • die Schreibmaschine, auf der die (erste) Geschichte/das (erste) Gedicht geschrieben wurde, inzwischen durch einen Rechner ersetzt
  • das Glöckchen, das Kinder an Heiligabend zur Bescherung rief
  • Weihnachten, wie es in der Erinnerung fortlebt
  • Familienbräuche im Wandel der Zeit
  • der Koffer, mit dem jemand als Flüchtling in Kamen ankam
  • die Zeitung, die ein besonderes Datum für die Stadt markiert
  • das erste Handy/der erste Rechner und wie sich das Leben dadurch veränderte
  • Schulzeugnisse mit Fächern, die es nicht mehr gibt (z.B. Schönschreiben und ein Heft dazu)
  • das Buch, das einem Soldaten während der Kriegsjahre zum Trost diente, ihm half, zu überleben
  • die Decke, in die jemand als Kind eingehüllt war, als die ganze Familie zusammen mit Nachbarn wegen Bombenalarms ganze Nächte im Keller/Luftschutzbunker zubringen mußte
  • der Brief, den ein ehemaliger Kriegsgefangener oder Zwangsarbeiter an z.B. einen hiesigen Bauern schickte und in dem er ihm für gute Behandlung dankte
  • ein Souvenir aus dem ersten Urlaub

Und immer sind diese Dinge mit wichtigen Augenblicken oder Ereignissen im Leben einzelner verknüpft. Es lohnt sich, den Versuch zu unternehmen, solch einen „Raum der Erinnerung” in Kamen zu schaffen. Genügend Häuser in der Altstadt, die vor dem Verfall stehen, gibt es (vgl. a. gesonderten Artikel „Dezentrales Museum”).

KH

Ein dezentrales Museum für Kamen!

Der Kultur Kreis Kamen regt an, in Kamen ein dezentrales Museum einzurichten. Es gibt in der Stadt Kamen relativ viele Leerstände. Alte Bausubstanz in der Kirchstraße, Weststraße, Oststraße, Nordenmauer, Am Geist und andernorts steht vor dem Verfall, ihr Abriß ist absehbar.

 

Nordenmauer 29 2 Kopie

Dem KKK schwebt ein dezentrales Museum für Kamen vor. Das bedeutet, daß im Museum an der Bahnhofstraße durch die Auslagerung einzelner Abteilungen in leerstehende Häuser in der Stadt Platz für eine bessere Präsentation der umfangreichen Bestände geschaffen werden könnte.

Kirchstraße 10 Kopie

Es ist vorstellbar, daß etwa die traditionsreichen Handwerke in Kamen, z.B. Schuhmacher und Leineweber, je ein eigenes Haus bekommen, wo sie in etwa der alten Art präsentiert werden könnten. Gleiches gilt für die Erinnerung an den Bergbau, die Germanen. Der im Haus der Stadtgeschichte freiwerdende Platz könnte anderweitig genutzt werden, z.B. auch, um aus dem umfangreichen Bestand des Archivs die „Urkunde des Monats“ der Öffentlichkeit vorzustellen. Zusätzlich könnte der Eingangsbereich publikumsfreundlicher gestaltet werden (Café, Museumsladen). Selbst eine Touristen-Information fände noch Platz. Solche Häuser könnten an einzelnen Tagen pro Woche geöffnet sein und während dieser Zeit von Handwerkern, die sich mit alten Arbeitsweisen auskennen, betreut werden. Diese Arbeitsmethoden könnten demonstriert werden, Schulklassen (und andere) würden Dinge erfahren können, die dabei sind auszusterben. Des weiteren lassen sich in diesen Häusern viele weitere Veranstaltungen oder auch Mitmachaktionen für Schulklassen organisieren.

Am Geist 2 Kopie

Es möge hier genügen, darauf hinzuweisen, daß sich noch viele weitere Möglichkeiten ergeben werden, sobald solche Häuser in Betrieb genommen werden. Auf diese Weise könnten vom Abriß bedrohte Häuser in der Innenstadt gerettet und zu Schmuckstücken werden, Leerstände verhindert und mehr Leben in die Stadt gebracht werden. Diese Gebäude könnten eventuell auch Vereinen als Vereinsheime zur Verfügung gestellt werden, z.B. gegen die Auflage, sie zu pflegen und für die im Laufe der Zeit notwendig werdenden Reparaturen zu sorgen, zunächst mietfrei, später gegen eine maßvolle Jahresmiete. Diese Häuser könnten durch die Stadt angekauft werden. Gleichzeitig sollte es gelingen, große Teile der Kamener Industrie und des Handwerks hinter der Idee zu versammeln und sie zu bewegen, die Renovierung zu übernehmen. Durch eine geeignete Konstruktion wären diese Kosten steuerlich absetzbar. Erwünschter Nebeneffekt (oder Voraussetzung?) wäre ein höherer Grad der Identifizierung dieser Unternehmer mit ihrer Stadt Kamen. Im günstigsten Fall führte dieses Vorhaben zu einer breiten Bewegung auch in der Bürgerschaft. Das bedarf großer Anstrengungen seitens aller am Wohle der Stadt interessierten Stellen: Politik und Verwaltung, Vereinen, Gruppierungen und einzelner Bürger. Schwer, aber nicht unmöglich, wenn alle an einem Strang ziehen.

(Photos: KKK)

KH
Der Gedanke „Ein dezentrales Museum für Kamen“ läßt sich wunderbar weiterspinnen. Seit 80 Jahren ist bekannt, daß es in Kamen mit der germanischen Ausgrabungsstätte im Seseke-Körne-Winkel die wichtigste archäologische Fundstätte Nordwestdeutschlands für die Erforschung unserer Vorfahren gibt. Ein Symposion in der Kamener Stadthalle im Jahre 2009 unter der Leitung des heimischen Archäologen Dr. Georg Eggenstein stellte als Ergebnis fest, daß die Ergebnisse aus der Kamener Ausgrabung unser traditionelles Bild vom metsaufenden und keulenschwingenden Wilden dringend revidiert werden muß. Und seit langem ist klar, daß Kamen aus dieser Tatsache ein Juwel des kulturellen Lebens (und des Stadtmarketings) machen könnte. Müßte. Angeregt durch das Bergkamener Vorbild, wo man mehr als 15 Jahre brauchte, bis aus der ersten, belächelten, Idee tatsächlich eine römische Holz-Erde-Mauer entstand, liegen auch in Kamen Vorschläge vor. Der Heerener Ortsheimatpfleger Karl-Heinz Stoltefuß griff die Idee eines dezentralen Museums für Kamen des KKK auf und erweiterte sie um einen dreistufigen Vorschlag, den Seseke-Körne-Winkel zu einem Schwerpunkt der Kamener Geschichtsdiskussion zu entwickeln:

  1. Erstellung einer Sonderschau „Germanensiedlung“ im Dachgeschoß des Museums in der Bahnhofstraße;
  2. Pfostenabsteckung des germanischen Langhauses im Seseke-Körne-Winkel;
  3. Rekonstruktion des Langhauses.

germ. Langhaus Kopie

Photo: Stefan Milk, Hellweger Anzeiger

Der KKK hat bereits einen Schritt getan, um die Ausgrabungsstätte bekannter zu machen und eine Tafel mit der Geschichte und Abbildungen erstellt und das Projekt auf den Weg gebracht. Sie soll am Klärwerk stehen und wird Bestandteil einer Radrundfahrt sein, die zu weiteren historisch bedeutsamen Stellen in und um Methler herum führen wird. Aber alle, die sich an dieser Diskussion beteiligen, sind sich darüber einig, daß am Ende idealerweise der Nachbau des Langhauses stehen muß, und zwar in der Nähe der Originalfundstelle. Das wird jedoch dauern (vgl. Bergkamen). Daher schlägt der KKK als verhältnismäßig leicht zu verwirklichende Zwischenstufe den Nachbau eines offenen germanischen Speicherhauses vor, in dem Modelle des Langhauses, weiterer Gebäude, die bei den Untersuchungen des Geländes im Juli 2014 lokalisiert werden konnten, Kopien von Fundstücken usw. ausgestellt werden könnten. Auf diese Weise würde der Bedeutung des Ortes Rechnung getragen, Spaziergängern und Radfahrern, die heute schon in großer Zahl dort zu finden sind, ein lohnendes Ziel geboten und ein Prozeß in Gang gesetzt, der dazu führen könnte, daß mittel– bis langfristig dort ein Nachbau des germanischen Langhauses stehen würde, als Gegenüber zur Holz-Erde-Mauer auf dem Römerberg in Oberaden. In Bergkamen würde man sich sicher darüber freuen, spielte sich doch zwischen 11 und 8 v.Chr. zwischen diesen beiden Lagern ein reger Verkehr ab. Ohne die Germanen hätte es die Römer dort gar nicht gegeben.

KH

Lothar Kampmann

Lothar Kampmann

„Der bewegte Mensch ist Ausdruck von Leben.“

Bild 00

LK ist sicherlich einer der bekanntesten Kamener Künstler, vielleicht der bekannteste, und dennoch nahm in seiner Heimatstadt niemand Notiz davon, daß sich sein Todestag am 20. Januar 2013 zum 20. Mal jährte.

LK wurde am 11. Juli 1925 in Aachen geboren, wohin seine Mutter extra für seine Geburt von Kamen aus in ihre Heimatstadt zurückgefahren war. Schon während seiner Kriegsgefangenschaft begann er zu zeichnen, zumeist seine Mitgefangenen. 1954 schloß er ein Studium zum Kunsterzieher in Mainz ab und arbeitete auch einige Jahre lang in diesem Beruf. Nachdem er am Aufbau einer fundierten Lehrerausbildung im Fach Kunst maßgeblich beteiligt war, erhielt er erst eine außerordentliche, 1964 eine ordentliche Professur an der Pädagogischen Hochschule Dortmund, die später zur Universität, heute Technische Universität Dortmund, wurde. Er ist der Gründer der Altenakademie Dortmund, die heute noch Bestand hat.

Daß sich Anfang des Jahres niemand seiner erinnerte, erstaunt umso mehr, als sich zu Jahresbeginn wieder einmal eine Kontroverse um sein vielleicht bekanntestes Kamener Kunstwerk, den „Kömschen Bleier“, abspielte: ist er gegenwärtig am richtigen Ort in der richtigen Weise aufgestellt? Oder sollte doch noch ein anderer, besserer Ort gefunden werden, wo er, so wie seinerzeit von LK im Postpark selber, auf einem senkrechten Pfosten, besser für die Allgemeinheit sichtbar würde?

kampmann2p

 

„Kömscher Bleier”, 1968 (links) und 2013 (rechts)

Aber natürlich hat LK nicht nur den Bleier geschaffen, viel breiter ist sein Werk angelegt. Ein wenig davon soll hier vorgestellt werden.

Vielleicht sagt es etwas über uns Kamener aus, daß uns sein Werk so ans Herz gewachsen ist, daß wir uns erst jetzt, 20 Jahre nach seinem Tode, über die richtige Präsentation seines künstlerischen Erbes streiten. Zu seinen Lebzeiten überwog die Freude an seinen Skulpturen und Plastiken, waren sie doch immer auf eine Weise modern, ohne jedoch die von uns allen so vertraute Figürlichkeit aufzugeben.

Exemplarisch läßt sich das an den 16 Plastiken seines „Figurenparks“ in Bergkamen studieren: ihre Größe reicht von unter– bis überlebensgroß; die Übergänge zwischen den Körperteilen sind nicht organisch fließend, sondern deutlich abgesetzt; die Körper sind eckig, nur die Köpfe weisen Rundungen auf. Dennoch erkennt der Betrachter sofort, daß die Figuren lebendig wirken, nicht steif und leblos, auch wenn sie keine Hände und Füße haben.

Bild 3

Großplastik „Trauernde” 1960er Jahre

 

Ganz anders wirkt sein Bronzeenvironment „Bergmannsleben“ in Methler. Diese Figurengruppe erzählt eine Geschichte, ganz in der Tradition der „alten“ Kunst: ein Bergmann wendet sich, als er sein Haus verläßt auf dem Weg zur Arbeit, noch einmal um und winkt seiner Familie zum Abschied zu (oder kommt er gerade zurück von dort und begrüßt er die Seinen?). Das Idyll wird vervollständigt durch seine Eltern, die auf einer Bank am Haus sitzen und ihren Lebensabend genießen. Im Garten steht eine „Bergmannskuh“, auf dem Dach des Hauses sitzen drei Tauben, die Rennpferde des Kumpels. Alle Elemente des Lebens einer Bergmannsfamilie vor 100 Jahren sind hier versammelt.

IF

„Bergmannsleben”, 1981

Hier und in seinen Gitterreliefs erweist sich LK als ein Sammler und

Bild 5

Gitterrelief „Vergangenheit”, 1969

Bewahrer dessen, was die heimatliche Region einmal auszeichnete. Ist es in Methler das überkommene Bild der Bergmannsfamilie, das er bewahrt, so zeigt Südkamen, was LK an Geräten auf Bauernhöfen und in Werkstätten der Heimat gesammelt hat: Hufeisen, Schloß und Schlüssel lange vergangener Türen, Pumpenschwengel, Fuchsfalle, Waffeleisen, Kneifzange, Flachshechel und Pflugschar fügte er zu einem dekorativen Gitter zusammen, das den Betrachter gleich gefangennimmt und in vergangene Zeiten zurückversetzt. Mit seinen öffentlichen Kunstwerken wollte LK bewußt auch das „kulturlose Ruhrgebiet“ aufwerten. So schrieb er anläßlich des 5. Bergkamener Bilderbasars an Dieter Treeck, dessen Idee die bbb waren und der damit, wenn schon der Arbeiter nicht zur Kunst komme, die Kunst zum Arbeiter bringen wollte: „Die Kunst ging zum Betrachter. Das war doch die einfache Grundformel. … „Er (Anm.: der bbb) sollte ein Ort der Grundbildung im Sinne des Wortes sein. Auch eine Stätte der Weiterbildung, Bekanntmachung mit dem neuen Gedanken– und Formengut. Aber er hat sich zur Weiterbildung des Bildungsbürgertums gemausert, mit aller geistig hochmütigen Lukullhaftigkeit. … Lieber Herr Treeck, Ihre Idee vom bbb ist gut wie eh und je. Aber die Künstler haben sich nicht geändert. In zwölf Jahren nichts dazugelernt. … Die Künstler, ich eingeschlossen, haben entscheidend versagt und Sie damit im Stich gelassen.“ LK, der umgängliche Mensch, ein scharfer Beobachter und ein unerbittlicher Kritiker.

LK war unendlich großzügig, wovon seine Freunde und Bekannten mehr als ein Lied singen können. Wo immer er war, zu Hause, zu Besuch, an der Universität, immer hatte er einen Stift, eine Feder, Modelliermasse dabei. Immer zeichnete oder modellierte er, und für gewöhnlich ließ er diese spontan entstandenen Kunstwerke dort als Geschenk zurück, wo er sie gerade angefertigt hatte. Und zu Hause passierte es ihm einmal, daß er gedankenverloren sein Material knetete und formte und plötzlich feststellte: „Mann! Jetzt habe ich die Venus von Milo gemacht! Das geht ja überhaupt nicht!“ Und schuf etwas Neues.

Einmal machte LK sich nach Süddeutschland auf, im Auto eine Mappe mit Arbeiten, die in einer Ausstellung gezeigt werden sollten. Auf halber Strecke machte er bei einem Freund Rast, um dort zu übernachten. Der Freund war neugierig und bat darum, die Zeichnungen sehen zu dürfen. Voller Schreck stellte LK fest, daß er eine Mappe mit leeren Blättern mitgenommen hatte. Die Ausstellung konnte am nächsten Tag dennoch pünktlich eröffnet werden: LK hatte die ganze Nacht gezeichnet und genügend Blätter fertig bekommen. Als sein Freund ihn fragte, wieso er das so schnell könne, war die lapidare Antwort: „Dafür habe ich jahrelang geübt.“

Weitere künstlerische Betätigungsfelder, die aber nicht im öffentlichen Raum zu finden sind, sind seine Ölbilder

Bild 6

Ölgemälde mit Applikationen, 1983

und seine Kleinplastiken, die seine Meisterschaft auch auf diesen Gebieten belegen. Ein immer wiederkehrendes Thema ist der weibliche Körper, nackt oder halbnackt. Seine Kleinplastiken zeigen sie sitzend, kniend, immer anmutig, wohlgestalt und ausbalanciert.

Bild 7

Kleinplastik „Kniende Frauenfigur”, o.J.

Besonders entzücken aber immer wieder seine Rohrfederzeichnungen, auf denen er in wenigen genialen Strichen, stark reduziert, Figuren und Bewegungen erstehen läßt. Wie von magischer Kraft wird der Betrachter hineingezogen in das Bild und sieht plötzlich eine Dynamik, die beim ersten Blick verborgen war.  Und die dazu nötigen Rohrfedern schnitt er sich selber aus Schilf oder Bambus.

Bild 8

Rohrfederzeichnung, ohne Titel, 1964

Und dann gab es noch den großen Didaktiker LK, der Dutzende Bände mit „Anleitungen für bildnerisches Gestalten“ veröffentlichte. Diese wurden in Kindergärten, Schulen und Familien so populär, daß einzelne Bände mehrfach aufgelegt wurden. In einem weiteren Werk faßte LK seine gesamten, umfangreichen Kenntnisse in Technik und Materialkunde zusammen. „Alles will gelernt sein, die Technik des Gehens und Bewegens wie die Technik des Sprechens.“ Und seine Lust zu experimentieren legte er in dem Buch „Aufforderung zum Experiment“ nieder, in dem er beschreibt, wie man neue, unkonventionelle Materialien für künstlerisches Schaffen nutzbar machen kann. Die meisten seiner Bücher wurden in viele Fremdsprachen übersetzt.

Allerdings liegt in seiner Experimentierfreude mit Materialien auch die Ursache für ein Problem, das wir heute mit manchen seiner Kunstwerke haben, da sich erst viel später gezeigt hat, daß seine Materialmischungen nicht immer zeitüberdauernd sind.

Bild 9

Großplastik, ohne Titel, 1960er Jahre

Als LK den Entwurf für die Plastik „Mit anderen Teilen – Weiterführung des St. Martin-Themas“ anfertigte, war es so heiß, daß das Wachs weich wurde, zusammenfiel und seine Form verlor. LK war schon krank und konnte selber kaum noch Hand anlegen. Aber er ordnete sofort an: „Schafft die Plastik aufs Klo! Da ist es kühler.“ Danach mußte sie in die Gießerei nach Gescher geschafft werden und dort wieder aufgebaut werden. Schließlich wurde sie doch  fertig, und so steht sie seit 1992 in Selm-Bork.

Im Rückblick erweist LK sich als ein Künstler, der den Spagat zwischen Bewahrung der Tradition und Vision der Moderne schaffte. Er war ein Künstler, der in seiner Heimat fest verwurzelt war und von daher der Welt aufgeschlossen gegenübertreten konnte, ein Künstler, der die Welt der Kinder erweiterte und die der Erwachsenen bereicherte, denn

„Menschen sind für mich die absolute Wirklichkeit, nie Staffage.“

Bild ZZ2

Portätbüste, Bronze, ohne Jahr

Weitere Kunstwerke, die die künstlerische Bandbreite des Werkes Lothar Kampmanns zeigen:

kampmann3

Holzschnitt, 1971, Weiblicher Torso, Weiblicher Akt (v.l.n.r.)

Frühe Malerei, 1959 (links)

Bild 001

Lothar Kampmann, 1980

Text und Photos: KH

Einige der Informationen wurden der Schrift „1 Bildhauer, ein gewisser Kampmann“ von Georg Eggenstein entnommen, die er anläßlich des 80. Geburtstages von Prof. Lothar Kampmann im Jahre 2005 veröffentlichte.

Die zwei Porträtphotos von LK wurden von Frau Susanna Kampmann zur Verfügung gestellt. Die abgebildeten Kunstwerke (außer den Großplastiken, dem Relief, dem Bergmannsleben und der Porträtbüste) befinden sich in Privatsammlungen.

Helmut Meschonat

Helmut Meschonat

1. HM 2

In die Wiege gelegt war es ihm nicht, als Helmut Meschonat (HM) 1943 in Werries bei Hamm geboren wurde. Und auch als seine Familie 1954 nach Kamen zog, war es nicht absehbar. Zwar malte seine Mutter ein wenig, und beide Eltern hatte Verständnis dafür, daß es ihren Sohn Helmut immer wieder zu Papier und Zeichenstift zog, doch das war so, wie es eben immer ist: Kinder kritzeln gern, nennen es malen.  Augen und Ohren öffnete dem Jungen, der mittlerweile gar nicht schlecht zeichnete, erst sein Großonkel Fritz Heitsch (FH), der zu der Zeit Stadtdirektor in Kamen war. FH (vgl. Artikel über FH unter „Kamener Köpfe“) machte ihn mit Klassik, und seine beiden Söhne Werner und Klaus mit Jazz bekannt. FH zeigte und erklärte ihm Gemälde und Skulpturen bekannter heimischer Künstler – vor allem an Viegener konnte der Junge sich nicht satt sehen – kurz, er öffnete ihm die Welt. Die Welt, die HM für den Rest seines Lebens faszinieren sollte: er wurde musizierender Maler, die Kunst wurde sein Leben.

In dieser Zeit, in den 1950er Jahren, traf er Ulrich Kett und Heinrich Kemmer, beide künstlerisch interessiert, beide schon, wie HM, als Maler aktiv, und tat sich mit ihnen zusammen zur Gruppe „Schierferturm“, in einem Wort geschrieben, weil der Turm der Pauluskirche nicht nur schief war (und ist), sondern zu jener Zeit auch mit Schiefer gedeckt war. Weil die Jungs aber keinen Raum hatten, wo sie malen konnten, geschweige denn ein Atelier, vermittelte ihnen Stadtdirektor FH den Dachboden des damaligen Amtsgerichts (heute Haus der Stadtgeschichte) als Arbeitsraum, den die Gruppe selbst gestaltete.

Aber natürlich gab es nebenher auch ein „bürgerliches“ Leben. HM war 15 Jahre alt und wurde in die Lehre gegeben, wie das damals eben so üblich war. Doch wies die Lehre als Schaufenstergestalter im Kaufhaus Küster (heute Vögele) einen starken Bezug zum Künstlerischen auf, gab es doch keine Firmen, die komplette Schaufenstergestaltungen aus industriell gefertigten Teilen angeliefert hätten. Jedes Schaufenster mußte nach eigenen Entwürfen und mit selbst hergestellten Elementen gestaltet werden. Drei Jahre, von 1958 bis 1960, lernte er das Handwerk und schloß die Lehre erfolgreich ab, ein Jahr später als Uli Kett, der ebenfalls bei Küster gelernt hatte. Und der war es auch, der HM überzeugte, daß sie mehr aus ihrem Talent machen sollten. Sie bestanden, zeitversetzt um ein Jahr, die Aufnahmeprüfung an der Werkkunstschule Dortmund und schrieben sich dort ein. Zur Beruhigung der Eltern gab HM zu Hause an: Ich will Graphiker werden. Sie waren es zufrieden. Das schien ihnen ein Beruf zu sein, von dem man leben konnte.

Also gingen die zwei nacheinander zur Werkkunstschule nach Dortmund, wo sie sich in zwei Semestern die handwerklichen Grundlagen der Kunst aneigneten, die so wichtig sind, will man sich einmal in der Kunst frei bewegen, in der Freiheit von sich selbst auferlegten, selber formulierten Regeln, nicht in der Regellosigkeit, die heute oft mit Freiheit verwechselt wird.

Schon am 4. September 1960 gab es die erste Ausstellung in Kamen in der Pausenhalle der Martin-Luther-Schule. In den Ruhrnachrichten äußerte der Journalist Ulrich Schwarz seine Skepsis, daß die Ausstellung überhaupt Besucher anzuziehen vermöge, weil es moderne, d.h. wohl abstrakte, Kunst zu sehen gebe. Und auf seine Frage, ob HM und seine Freunde erwarten, Gemälde zu verkaufen, bejahen diese natürlich: „Aber nicht, weil es uns um Geld geht, sondern weil das heißt, daß Menschen das, was wir geschaffen haben, so sehr gefällt, daß sie es besitzen möchten.“

In Dortmund entdeckte der Junge, noch nicht einmal zwanzigjährig, endgültig seine Neigung und Begabung für die Malerei. Folgerichtig schloß sich ein zehnsemestriges Kunststudium an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin an, in der Klasse Professor Kuhn. Nach bestandener Abschlußprüfung folgte die Ernennung zum Meisterschüler und zwei Semester Meisterklasse bei Professor Jaenisch. Danach – Glückseligkeit. Ich bin Künstler!

Aber dann das Vakuum: was mache ich jetzt?

Jetzt war HM „fertiger Künstler“. Aber Malen ist, wie alle Kunst, nicht ein Ergebnis, sondern ein ständiger Prozeß, sonst wäre jedes folgende Bild nur ein Abklatsch eines vorhergehenden. Eigentlich beginnt jetzt erst die Suche nach dem persönlichen Stil. HM wollte „modern malen. Aber das ist schwer, und es kostet Anstrengung und Zeit, seinen eigenen Stil zu finden“, wie er selber es einmal zum Ausdruck brachte.

Nach Beendigung eines solchen Studiums kann man dann als freier Künstler arbeiten, doch ist es extrem hart, zu leben, zu überleben. Wer Puccinis „La Bohème“ kennt, weiß, daß es auf Dauer nicht geht, von Luft und Liebe zu leben, es will auch gewohnt und gegessen werden. Ein Brot– und Butterberuf mußte her.

Da traf es sich gut, daß zu der Zeit, nach 68, in allen Kultusministerien Aufbruchstimmung herrschte. Überall wurden neue Schulen gegründet, mehr Lehrer gebraucht, wurde der Fächerkanon erweitert. Wie viele andere zu jener Zeit auch – erinnert sich noch jemand an die „Mikätzchen“? – fand HM, ohne pädagogische Ausbildung, eine Stelle als Kunstlehrer an einer Bochumer Realschule. Inzwischen hatte er Gabi Elger geheiratet, die ebenfalls aus Kamen stammte und in Berlin bei Prof. Kuhn studiert hatte. Beide zogen wegen der neuen Stelle nach Bochum.

Das Dasein als Lehrer für Kunst läßt glücklicherweise Zeit für schöpferische Tätigkeit. Das eigene Malen kam also nicht zu kurz.

Schon als Student (wenn man einmal von der Kamener Zeit absieht) stellte HM aus, sogar noch einmal mit seinen Jugendfreunden aus Kamener Zeit, Uli Kett und Heine Kemmer, in der Galerie Pater in Mailand.

Man stelle sich das einmal vor: drei Kamener Jungs, noch Studenten, stellen ihre Werke in Mailand aus und werden international zur Kenntnis genommen! Ein italienischer Kunstkritiker schrieb damals über HM: „Helmut Meschonat kommt offensichtlich aus dem ersten russischen Futurismus und folgt präzis und ohne Zweideutigkeit einer Tradition. Seine Kompositionen, oft von echten Diagrammen und streng technischen Zeichnungen begleitet, sind enge Verwandte einer Funktionalität, die auf keinen Fall mit der Poesie befreundet ist, so wie wir sonst gewohnt sind, sie zu empfinden, haben auch – was koloristische Durcharbeitung betrifft, fast immer ins Schwarze getroffen. Seine Bilder haben eine vitale Kraft, welche auf jeden Fall den Autor charakterisieren.“

Und der künstlerische Werdegang von HM begann, Gestalt anzunehmen. Als Jugendlicher hatte er, wie seine beiden Freunde auch, alles gezeichnet, was ihm vor die Augen kam, mehr oder weniger realistisch, um Genauigkeit im Detail bemüht. „Wir malten uns durch die Kunstgeschichte.“ Während des Studiums machte die naive  einer reflektierten Herangehensweise Platz. Die Moderne brach auch über HM herein. Abstrakte Malerei war der Ausdruck der Zeit. Wer nicht abstrakt malte, galt als veraltet. HM malte abstrakt. Dann kam skulpturale Malerei auf, mit vielen obskuren Schriftzeichen verziert, etwas bombastisch „skripturale Elemente“ genannt.

2. 1964, Bild 6, Öl auf Lwd., aus der gleichen Serie wie die Skandalbilder in Unna

Abstrakte Malerei von 1964 mit skripturalen Elementen. HM ist auf Formensuche. In Kamen gemalt (HM)

Daraus resultierte der „Gemäldeskandal von Unna“. Der Kreis Unna hatte sich ein „hypermodernes Kreishaus“ (Hellweger Anzeiger) zugelegt und plante, DM 50.000 für Kunst auszugeben (das gab es damals: es sollte 1% der Bausumme für „Kunst am Bau“ ausgegeben werden!), damit die Büros der Mitarbeiter ansehnlich ausgestattet werden konnten, aber er wollte auch „Geld in Kunstwerken anlegen“ (HA, 23.9.1964), bevorzugt von heimischen Künstlern, um sie „ideell und materiell zu unterstützen“ (HA, a.a.O). Unter den angekauften Werken befanden sich auch zwei von HM, die für die Dienstzimmer der Dezernenten bestimmt waren: „Bemaltes Quadrat“ und „Erzählendes Weiß“. Und wie das so geht mit Bildern an der Wand: Betrachter betrachten sie. Und da glaubte plötzlich jemand mit dechiffrierendem Blick und hintergründiger Phantasie Wortgruppen zu erkennen: „Sie A … loch“, „doof“ und „Sie Mistvieh“. Und der Skandal war da! Verstärkt durch das allgemeine Unverständnis für abstrakte Kunst.

meschonat2b

Über diesen beiden Gemälde stritt man sich 1964 wochenlang in der Öffentlichkeit, in den Zeitungen und im Fernsehen (Photos: KH)

Daraufhin stritten Bürger und Politiker, Kreisverwaltung und Öffentlichkeit, Presse und Künstler wochenlang über Kunst, in Rede und Gegenrede, mit Kommentaren und Leserbriefen und in Interviews auch im Fernsehen. Was ist Kunst? Was soll sie? Was kann sie? Ist Kunst wichtig? Ist abstrakte Kunst überhaupt Kunst? Oder muß Kunst figürlich sein? Es wurde erbittert gestritten. Es war wunderbar. Ist das heute noch vorstellbar? Oder eher nicht mehr, weil wir dazu „erzogen“ wurden, daß sowieso „alles geht“? Daß Regellosigkeit zur Regel geworden ist?

Auf die Nachfrage des Autors bestätigt Thomas Hengstenberg, Kulturreferent des Kreises Unna, daß die fraglichen Gemälde noch im Besitz des Kreises Unna sind, jedoch z.Zt. nicht die Büros von Dezernenten schmücken, sondern im Magazin in Cappenberg lagern.

5. 1965, Safe für G., Dispersionsfarbe auf Lwd.

„Safe für G.“ & Photo Safebild X 1965 

6a. 1965, Safebild X, Dispersionsfarbe auf Nessel

1965, Dispersionsfarbe auf Leinwand, HM hat seine Form gefunden: monumental, symmetrisch, frontale Ausrichtung, der individuelle Farbauftrag, das Malerische ist verschwunden. Der Farbauftrag ist jetzt radikal glatt, unpersönlich. In Kamen gemalt. (HM)

6. 1966, Neomat, Dispersionsfarbe auf Lwd.

„Neomat”, 1966, Dispersionsfarbe auf Lwd., Maschinenformen als Bildmotiv, Geräte, das Funktionale unter anderen Aspekten gesehen, modifiziert; wichtig: keine erkennbare Funktion, Querschnitte, „Neomat“ ­- typischer Titel für diese Zeit, in Berlin gemalt. Stilistisch sind die Bilder nicht so direkt einzuordnen. Wenn man so will, auch eine gegenständliche Hard-Edge- Malerei mit kräftigen Farben. (HM)

In diesen abstrakten Gemälden deutet sich aber auch schon der nächste Entwicklungsschritt HMs an. Es sind bereits Formen zu erkennen, die in den folgenden Jahren große Bedeutung gewinnen sollten: seine Serie „Safebilder“ beginnt. In ständig variierten Darstellungen wurde der Safe in den Folgejahren zum zentralen bildgebenden Element in HMs Werken. Und Form wurde HM mit den Jahren immer wichtiger. Der Safe wurde von Maschinenquerschnitten abgelöst; es gab Lackbilder, in denen die dritte Dimension angedeutet wurde; die Darstellungsweise veränderte sich: in die Gestaltung des Himmels und der Wolken zogen Barockelemente ein. Diese Bilder kamen so gut an, daß die Bundesanstalt für Arbeitsschutz in Dortmund sieben von ihnen ankaufte.

7. 1968, Made in W. Berlin, Acryl auf Hartfaser

„Made in W. Berlin“  1968 Acryl auf Hartfaser, Darstellung von Maschinenquerschnitten wieder in der Frontalansicht, Schautafeln, Signalfarben. Ich glaube nicht, dass es sich um Pop-Art handelt. Mit diesen „Made-in …- Bildern“ wurde ich Meisterschüler. (HM)

Die späten 1970er Jahre waren für HM sehr erfolgreich: der damalige Bundespräsident Walter Scheel kaufte eins seiner Gemälde an, zwei wanderten ins Arbeitsministerium nach Bonn, wo sie für Norbert Blüm und Walter Riester bei ihren Interviews mit dem Fernsehen, dem „Spiegel“ und allen anderen den Hintergrund bildeten und so bundesweit bekannt wurden. „HM“ war immer dabei!

8. 1970, Abbildung 8, Lack auf Hartfaser, dieses Bild war u.a. i.d. Villa Hammerschm. ausgest.

„Abb. 8“  1970 Lack auf Hartfaser, Ansicht von Maschinen und Geräten, räumliche Darstellung, keine Schnitte mehr. Wenn man so will, eine Variante der Pop-Art. Eine etwas aufwändige Schabloniertechnik. Kühl und unromantisch. Gemalt in Bochum. Dieses u. andere Lackbilder waren in der Villa Hammerschmidt zu sehen. Begonnen habe ich mit diesen Bildern aber noch in Berlin, 1969. Sie haben immer den Titel „Abbildung …“ Also: die Dinge sind nicht die Dinge selbst, sondern nur Abbildungen. (HM)

1971 wurde seine Frau Gabi Elger (GE) von Frau Heinemann, der Frau des Bundespräsidenten Gustav Heinemann, zu einer Ausstellung in die Villa Hammerschmidt eingeladen. Das Präsidentenehepaar wollte junge Künstlerinnen fördern. Als man aber sah, was GEs Ehemann HM malte, wurde er ebenfalls eingeladen auszustellen. Dahinter stand die Empfehlung des Direktors des Bonner Kunstmuseums.

9. 1972, Siebdruck

„Siebdruck“ 1972 Nr.3.  Die Darstellungsweise der Lackbilder eignete sich besonders für den Siebdruck. 1972 entstanden mehrere Druckauflagen. Eine davon ging später an den Bochumer Kunstverein. Es sind eher Innenräume mit Bildschirmen, Cockpits vielleicht, jedenfalls technische Motive. (HM)

10. 1979, Bild 3, Acryl auf Lwd.

 „Bild 3“  1979 Acryl auf Lwd. Ab 1973 suche ich nach neuen oder anderen Möglichkeiten. Die unpersönliche, präzise Malweise muss beendet werden. Ich will jetzt Maschinen (natürlich!) in der Landschaft malen, romantische Ausschnitte von Landschaft, romantische Lichtführung, oft barocke Himmel und Farbgebungen, davor großen Platz in Anspruch nehmend Maschinen. Die Landschaft wird immer mehr verdrängt. Aus den Maschinen werden dann allmählich Maschinenarchitekturen, Industriearchitektur, immer anonym. (HM)

 Ein Kritiker schreibt dazu 1981: „Bedrohlich, monolithisch, unzerstörbar – so erscheinen die Bilder das Bochumer Künstlers Helmut Meschonat. … Doch die Natur bleibt in den Bildern Meschonats außen vor. Ein Stück düsteren Himmels bleibt sichtbar, die übrige Bildfläche nehmen die festungsartigen Industriebauten ein. Licht, Schatten und die reduzierte Verwendung von Farben verstärken den angsteinflößenden Charakter der Bilder. Dennoch: Keine direkte Aktion geht aus von den Werken, die gemalten Bauten wirken in ihrer versteinerten Ruhe eher archaisch, urzeitlich. Ihre Bedrohlichkeit liegt in ihrer raumgreifenden Kraft, ihrer machtvollen Präsenz. Pyramiden der Neuzeit. Geometrische Burgen der Technik, die verborgen bleibt. Als Industriebauten nur erkennbar an wenigen Attributen: Leitungen, Rohre, fehlende Fenster. … In der Beschränkung auf ein Thema liegt die gesammelte Stoßkraft seines Werkes, das unsere Lebenswelt auf individuelle Art reflektiert und sich aktuellen Kunsttendenzen nicht unterwirft.“

HM war inzwischen so erfolgreich, daß er mehrfach in Münster in den Ausstellungen „Westfälische Künstler“  vertreten war. Daher kannte man seine Arbeit dort. Das führte dazu, daß er eine Gastdozentur an der FH MÜnster erhielt und von 1983 bis 1986 Graphiker und Objektdesigner im Fach „Zeichnerische Darstellung“ unterrichtete.

11. 2005, Bild 2, Acryl auf Lwd.

„2005 Bild 2“  Acryl auf Lwd., immer wieder die gleiche oder ähnliche Thematik. Das Pfeilerelement taucht häufiger auf, auch durch die Perspektive mit drei Fluchtpunkten wirken die Bauwerke teilweise nicht mehr so stabil. Stark reduzierte Farben. Für die Stilrichtung dieser Bilder ab 1975 weiß ich keine Bezeichnung. (HM)

12. 1993, Bild 6, Acryl auf Lwd.

„Bild 6“ 1993  Acryl auf Lwd. Wie Bild 3, 1979. Licht und Schatten. Rätselhaftes Bauwerk, kleiner Naturausschnitt. (HM)

13. 2010, Bild 1, Acryl auf Lwd.

„Bild 1“ 2010 Acryl auf Lwd. Ab 2003 änderte sich teilweise die Sicht. Es sind eher Konstruktionen mit einer Draufsicht. Gebilde, die man nicht einordnen kann. Ab 2010 wird die Konstruktionsordnung aufgelöst und die Pfeiler u. Balken erscheinen eher ungeordnet, teilweise in kräftigen Farben. Es sind keine Bauwerke mehr. Symbole für das von Menschen Geschaffene und Zerstörte. Wie immer Licht und Schatten. (HM)

Danach fand er zu „seinem“ Thema: dreidimensional wirkende, sich selbst tragende „architektonische“ Bilder, auf seltsame Art abstrakt und figürlich-konkret zugleich. Dem Betrachter drängt sich der Eindruck auf, daß ein modernes Bild von HM genau so gut die Darstellung der Balkenkonstruktion des mittelalterlichen Turmhelms der Kamener Pauluskirche sein könnte.

14. 2011, Bild 4, Acryl auf Lwd.

„2011 Bild 4“  Acryl auf Lwd., wie 2010 (HM)

 DSC05377

 Dachstuhl im Helm der Pauluskirche, Kamen. Die Ähnlichkeit ist unübersehbar. (Photo: KH)

HM hat an Dutzenden von Ausstellungen teilgenommen, viele von ihnen juriert, mit hohen Ablehnungsquoten. Viele seiner Gemälde hängen in Privatsammlungen, aber auch in öffentlichen Sammlungen ist er gut vertreten: Stadt Kamen, Stadt Bochum, Senat West-Berlin, Schering AG. Berlin, Kreisverwaltung Unna, Kultusministerium NRW, Sparkasse Bochum, Stadt Düsseldorf, Industrie– und Handelskammer Bochum, Bundesministerium für Arbeit Bonn (jetzt Berlin), Bundesanstalt für Arbeitsschutz Dortmund.

16. 2012 Bild 4 Acryl auf Lwd.

„2012 Bild 4“  Acryl auf Lwd., Rückbesinnung auf Gebäudemotive. Kalte Farben, ab 2014 monochrom, Grau in Grau. Dadurch Konzentration auf die Form. Rätselhafte Bauwerke, deren Funktionen unklar bleiben. Menschen gibt es hier nicht. Stilrichtung? Realismus ist das ja auch nicht. (HM)

Wenn es wahr ist, daß alle guten Maler Bilder erzeugen, die im Gedächtnis bleiben, dann ist HM ein guter Maler. Seine zweckfreien „Bauwerke“ (1993 & 2005), monumental, bedrohlich, in kalten Farben gemalt, in eine unergründliche Tiefe weisend, sind solche Bilder. Bei aller grundsätzlichen Ähnlichkeit jedoch zeigen sie eine Entwicklung, auch wenn diese sich erst auf den zweiten Blick enthüllt. Im Hintergrund sind Grün, wenn auch nur als Silhouette und monochromes Blau, beide in starkem Kontrast zum Bauwerk. 12 Jahre später hat sich dieser Kontrast aufgelöst. Die hellen Farbtöne sind ausschließlich düsteren Farben gewichen, das Grün ist verschwunden, der Himmel nicht mehr monochrom, sondern in dem Gebäude angepaßten Farbtönen wolkenreich–drohend, deutlich barocke Himmelsdarstellungen evozierend.

Bis 2008, bis zum Alter von 65 Jahren, hat HM im Schuldienst gearbeitet. Nie hat er aufgehört zu malen, weniger geworden ist es schon. Er stellt nicht mehr so viel aus, auch geht er nicht mehr in so viele in Ausstellungen.

Dafür hat er jetzt mehr Zeit für sein Hobby. Während all der Jahre hat er nicht vergessen, es zu pflegen: den Jazz. Aber es beschränkt sich nicht auf das Abspielen und Anhören von LPs und CDs. Er ist aktiv. In seinem Zimmer zu Hause in Bochum stehen ein Tenor–, ein Alt– und ein Sopransaxophon, die alle gespielt werden. Dazu kommen eine B– und eine C-Klarinette, die ebenfalls deutliche Gebrauchsspuren zeigen. Seit 40 Jahren spielt er in wechselnden Gruppierungen, erst Dixielandjazz – zusammen mit den beiden Jazzveteranen der „primitiven” Pitt Fey (d) und Nelly Elger (bjo) in der neuen Formation „Six Town Seven” – dann auch andere Formen des Jazz, auch hier ging er mit der Zeit. Und immer noch tritt er mit Freunden ein paar Mal im Jahr zu einer „Mucke“ an, zum Jazzen. Da muß er improvisieren, erfinden, genau wie in seiner Malerei. Aber hier ist er mit anderen schöpferisch zusammen, die Einsamkeit des Malers wird durch die Bindung an das Ensemble ersetzt.

 

17. HM Klarinette

HM als Klarinettist

Auf grundsätzliche Fragen, den Künstler und die Kunst, seine Kunst betreffend, reagiert HM eher unwirsch: „Ich habe jetzt so lange darüber nachgedacht, daß ich gestehen muß: Keine Ahnung. Weiß ich nicht. Interessiert mich auch nicht.“ Und zeigt ansatzweise die Problematik einer solchen grundsätzlichen Fragestellung auf: Die Rolle des Künstlers in dieser Welt? – Aus welcher Sicht? In welcher Welt? – Es gibt nicht DIE Welt. Es gibt auch nicht DEN Künstler. Warum gilt der eine als großer Künstler, der andere nicht? Wer wollte objektiv die Rolle des Künstlers bestimmen?

Aber der Blick auf HMs künstlerische Entwicklung, wie sie sich in seinen Bildern zeigt, läßt schon einen spezifischen Blick auf die Welt erkennen. Zur Zeit des Wirtschaftswunders, als der Lebenszweck vieler Menschen sich in der Anhäufung von Wohlstand oder gar Reichtum erschöpfte, zeigen seine Bilder unterschiedlich große Safes.

Er malt keine Blumen, Natur kommt in seinen Bildern nicht vor. In einer Zeit, die technikgläubig war, glaubte, daß der Mensch sich durch Technik die Welt untertan machen könne, malte er Maschinen, die seine Gemälde dominieren, so wie sie das Leben beherrschten. Der Mensch arbeitete in Schichten, wie eine Maschine, im Rhythmus der Maschine, damit diese ausgelastet war. Der Mensch hatte sich nach der Maschine zu richten.

Und als er sah, wie die Krake Bebauung aus den Städten ins Land hinübergriff, wie immer mehr landwirtschaftliche Fläche mit Industriebauten und Supermärkten zugebaut wurde, eroberten monumentale Gebäude seine Bilder, menschenleer, immer düsterer, hinter denen Landschaft verschwand. Natur war endgültig durch Konstruktion, d.h., Menschengemachtes ersetzt.

So entstand ganz von allein eine „Ästhetik des Trostlosen“. Die Realität hatte sich HM aufgezwungen. Selbst wenn er vielleicht viel lieber Blumen gemalt hätte – es ging nicht.

Und den heutigen Künstlern, die alle Kunst nur als Kunst akzeptieren wollen, wenn sie politisch ist, entgegnet er brüsk: „Nein. Moderne Kunst muß nicht politisch sein.“ Vielleicht gehört HM damit in die länger werdende Reihe der Künstler, die einfach sagen: „Kunst ist da. Sie gehört zur Welt. Ist Teil der Welt. Ist Ausdruck der Welt.“

Aber vielleicht ist das ja dann doch wieder politisch?

KH

(Anm: Alle Photos von Kunstwerken, sofern nicht anders angegeben, stammen von HM selber. Die fett gedruckten Kommentare unter den Kunstwerken hat HM selber geschrieben. Das Porträtphoto und HM als Klarinettist hat HM selber zur Verfügung gestellt. Danke.)

gruppe schieferturm

Die Kamener Künstlergruppe „gruppe schieferturm“

Das Wort „Gruppe“ war Ende der 1950er Jahre beileibe kein so modisches Wort wie heute, da alles und jedes eine „Gruppe“ ist, oft auch eine „Group“. Zuerst nannten sich die drei Kamener Jungs – Heinrich Kemmer (HK), Helmut Meschonat (HM) und Ullrich Kett (UK) – die sich der Kunst widmen wollten, „malkasten schieferturm“, was bestimmt auch damals schon nicht nach Avantgarde klang, eher nach den von allen Schulkindern malträtierten Malkästen, die vor allem von der Firma Pelikan stammten.

schieferturm3

Die Kamener Künstlergruppe „Gruppe Schieferturm“:
Heinrich Kemmer, Helmut Meschonat, Ullrich Kett, 1962

Das Wort „Gruppe“ war Ende der 1950er Jahre beileibe kein so modisches Wort wie heute, da alles und jedes eine „Gruppe“ ist, oft auch eine „Group“. Zuerst nannten sich die drei Kamener Jungs – Heinrich Kemmer (HK), Helmut Meschonat (HM) und Ulrich Kett (UK) – die sich der Kunst widmen wollten, „malkasten schieferturm“, was bestimmt auch damals schon nicht nach Avantgarde klang, eher nach den von allen Schulkindern malträtierten Malkästen, die vor allem von der Firma Pelikan stammten.

Mit „schieferturm“ verbanden die drei auch einen kleinen Scherz, war doch der schiefe Turm der Pauluskirche damals auch schiefergedeckt. Gemeint war der allerdings nicht, sondern eher das kleine, zufällig schiefergedeckte Türmchen am alten Amtsgericht, dem Domizil der Gruppe (s.a. weiter unten). Und weil sie sich eben nicht auf den „Schiefen Turm“ der Pauluskirche beziehen wollten, schrieben sie die beiden Worte in eins, und die Betonung wechselte von der zweiten auf die erste Silbe. Der Namenswechsel von „Malkasten“ nach „Gruppe“ kam dann, als die Ausstellungen anspruchsvoller wurden, die drei im Ausland bekannt wurden.

Diese Gruppe fing bald an, eigene Ausstellungen zu organisieren, und die erste Ausstellung 1959 ist wohl auch ihr Entstehungsdatum unter diesem Namen. UK erinnert sich und kommentiert heute: „Es war die prinzipielle Unbescheidenheit von Laien.“ Organisation verlangt Arbeit, Zeit, Verbindungen, Verhandlungen, für 18jährige eine große Herausforderung. Doch da gab es in ihrem Umfeld Emile Künsch, einen umtriebigen Luxemburger, den es nach Kamen verschlagen hatte.

4. EK Porträt

Emile Künsch, der Manager der Gruppe

Er organisierte gern und nahm sich ebenso gern der Künstlergruppe Schieferturm an. Er sorgte dafür, daß die drei ein Atelier fanden, was umso leichter fiel, als der damalige Stadtdirektor Fritz Heitsch selber künstlerisch tätig war und daher Verständnis für den Nachwuchs hegte.

4. Port. FH

Fritz Heitsch, Stadtdirektor, Künstler, Gönner

So kam die Gruppe dazu, sich den Dachboden des damaligen Amtsgerichts, des heutigen Hauses der Stadtgeschichte, herrichten zu dürfen und verfügte von da an über einen künstlerischen Treffpunkt, der wesentlich dazu beitrug, daß ihre Freundschaft sich festigte (vgl.a. Artikel über Fritz Heitsch).

Eine Ausstellung der Gruppe vom 19. bis 25. Oktober 1964 im Zeichensaal der Glückauf-Schule erregte in zweierlei Hinsicht besonderes Aufsehen.

6. LK Porträt

Lothar Kampmann, Künstler und Förderer

Zum einen kritisierte der Eröffnungsredner, Prof. Lothar Kampmann (LK), die Stadt Kamen heftig, weil sich kein Vertreter von Rat und Verwaltung sehen ließ: „Bei Rassehunde– und Angorakaninchenausstellungen, da glaubt man, die Verbundenheit mit den Arbeitern bekunden zu können. Auch Künstler sind Arbeiter, nur mit dem Unterschied, daß sie auch noch mit dem Kopf was tun.“ Und daß die Stadt die Gruppe mit Geld unterstützt hatte, entlockte ihm nur ein knurriges: „Geld ist das wenigste. Und ich sehe gar nicht ein, daß sich die Künstlergruppe kniefällig für Almosen bedanken muß.“ Und selbst für die großzügige Geste der Stadt durch Stadtdirektor Heitsch, der Gruppe den Dachboden des Amtsgerichts zur Verfügung zu stellen, hatte LK nur einen ätzenden Kommentar übrig: „Das ist ein makabrer Ort, das Dachgeschoß eines Amtsgerichtsgefängnisses. Damit zeigt man, daß die Künstler außerhalb gesellschaftlicher Rangordnungen stehen.“ Immerhin erschienen, wenngleich verspätet, zwei Vertreter der Stadt, Stellvertretender Bürgermeister Hans Achtabowski und Jugendpfleger Edgar Hirt. So nahm die Veranstaltung dann in dieser Hinsicht doch noch ein versöhnliches Ende. Und im Verlaufe der Ausstellungswoche kamen auch noch Bürgermeister Beckmann, Ratsmitglied Fritz Rethage und Oberamtmann Bäcker in die Glückaufschule.

Zum anderen trat Kampmann aber auch einer in der Öffentlichkeit verbreiteten Unkenntnis und einem Mißverständnis entgegen: „Aus allen Länderecken hört man, daß das Gegenständliche wiederkommt, die Befassung mit dem Gegenstand wieder modern wird. Dann ist diese Ausstellung ja unmodern. Dem liegt ein Denkfehler zugrunde. Wer ‚Gegenstand‘ gehört hat, soll ‚Gestalt’ denken, und wer ‚Natur‘ gehört hat, soll sie als Inbild und Abbild verstehen. In den ausgestellten Bildern kommt das Elementarische, das hinter dem hantierbaren Gegenstand steht, zum Ausdruck. Die Künstler wollen nicht den groben, klobigen Gipsabguß oder die Nachzeichnung, damit sind sie nicht zufrieden. Sie befassen sich vielmehr mit der neuen Wirklichkeit, was für den Künstler ebenso schwer ist wie für den Betrachter.“ Er wunderte sich, daß die ausstellenden Künstler überhaupt noch in Kamen zu sehen seien statt in Berlin oder Kassel. „Provinzler können hier nicht kaufen, sondern nur Menschen, die eine künstlerische Tat suchen.“ Kunst war wohl damals wichtig, verursachte sie doch wiederholt breite öffentliche Diskussionen (vgl.a. Artikel über Helmut Meschonat und den „Gemäldeskandal von Unna“)

7. Schietu

von links: Ulrich Kett, Helmut Meschonat; von rechts: Emile Künsch, Dr. Krabs, Kreisdirektor und Förderer der Gruppe, Heinrich Kemmer bei der Ausstellung in Esch, Luxemburg

Freundschaft war die Grundlage der Gruppe, denn es gab keine förmliche Mitgliedschaft. Die drei verbrachten viel Zeit miteinander, sofern sie nicht beruflich getrennt waren. Sie malten, um sich künstlerisch entwickeln zu können, doch vor allem UK war es, der sich auch praktisch nützlich machte. Er malte Plakate! Wo gab oder gibt es das? Seit Toulouse-Lautrec unerhört! Ein Künstler malte jedes der 10 Plakate einzeln, mit wechselnden Motiven und Farben, die in der Regel Konzerte oder Tanztees (so hieß das damals) der recht beliebten Kamener Dixielandband „die primitiven“ (so hießen die wirklich; einen englischen Namen, wie sie schon für Jazzbands in Mode waren, wollten sie nicht) bei Bergheim ankündigten. Ob wohl noch ein paar solcher Plakate existieren? In irgendeinem Partykeller in Kamen? Populär genug waren die Band und UK und seine Plakate.

Und natürlich verbrachten sie nicht nur die Tage miteinander. Kamen war zu der Zeit die Stadt im Ruhrgebiet mit der höchsten Kneipendichte (1 Kneipe auf 260 Einwohner!), und es gab auch etliche eher anrüchige Etablissements. Klar, daß die drei die Kneipenszene nutzten, um realistische Detailstudien zu treiben, aus denen dann abstrakte Gemälde wurden, eine Art neuer, künstlerischer Wirklichkeit. Schließlich malte damals jeder Künstler, der „modern“ sein wollte, abstrakt. Und bei HK geronnen diese zu Skulpturen, die sich „an die alten Wurzeln antiker Bäume anlehnen.“ (Galeriedirektor Kahn zur Eröffnung einer Ausstellung der Gruppe in Dallas, Texas, 1967)

Aber die reale Realität nagte auch an dieser Künstlergruppe. Etwas zeitversetzt begannen HK, UK und HM ihr Kunststudium, erst an der Werkkunstschule Dortmund, dann an der Hochschule, später Universität der Bildenden Künste in Berlin. Nur HK blieb in Dortmund. So konnten sie sich nur noch während der Semesterferien sehen, was natürlich kein kontinuierliches gemeinsames Arbeiten und Gestalten mehr erlaubte. Statt Gruppen– gab es nun vermehrt Einzelausstellungen. Und es kam eine Entfremdung von Emile Künsch hinzu, der dann zu „Emil“ wurde. Allerdings hat sich die Gruppe nie förmlich aufgelöst. Heinrich Kemmer starb am 2. April 2014 in Hamminkeln. Ullrich Kett und Helmut Meschonat sind also eigentlich noch immer die originale „Künstlergruppe Schieferturm“.

Die heutige Gruppe „Künstlerbund Schieferturm“ hat nichts mit der alten Gruppe zu tun, aber der Name ist für eine Kamener Gruppierung wohl zu naheliegend. Die heutige Gruppe „Schieferturm“ hat sich diesen Namen  zugelegt,  wußte vielleicht   nichts vom Original.

Künstler, die mit der alten „gruppe schieferturm“ ausstellten, einige von ihnen mehrmals:

Rolf Birkner, Dortmund
Gabriele Elger, Kamen
Jürgen Gramse, Dortmund
Fritz Heitsch, Kamen
Gerhard Hoberg, Heeren
Gerhard Knoblauch, Berlin
Karl-Heinz Krüger, Fröndenberg
Ludwig Loschek, Kamen
Jörg Poppe-Marquardt, Berlin
Heinz Potthast, Kamen

Frühe Ausstellungsorte waren:

Schulen in Kamen;

In der Burg, Unna;
Galerie Pater, Mailand;
Städt. Galerie Esch, Luxemburg;
Kunst im Turm, Uni Dortmund;
Contemporary Fine Arts Gallery, Dallas, Texas

Gönner „in schwerer Zeit“ (UK):

Dr. Carl Baenfer, Landesmuseum Münster
Prof. Lothar Kampmann, Kamen
Dr. Krabs, Kreisdirektor Unna (ganz besonderer Förderer)
Emile Künsch, Kamen
Fritz Heitsch, Stadtdirektor in Kamen
Horst Schulze Bramey, Stadtbaumeister Kamen

KH

ART KAMEN 2014

ART KAMEN 2014

Internationale Kunstmesse im Kreis Unna

27. + 28. Sept. 2014

Kamener Stadthalle Rathausplatz 2/4, 59174 Kamen

27. Sept., 18-24 Uhr: Kunstnacht

28. Sept., 11-19 Uhr: Kunstmesse

Eintritt: frei!

.

Der Kultur Kreis Kamen ist auf der Kunstmesse mit einem Infostand vertreten.

.

Die Künstlergemeinschaft REFLEX und die Kamener Stadthalle veranstalten

im Herbst 2014 die 8. Auflage der ART KAMEN, die sich mit ca. 70 Künstlerinnen

und Künstlern aus ganz Deutschland und den europäischen Nachbarländern sowie den USA vorstellt. 

.

Weitere Infos:  www.reflex-nw.de

.

PlakatArtKamen2014

Springinsfeld

Ein seltsamer Springinsfeld

Grimmelshausen und seine Bedeutung für Kamen

von Hans-Jürgen Kistner

Eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges ist nicht denkbar, ohne sich mit dem berühmtesten aller Barockromane, dem „Simplicissimus”, zu befassen. Seit langem schon ist der „Simplicissimus Teutsch”[1] zum Inbegriff des deutschen Schelmenromans im 17. Jahrhundert geworden, und das wechselvolle Schicksal seines Helden ist durch die Kunst seines Autors, Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen, Generationen von Lesern lebendig geworden. Schon zu Grimmelshausens Zeit wurde der Roman begeistert aufgenommen und fand weite Verbreitung. Der Roman war erstmals unter dem Titel „Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch” 1668 erschienen. Er erlebte bis 1672 sechs Auflagen und bis heute sind sie – einschließlich der fremdsprachigen Ausgaben – kaum noch zu zählen.

Doch ist Grimmelshausens literarisches Schaffen nicht nur auf den „Simplicissimus” beschränkt. Neben diesem Werk steht noch eine große Fülle weiterer Schriften, die heute zu unrecht wenig bekannt sind. Sie alle aufzuzählen, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. So erschienen 1670 unter anderem der „Trutz Simplex oder ausführliche und wunderseltsame Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin (Landstreicherin) Courasche” und der uns hier interessierende „Der seltzame Springinsfeld” als Rahmenerzählungen zum „Simplicissimus”, sozusagen als Trilogie seiner Kriegsromane. Die Namen der Hauptpersonen der Titel waren im „Simplicissimus Teutsch” schon aufgetreten.

In der farbigen Lebensbeschreibung der „Courasche” begegnen wir in einem erbarmungslos realistischen Portrait einer Frau, die trotz guter Herkunft in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges hineingezogen wird. Sie hat alle Höhen und Tiefen jener Zeit durchlebt und endet als Landstreicherin bei den Zigeunern. Die rasch wechselnden, nie harmlosen Abenteuer dieser Person werden nach dem Muster aller Sittenromane beschrieben. Dieses Stück war quasi als weibliches Gegenstück zum „Simplicissimus” gedacht. Die „Courasche” ist fast so schnell bekannt geworden wie der „Simplicissimus” und ihr Thema ist noch immer aktuell. Die Geschichte der „Courasche” wurde von Bertholt Brecht 1939, vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, in seinem Antikriegs­stück „Mutter Courage und ihre Kinder” verarbeitet.

Über die Bedeutung der Namen seiner Romanfiguren ist schon viel vermutet und spekuliert worden. Der Name des bekanntesten Helden seiner Werke, „Simplicius Simplicissimus”, ist lateinisch. Gelegentlich taucht auch die Kurzform „Simplex” auf. Sie bedeutet einfach, schlicht, ehrlich, offen, arglos etc. So gibt es auch einen Heiligen „Simplicius” der unter dem 29. Juli im Missale Romanum steht. Die Geschwister Simplicius, Faustinus und Beatrix erlitten um das Jahr 305 in Rom den Martertod. Ihre Reliquien soll der hl. Bonifatius nach Fulda gebracht haben, wo sie noch heute verehrt werden. Im königlichen Armeemuseum Stockholm befindet sich eine Reiterstandarte, welche die Schweden 1631 von Fuldaer Reitern erbeutet haben, auf der der hl. Simplicius abgebildet ist. Grimmelshausen war während des Dreißigjährigen Kriegs in Fulda und hat offenbar dort den Stadtheiligen kennengelernt.[2] „Simplicius” als Romanfigur scheint ein Synonym für die Unverdorbenheit zu sein, mit der sein Held als Knabe von ca. 15 Jahren in diesen Krieg hineingezogen wird. Hiermit hat offenbar der Autor auch seine eigene Kindheit gemeint.

Der Name seiner Heldin, „Courasche”, hat einen (eingedeutschten) französischen Klang. Die Nähe zur ‚Courage‘, gleich Mut und Tapferkeit, scheint auch hier Programm, ja Überlebensstrategie, zu sein. Der „Springinsfeld”[3] beschreibt die Geschichte von einem ehemals tüchtigen Soldaten, mit dem sich Simplicissimus in Westfalen befreundet hat. Später erscheint er als ausgemergelter und heruntergekommener Landstreicher. Diese Figur stellt auch das Titelkupfer der Erstausgabe von 1670 dar.[4]

Das Leben von Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen ist nicht in allen Aspekten aufgeklärt. Frühere Forscher haben versucht, seine Lebensgeschichte allein aus seinen Schriften, insbesondere den drei Kriegsromanen „Simplicissimus”, „Courasche” und „Springinsfeld” zu entnehmen. Ja, bis 1838 war er eine unbekannte Person. Nämlich bis zu diesem Jahr galt als Autor für den „Simplicissimus” ein „German Schleifheim von Sulsfort”. Doch dies war nur ein Anagramm[5], mir dem der Autor seinen wahren Namen vorenthielt. Anagramme als Pseudonyme für den Namen „Christoffel von Grimmelshausen” benutzte er für (fast) alle seine Werke. Der Grund lag wohl darin, daß er zur Zeit der Veröffentlichung seiner meisten Werke als bischöflicher Schultheiß im Straßburgischen Gericht Renchen, in Baden, lebte und nicht mit seinen, zum Teil drastischen, Schilderungen bekannt werden wollte. So erschienen die „Courasche” und der „Springinsfeld” jeweils unter dem Autoren-Ana­gramm „Philarcho Grosso von Trommenheim”. Aber auch Erscheinungsorte und Verleger verschlüsselte Grimmelshausen anagrammatisch beim Druck seiner Werke.

Über die Geburt von Grimmelshausen ist nichts Genaues bekannt. Sein Geburtsjahr ist 1621 oder 1622, also einige Jahre nach dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges, gewesen.[6] Als Geburtsort ist Gelnhausen erforscht worden. Die Familie Grimmelshausen gehörte dem thüringischen Adel an. Sein Großvater, der in Gelnhausen eine Bäckerei betrieb, hatte den Adelstitel abgelegt und nannte sich Melchior Christoph (auch Christoffel). Unser Autor nahm nach dem Krieg, als es ihm materiell gut ging, den Adelstitel wieder an. Im September 1634 erobern die kaiserlichen Truppen Gelnhausen. Viele Bürger fliehen vor den brandschatzenden und plündernden Soldaten; so flieht auch Grimmelshausen nach Hanau. Am 25. Februar 1635 erobern die Kroaten Hanau und entführen u. a. auch den Knaben Grimmelshausen. Diese Ereignisse beschreibt er im „Simplicissimus Teutsch”.[7] Erhaltene Kriegsberichte der kroatischen Truppen sprechen von entführten Kindern.

Zwischen Ende 1636 und 1638 muss sich dann Grimmelshausen als einfacher Pferdejunge mit Tross des kaiserlichen Feldmarschalls Graf v. Götz in Westfalen aufgehalten haben. In archivalischen Quellen taucht Grimmelshausen in dieser Zeit aber nicht auf. Im „Simplicissimus Teutsch” kann man den Weg seines Helden über Magdeburg und Wittstock bis nach Soest verfolgen.[8] Dort angekommen, legt sich der Romanheld eine kostbare Kleidung aus grünem Stoff zu, und wird deshalb „der Jäger von Soest” genannt.[9] Als so bekannte Person durchstreift er die nähere und weitere Umgebung Soests und macht reiche Beute. Sein Ansehen steigt immer mehr, man will ihm gar antragen, ein Söldnerfähnlein anzuführen.[10] In Soest lernt er seinen Freund „Springinsfeld” kennen, der ihn von nun an bei seinen Anschlägen und Beutezügen begleitet. Die zu dieser Zeit schwedischen Garnisonen Coesfeld, Dorsten und Lippstadt haben unter seinen Streichen viel zu leiden.[11]

Hier wird der Schriftsteller Grimmelshausen in seiner typischen Art aktiv. Die Abenteuer des Helden in Soest sind natürlich reine Phantasie. Ein „Jäger von Soest” ist in den dortigen Archiven nicht zu finden.[12] Auch dürfte das jugendliche Alter von 15 – 17 Jahren, in dem sich Grimmelshausen damals befand, eine solche Karriere verhindert haben. Seine Kenntnisse der Verhältnisse in Westfalen lassen aber eindeutig darauf schließen, daß sich Grimmelshausen in Soest und der weiteren Umgebung bewegt haben muß.[13]

Dass auch eine Person in Grimmelshausens näherem Umfeld zum Teil der Realität entspricht, konnte vor einigen Jahren vom Kamener Stadtarchiv belegt werden. Die Entdeckung ging von einer Eintragung im ältesten Kirchenbuch der evangelischen Kirchengemeinde Kamen aus. Dort ist unter dem 17. Dezember 1624 folgende Taufeintragung des damaligen Pfarrers zu lesen: „Spring ins Felt des Soldaten Söhnlein ist Hanß Jürgen genanndt”. Wie häufig bei solchen Eintragungen wurde nur der Name des Vaters, nicht aber der der Mutter genannt.

Damit ergab sich für den Finder dieser Kirchenbuchnotiz (und begeisterten Grimmelshausen-Leser) erstmals die Erkenntnis, daß es sich bei dem Namen „Springinsfeld” nicht um einen Spitznamen, sondern um einen realen Familiennamen handelte.[14] Recherchen bei Grimmelshausen-Forschern ergaben den Kontakt zu Genealogen, die nach dem Namen „Springinsfeld” zunächst unabhängig von den Grimmelshausen-Werken forschten.[15] Gesucht wurden auch seit vielen Jahrzehnten Informationen über „Springinsfeld’s Hans”, mit dem Grimmelshausen vielleicht wirklich während seines Aufenthaltes in Westfalen in Kontakt getreten sein könnte.[16]

Jedoch liegen zwischen der Kirchenbuch-Eintragung von 1624 und dem Aufenthalt Grimmelshausens in Soest, etwa 1636 bis 1638, 12 bis 14 Jahre. Bei der Kamener Eintragung war Grimmelshausen selbst erst drei Jahre alt. Im Roman „Springinsfeld” gibt der Titelheld seine Geburt an mit dem Hinweis: „Ich war damals ein aufgeschossen Bürschlin von 17 Jahren… „.[17] Mit „damals” war der Sieg Tillys bei Wimpfen am Neckar, am 6. Mai 1622, gemeint. Danach hatte der Romanheld etwa 1605 das Licht der Welt erblickt. Falls der Romanheld mit dem Kamener Vater wirklich identisch sein sollte, wäre er bei der Geburt seines Sohnes „Hanß Jürgen” etwa 19 Jahre alt gewesen. Ein Lebensalter, in dem man in diesen Zeiten häufiger Kinder in die Welt setzte. Die Mutter seines Sohnes wird sich, wie damals üblich, im umfangreichen Troß der Söldnertruppen aufgehalten haben.

Ende Oktober / Anfang November 1624 besetzen Brandenburgische Truppen die Städte Unna, Kamen und Lünen.[18] Der Soldat „Spring ins Felt” gehörte demzufolge dem Troß der Brandenburger Truppen an. Dies wird auch noch dadurch erhärtet, daß „Spring ins Felt” Protestant zu sein scheint und seinen Sohn bei der evangelischen Kirchengemeinde in Kamen anmeldet. Die verbündeten hessischen und brandenburgischen Truppen stehen auf der protestantischen Seite.

Als „Simplicissimus” in Soest 12 bis 14 Jahre später agiert, gehört er den Truppen der katholischen Liga an und ist im Tross des kaiserlichen Heeres. Somit befindet er sich nicht bei der gleichen Partei, für die sich Springinsfeld 1624 entschieden hatte. Ein Seitenwechsel ist im Dreißigjährigen Krieg jedoch keine Seltenheit. Dies geschah aus verschiedenen Gründen. Zum einen, wenn man in Gefangenschaft geriet, war der Seitenwechsel oft die einzige Überlebenschance. Zum anderen verloren sich in diesem langen Krieg die Ideale; man kämpfte oft nur für den Sold und die Hoffnung, reiche Beute zu machen. Eine ideologische Parteinahme, wie in den Kriegen des späteren 19. und 20. Jahrhunderts (für König und Vaterland, Heldentod etc.), gab es in diesem Krieg fast gar nicht. Werte, Moral und Ideale gab es kaum noch. Das Überleben, mit dem häufigen Wechsel von Überfluss und Entbehrungen, war vor jede Ideologie oder Moral gestellt.

Als sich beide Romanhelden in Soest begegnen, wäre der Roman-Springinsfeld etwa 31 Jahre alt und der in Kamen Geborene etwa drei Jahre jünger als „Simplicissimus”. Beide Alternativen wären denkbar. Jedoch scheint der „Vater” den Vorzug zu bekommen, da der Roman-Springinsfeld schon nach der Schlacht bei Nördlingen, am 7.9.1634, im Gefolge des kaiserlichen Grafen v. Götz hilft, u. a. die Städte Dortmund, Paderborn, Hamm, Unna, Kamen (!), Werl und Soest einzunehmen.[19] Für diese Aufgabe wird ein 10jähriges Kind zu jung gewesen sein.

Auch wenn Grimmelshausen den wirklichen Springinsfeld erst weit nach dem Dreißigjährigen Krieg in der Ruhe des Friedens und Alters kennengelernt haben sollte, ist eine Untersuchung der Verbindung zu Westfalen mit der Person dieses wohl doch recht seltenen Namens schon einer weiteren, intensiven Forschung wert. Dieser Hintergrund war auch der Anlaß, daß das Kamener Stadtarchiv seit 1995 eine Heftreihe herausgibt, die den Namen „Springinsfelt – Kamener Hefte für Geschichte und Gegenwart” trägt.

Literaturauswahl:

Bechtold, Artur: Grimmelshausen und seine Zeit. München 1919.

Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel v.: Ausführliche und seltsame Lebensbeschreibung der Landstreicherin Courasche. Wiesbaden o. J. (Erstausgabe 1670).

Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel v.: Der abentheuerliche SimplicissimusTeutsch und Continuatio des abentheuerlichen Simplicissimi. 2. durchges. u. erw. Aufl. hrg. v. Rolf Tarot. Abdruck der beiden Erstausg (1668/69) mit d. Varianten d. ihnen sprachl. nahestehenden Ausg. Tübingen 1984.

Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel v.: Der seltzameSpringinsfeld. Abdruck der Erstausgabe von 1670 mit den Lesarten der zweiten Ausgabe. Tübingen 1969.

Hohoff, Curt: Johann Jacob Christoph von Grimmelshausen. (rororo Monographien). Reinbek 1995.

Köhn, Gerhard: Der Jäger von Soest. In: Soest. Geschichte der Stadt. Band 3. Soest 1995. S. 865 – 882.

Könnecke, Gerhard: Quellen und Forschungen zur Lebensgeschichte Grimmelshausens. Hrg. v. Jan Hendrik Scholte. Weimar/Leipzig 1926/28.

Kümper, Heinz: Die Stadt Kamen im 30jährigen Krieg. Niedergang und wirtschaftlicher Stillstand für die alte Stadt. In: Heimat am Hellweg. Kalender 1954. S. 85 – 88.

Scholte, Jan Hendrik: Probleme der Grimmelshausen-Forschung. Groningen 1912.

Scholte, Jan Hendrik: Der Simplicissimus und sein Dichter. Tübingen 1950.

Scholte, Jan Hendrik: Westfalen in Grimmelshausens ‚Simplicissimus Teutsch’ 1669. In: Westfälische Zeitschrift. 100. Band. Münster 1950. S. 195 – 207.

Simplicius Simplicissimus. Grimmelshausen und seine Zeit. Ausstellungskatalog. Hrg. v. LWL. Münster 1976.

Stolz, Wolfram: Sein Held war nicht erfunden. Grimmelshausen und Springinsfeld. Freiburg 1983.

Theatrum europaeum oder Außführliche und Wahrhafftige Beschreibung aller und jeder denckwürdi­gen Geschichten, so sich hin und wieder in der Welt … zugetragen haben. 15 Bände. Verlegt durch Matthaeus Merian. Frankfurt 1643 – 1707.

Um Renchen und Grimmelshausen. Hrg. v. Grimmelshausen-Archiv. Renchen 1976.

Anmerkungen:

[1] Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel v.: Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheuerlichen Simplicissimi. 1668/69.

[2] Hohoff 1995, S. 11 – 13.

[3] Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel v.: Der seltzame Springinsfeld. 1670

[4] Siehe Abbildung.

[5] Buchstabenversetzung mit neuem Sinn.

[6] Hohoff gibt als genaues Geburtsdatum den 21.3.1621 an; Hohoff 1995, S. 19.

[7] „Simplicissimus Teutsch”, II. Buch, 15. Kap., S. 137.

[8] „Simplicissimus Teutsch”, II. Buch, 25 – 29. Kap.

[9] „Simplicissimus Teutsch”, II. Buch, 30. Kap., S. 184; Grimmelshausen benutzt den plattdeutschen Begriff „dat Jäjerken”.

[10] „Simplicissimus Teutsch”, II. Buch, 30. Kap., S. 188 ff.

[11] ebenda.

[12] Köhn 1995, S. 873.

[13] Köhn 1995, S. 873, Scholte Westfalen, S. 199 ff.

[14] Über die Herkunft des eigenen Namens sagt der Roman-Springinsfeld lapidar: „Den hat mir die (…) Courage das Rabenas auffgesattelt…”; Der seltzame Springinsfeld, Kap. XIII, S. 73. Recherchen mit einer aktuellen Telefon-CD-ROM ergaben, daß der Name heute in Süd- wie in Norddeutschland mehrfach vorkommt.

[15] Wolfram Stolz: Sein Held war nicht erfunden. Grimmelshausen und Springinsfeld. Freiburg 1983.

[16]  Stolz 1983, S. 14 – 18.

[17]  Der seltzame Springinsfeld, Kap. XII,  S. 66 f.

[18]  Siehe dazu die Kreischronik des Dreißigjährigen Krieges in diesem Heft.

[19]  Der seltzame Springinsfeld, Kap. XVI, S. 85.

HJK

Carl F. Reinhard – Befreiungskriege

„Von der Bahnhofstraße nach Waterloo –
Ein Kamener in den Befreiungskriegen 1813 – 1815“

Ein Vortrag der VHS Kamen-Bönen im Haus der Kamener Stadtgeschichte am 23. Juni 2014 von Hans-Jürgen Kistner

Um es gleich vorweg zu nehmen: Mit dem Kamener ist der Apotheker Carl Reinhard gemeint. Er war vom ersten bis zum letzten Tag in den Befreiungskriegen dabei. Sogar in der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni 1815. Außer ihm waren auch noch einige andere Kamener ausgerückt, aber von Reinhard sind zahlreiche Dokumente und 11 Briefe an seine Mutter erhalten geblieben. Vor allem die Briefe geben ein beredtes Zeugnis über das tägliche Leben als Freiwilliger Fußjäger in jenen Befreiungskriegen. In dieser Zeit vom Spätherbst 1813 bis zum Juni 1815 wird nicht nur die französische Grande Armée besiegt, sondern es veränderte sich die gesamte preußisch-deutsche Gesellschaft. Und dies z. T. nachhaltig bis in unsere Zeit. Aber darauf werde ich später eingehen.

Der Aufstieg Napoleon Bonapartes (1769-1821) begann in der Franz. Revolution von 1789. 1769 auf Korsika geboren, stieg er während der Franz. Revolution in der Armee als talentierter Offizier auf. Vor allem die Feldzüge in Italien (1796-97) und in Ägypten (1798) machten ihn populär und zu einem militärischen wie auch politischen Hoffnungsträger. Dies ermöglichte ihm, durch den Staatsstreich am 9. November 1799 die Macht in Frankreich zu übernehmen. Zunächst von 1799 bis 1804 als Erster Konsul der Französischen Republik und anschließend bis 1814 als Kaiser der Franzosen stand er einem diktatorischen Regime vor. Er hatte sich 1804 selbst zum Kaiser der Franzosen gekrönt.

Durch verschiedene Reformen hat Napoleon die staatlichen Strukturen Frankreichs bis in die Gegenwart hinein geprägt und die Schaffung eines modernen Zivilrechts in den besetzten europäischen Staaten initiiert. Außenpolitisch errang er, gestützt auf die Armee, zeitweise die Herrschaft über weite Teile Kontinentaleuropas. Er war daher ab 1805 auch König von Italien und von 1806 bis 1813 Protektor des Rheinbundes. Durch die von ihm initiierte Auflösung des Heiligen Römischen Reiches wurde die staatliche Gestaltung Mitteleuropas zu einem zentralen Problem des 19. Jahrhunderts.

Zuerst im napoleonischen Frankreich und danach auch in Deutschland, setzte man auf die Idee einer Nationalarmee, oder Volksarmee. Man wollte keine gezwungenen Söldner mehr, die nur aus Angst vor den Offizieren im Kampf verblieben. Der neue Soldat sollte Würde und Ehre besitzen. Sein Charakter und seine Bildung sollten fördernswert sein. Er kämpfte nicht allein, weil er dafür bezahlt wurde, sondern weil er als Angehöriger seiner Nation für deren Sache eintrat. Und damit musste auch der Tod im Kampf verklärt und verherrlicht werden. Zugleich begann der Kult des Unbekannten Soldaten. 1806 in Paris, 1816 in Berlin und 1824 in Wien. Der siegreiche oder aufopfernde Held wurde zur hochstilisierten Kultfigur.

Im Jahr 1805 kam es zu einem Bündnis zwischen Russland, England, Österreich und Schweden gegen Napoleon. Preußen beteiligte sich zuerst nicht daran. Napoleon wandte sich nun gegen Österreich. In der Schlacht bei Austerlitz am 2. Dez. 1805 besiegten die Franzosen das Bündnis.

Das Jahr 1806 besiegelte zunächst auch das Schicksal Preußens, weil es in den Schlachten von Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 vernichtend geschlagen wurde. Am 27. Oktober 1806 zogen die französischen Truppen in Berlin ein. Die preußische Grafschaft Mark, also unsere Region, wurde erst Anfang November 1806 von den napoleonischen Truppen besetzt.

Napoleon war auch ein großer Kunsträuber. So ließ er z.B. nach dem Einmarsch in Berlin, die Quadriga, das Viergespann mit der Siegesgöttin Viktoria, vom Brandenburger Tor entfernen und auf dem Seeweg nach Paris schaffen. Aber auch zahlreiche andere Kunstwerke und Archivalien ließ er nach Frankreich schaffen. Nicht nur die materiellen Werte waren von Bedeutung. Vor allem die nationale Identität der Objekte und Dokumente sollte den besiegten Ländern genommen werden.

Auch Russland, das sich seit 1805 mit Preußen im Krieg gegen Frankreich befand, geriet zunehmend in Bedrängnis. Nach einigen Schlachten erlitten die russischen Truppen in der Schlacht bei Friedland am 14. Juni 1807 eine schwere Niederlage. Zar Alexander I. nahm daraufhin Verhandlungen mit Frankreich auf und erreichte zunächst einen Waffenstillstand. Einige Tage später kam es zu Friedensverhandlungen in Tilsit. In den Tagen des 7. bis 9. Juli wurde von Preußen und Russland einerseits und dem Kaiserreich Frankreich andererseits der „Frieden von Tilsit“ geschlossen.

Das französisch-preußische Abkommen führte zu erheblichen Veränderungen Preußens. Der Gebietsbestand Preußens und die Zahl seiner Untertanen reduzierte sich damit nahezu um die Hälfte. Das preußische Gebiet westlich der Elbe wurde Teil eines größeren napoleonischen „Kunststaates“, nämlich des „Königreichs Westphalen“. Es reichte bis zu einer westlichen Linie von Marburg im Süden bis Meppen im Norden. Westlich davon schloss sich das Großherzogtum Berg an. Napoleon bildete dieses am 15. März 1806. Zur Hauptstadt von Berg wurde Düsseldorf erhoben.

Joachim Murat, ein Schwager Napoleons und späterer König von Neapel, regierte das Großherzogtum von 1806 bis 1808. Von 1808 bis 1813 nahm Napoleon selbst als „Protektor“ die Regierungsgeschäfte wahr. Als Gründungsmitglied des Rheinbundes war das Großherzogtum Berg bereits am 1. August 1806 aus dem Heiligen Römischen Reich ausgetreten.

Per Dekret wurde 1808 das Großherzogtum verwaltungsmäßig in vier Departements (etwa Provinzen: Ems, Rhein, Ruhr und Sieg), zwölf Arrondissements (Regierungsbezirke; im Ruhrdepartement: Dortmund, Hagen und Hamm) und 78 Kantone (Kreise; im Arrondissement Dortmund: die Kantone Dortmund, Bochum, Hörde, Unna, Werne, Lüdinghausen und Sendenhorst) gegliedert. Die kleinsten Verwaltungseinheiten bildeten die Mairien, die Bürgermeistereien. So gehörte die Mairie Kamen zum Kanton Unna im Arrondissement Dortmund im Ruhrdepartement.

Nach der geschichtswendenden Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig, die zwischen dem 16. und 19. Oktober 1813 stattfand, zogen sich die französischen Truppen auf die linke Rheinseite zurück. Das Ruhrdepartement und das Großherzogtum Berg wurden aufgelöst, unverzüglich bildeten sich wieder preußische Herrschaftsstrukturen aus. Im November 1813 ernannte man Gisbert von Romberg zum Landesdirektor der von Preußen rückeroberten Gebiete zwischen Rhein und Weser. Romberg war zuvor Präfekt des franz. Ruhrdepartements gewesen.

Vorausgegangen war der Völkerschlacht der mit unbeschreiblichem Elend und größten Verlusten verbundene Rückzug der „Großen Armee“ Napoleons im Winter 1812 aus Russland. Dieses Geschehen zusammen mit den Ereignissen von Leipzig ließen letztlich den Kampfgeist der napoleonischen Truppen zerbrechen. Sie wurden nun von russischen Einheiten verfolgt und nach Westen getrieben. Auf französischer Seite kämpften nicht nur Franzosen, sondern eine Vielzahl von Männern aus Staaten der napoleonischen Einflusssphäre, so auch zahlreiche aus dem Königreich Westphalen und dem Großherzogtum Berg. Alle diese Staaten waren durch entsprechende Verträge mit Frankreich zum Kriegsdienst in den Kontingenten des Rheinbundes verpflichtet.[1]

Der zögerliche preußische König Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) hatte sich aufgrund der veränderten militärischen Gesamtlage und auf sanften Druck seiner Berater bereits im März 1813 dazu bereit erklärt, in einer Allianz mit Russland, den Franzosen den Krieg zu erklären. In seinem Aufruf „An mein Volk!“ wandte er sich an seine Untertanen, an die „Preußen und Deutsche[n]“, und bat um Unterstützung für den Kampf gegen Kaiser Napoleon.

Der Aufruf, in dem die Einheit von Krone, Staat und Nation beschworen wurde, führte zur Bildung eines Volksheeres, mit freiwilligen Jägerverbänden und Freikorps. Adelige und Bürger begaben sich freiwillig zu den Rekrutierungsstellen und schlossen sich, selbst ausgerüstet, den neu gebildeten Freiwilligenverbänden an. Auch in der Grafschaft Mark traten zahlreiche Freiwillige in die Detachements ein. Darüber hinaus wurde die allgemeine Wehrpflicht für Preußen im Jahr 1813 eingeführt. Sie wurde bekanntlich im Jahr 2011 wieder ausgesetzt.

­­­­­­­­­Die durchziehenden Verbände des russischen Verbündeten verfolgten die napoleonischen Truppen bis nach Paris, das sie im März 1814, unterstützt von deutschen Freiwilligen-Detachements, erreichten. [Das russische Wort „Bistro“ für schnell, soll der Ursprung für das gleichnamige Wort für das Schnellrestaurant gewesen sein].

Der Durchzug der russischen Truppen durch die Grafschaft Mark lässt sich anhand einiger schriftlicher und sächlicher Hinterlassenschaften belegen. Dazu gehören beispielsweise handschriftliche Quittungen von Kosakenoffizieren über den Empfang von Fourage.[2] Diese Quittungen sind zumeist in kyrillischer Schrift gehalten, eine jedoch sogar mit arabischen Schriftzeichen versehen. Sie stammen von bewaffneten muslimischen Krimtataren, die mit den Kosaken verbündet waren. Die Krimtataren sind im März 2014 durch die Krimkrise wieder in Erscheinung getreten.

Auch eine Kosakenblankwaffe aus dieser Zeit, ein sogenannter Jatagan, ist hier im Kamener Museum vorhanden. Neben den sächlichen Überlieferungen sind auch zahlreiche Erinnerungen der Kamener an die Befreiung erhalten geblieben. So schreibt der ev. Kamener Pfarrer Friedrich Buschmann in seiner Stadtgeschichte 1841: „Vom 2. Nov. 1813 bis zum 1. Mai 1814, also völlig ein halbes Jahr, zogen unaufhörlich, blos mit Ausnahme von 6 einzelnen Tagen, Truppenmassen hier durch. Die Belästigung der Stadt, durch diese starken Einquartirungen, war um so größer, weil die Stadt Unna, einer dort herrschenden Viehseuche wegen, gesperrt, und das kleine Camen zum Etappenorte gemacht war. Doch die Camenser nahmen gleich willig die Russen, die Schotten und die Schweden wie ihre Brüder die Preußen auf, und Gott segnete die Vorräthe an Speise, das sie ausreichten.“

Wird an militärische Formationen aus der Zeit der Befreiungskriege erinnert, findet zumeist das berühmte „Freikorps Lützow“ Erwähnung. Das späterhin prominenteste Mitglied war Theodor Körner (1791-1813), ein bis dahin wenig bekannter Schriftsteller und Dramatiker. Dies änderte sich jedoch, als er am 23. August bei Gadebusch in Mecklenburg als Mitglied des Freikorps Lützow mit 22 Jahren im Kampf gegen die Franzosen fiel. Da er zuvor zahlreiche Texte und Lieder gegen die französischen Besatzer gedichtet hatte, wurde er alsbald im kollektiven Gedächtnis insbesondere der preußischen Nation zur verklärten Heroengestalt derBefreiungskriege. Sein bekanntestes Gedicht ist „Das ist Lützows wilde verwegene Jagd“, das er kurz vor seinem Tod geschrieben hatte. Im Kamener Stadtpark wurde für Körner ein Gedenkstein zu seinem 100. Geburtstag 1891 errichtet. Er befindet sich noch dort.

Dieses Gedicht, von Karl Maria von Weber später vertont, wurde für viele Generationen zum Inbegriff deutscher Vaterlandsliebe, des Patriotismus und der Idee, sich für die Nation aufzuopfern. Körner wurde von den Nationalsozialisten hochgeehrt. Wenig bekannt ist heute aber, dass man sich auch seiner Literatur bediente. So schrieb Körner noch im Jahr 1813 das Gedicht „Männer und Buben“ dessen erste Zeile hieß: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los.“ Dieses Zitat verwendete Joseph Goebbels abgewandelt in seiner Rede mit der Frage „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ am 18.2.1943 im Berliner Sportpalast mit den Worten „Nun Volk steh auf und Sturm brich los!“.

Die erste Strophe lautet: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los. Wer legt noch die Hände feig in den Schoß? Pfui über dich Buben hinter dem Ofen, Unter den Schranzen und unter den Zofen! Bist doch ein ehrlos erbärmlicher Wicht; Ein deutsches Mädchen küßt dich nicht, Ein deutsches Lied erfreut dich nicht, Und deutscher Wein erquickt dich nicht. Stoßt mit an, Mann für Mann, Wer den Flamberg schwingen kann!“

Auf dem Weg nach Frankreich zog das Freikorps Lützow Richtung Westen und traf am 10. Januar 1814 mit zwei Eskadrons auf dem Marsch nach Hagen auch in Kamen ein. Eine Kavallerie-Eskadron umfasste im 19. Jh. ca. 150 Reiter und 5 berittene Offiziere. Zeitgenössische Dokumente aus Kamen zeichnen ein äußerst schlechtes Bild von der Disziplin der Lützower, ein Bild, das offenkundig im Gegensatz zum heroischen Lützow-Mythos steht. Der Bürgermeister Reinhard schrieb sowohl an den Landrat David Wiethaus in Hamm als auch an den Präfekten des Ruhrdepartements, Gisbert von Romberg, dass die Soldaten, insbesondere durch den Kommandanten von Lützow, vermöge eines äußerst „ungehobelten Verhaltens“ auffallen und zahlreiche Pferde trotz Vorspannpflicht länger als erforderlich einsetzen würden.

Das politische und militärische Ende Napoleons vollzog sich sozusagen in zwei Akten. Im März 1814 wurde Paris besetzt und Napoleon auf die Insel Elba verbannt, die Freiwilligen wieder entlassen. Im März 1815 kehrte Napoleon jedoch zurück – eingegangen in die Geschichte als „Herrschaft der 100 Tage“ – und stellte wieder eine Armee auf. Anfänglich siegreich, wurde Napoleon am 18. Juni 1815 in der Schlacht bei Waterloo endgültig von englischen Truppen unter Wellington mit Unterstützung preußischer Verbände unter Blücher besiegt. Napoleon wurde auf die Insel St. Helena verbannt, wo er 1821 starb.

Von dem Kamener Apotheker, Carl Friedrich Reinhard (1793-1869), der vom ersten bis zum letzten Tag in den Befreiungskriegen mitkämpfte, sind elf Briefe an seine Mutter erhalten geblieben.[3] Darin beschreibt er sehr detailreich das Leben in seinem „Freiwilligen Detachement zu Fuß, Formation Hamm“. Diese Berichte gehören zu den seltenen Überlieferungen einfacher Freiwilliger der Befreiungskriege. Der bildungsbürgerlichen Schicht zugehörend, konnte er sich jedoch gut ausdrücken und die alltäglichen Nöte und Sorgen beschreiben. In einem der letzten Briefe berichtete er von der Schlacht bei Waterloo (Belle Alliance), an der auch er teilgenommen hatte. Diesen Brief lese ich ihnen am Schluss vor.

Carl Friedrich Wilhelm Reinhard kam am 25. November 1793 als viertes Kind des privilegierten Apothekers Henrich Theodor Reinhard und seiner Frau Clara Johanna Dorothea, geb. Auffmordt, in der Mühlenstraße (heutige Bahnhofstraße) zur Welt. Die Familie Reinhard war von 1774 bis 1818 Besitzer der Adler-Apotheke. Sie wurde 1750 von Johann Gerhard Auffmordt, dem Vater von Carl Reinhards Mutter, als erste Apotheke in Kamen gegründet. Bei seinem freiwilligen Eintritt in das 1. Detachement der freiwilligen Fuß-Jäger am 19. November 1813 war er fast 20 Jahre alt. Er hatte den gleichen Beruf wie sein Vater, Apotheker. Dies war damals noch kein akademischer Beruf.

In den Befreiungskriegen wurde ihm die Position eines Landwehroffiziers angeboten, die er jedoch ablehnte.[4] An dieser Offerte zeigte sich der neue Geist der Zeit. Höhere Positionen gerade im Bereich des Militärs waren zuvor nahezu ausschließlich dem Adel vorbehalten gewesen. Der Staat zeigte sich für das Engagement Reinhards als „Freiwilliger Jäger“ später aber durchaus erkenntlich.

Am 11. November 1813 veröffentlichte der Königlich Preußische Major von Arnim in Hamm einen „Auszug aus den Königlichen Vorschriften wegen Bildung freywilliger Jäger-Detachements“. Darin hieß es:

„1. Jedes Infanterie- und Cavallerieregiment erhält ein Jäger-Detachement.

2. Diese bestehen bloß aus freywilligen, die sich selbst armiren, bekleiden und beritten machen können.

3. Kein junger Mann, welcher jetzt 17 Jahre erreicht, und noch nicht das 24ste zurückgelegt hat, und in keinem activen öffentlichen Dienst steht, kann zu irgend einer Stelle, Würde, Auszeichnung gelangen, wenn er nicht ein Jahr bey den aktiven Truppen oder diesen Jäger-Detachements gedient hat.

[…]

8. Civil-Offizianten [also Beamte], die sich zum Dienst als freywillige Jäger melden, behalten während ihrer Dienstzeit im Jäger-Corps ihre völlige Besoldung, und ihre Collegen sind verpflichtet, deren Geschäfte unentgeltlich zu übernehmen.

9. Die Kleidung der Freywilligen ist dunkelgrün; sie haben die Besoldung der Truppengattung, mit der sie dienen.

10. Die Jäger-Detachements werden zum Dienst der leichten Truppen gebraucht. Ihre vorzügliche Übung ist, ihre Waffen gehörig brauchen zu können.“

Dieser Text wurde im Dezember 1813 in den evangelischen Kirchen der Grafschaft Mark verlesen. So auch in der Kamener Pauluskirche. Durch ein überliefertes „Extract aus dem Verzeichnis der sich freiwillig gemeldeten Jäger“, das auf den 10. Dezember 1813 datiert ist, lassen sich die Namen der Freiwilligen aus Kamen und Umgebung ermitteln. Es handelte sich zunächst um fünf Personen:

„Friedrich von Plettenberg zu Heeren,

Diedrich Denninghoff zu Camen, Fußjäger,

Carl Reinhard zu Camen, Fußjäger, unser Protagonist

Christian Möllenhoff zu Camen, reitender Jäger,

Moritz Friedr. Sprengepiel zu Methler, Fußjäger.“

Vom Bürgermeister wurden die Fußjäger aufgefordert, sich innerhalb von acht Tagen, spätestens bis zum 18. Dezember, beim Hauptmann von Bernuth in Hamm zu gestellen, um dort uniformiert zum Scheibenschießen eingeübt zu werden. Das musste dann in kürzester Zeit geschehen sein. Denn bereits am 28. Dezember 1813, so berichtet Reinhard, marschierte er mit dem Jäger-Detachement nach Holland.

Nach dem ersten Sturz Napoleons bemühte sich die internationale Diplomatie um eine Neuordnung Europas. Währenddessen landete Napoleon am 1. März 1815 in Frankreich und zog am 20. März in Paris ein. Die Verbündeten und damit die Freiwilligen traten erneut zum Kampf gegen Napoleon an.

In einem Aufruf des für Kamen zuständigen Generalmajor Karl Friedrich von Steinmetz[5] vom März 1815 heißt es: „Ich rufe die freiwilligen Jäger zu ihren Fahnen. Die Zeit der Ruhe ist vorüber. Niemand darf säumen. [So hat ähnlich Wilhelm II. den Ersten WK „eröffnet“] Wer im Traume sein Heil erwartet, wird verachtet neben dem vaterländischen Krieger stehen. Bis zum 8. d. Mon. erwarte ich alle braven Jäger montirt und equipirt [also uniformiert und ausgerüstet], so gut es für die Kürze gehen will, hier zu sehen.“

Am 20. März 1815 meldete der Kamener Bürgermeister David Friedrich Reinhard auf Anforderung an den Hammer Kreisausschuss, dass die freiwilligen Jäger aus Kamen: Carl Reinhard, Friedrich Hofius, Friedrich Weeren, Diedrich Denninghoff wieder in die Freiwilligenformation „eingetreten“ waren. Als neuer Gestellungsort fungierte nun Wesel. Von dort aus nahmen die freiwilligen Jäger aus Kamen nach beachtlichen Marschleistungen an den Kämpfen des Jahres 1815 unter Einschluss der Schlacht bei Waterloo teil. Carl Reinhard berichtet in seinen Briefen von seinen Erlebnissen und Eindrücken. Hier also der vorhin angekündigte Brief nach der Schlacht bei Waterloo:

„a Vecne den 23ten Juny 1815

Liebe Mutter

gerne hätte ich Ihnen ehender gleich nach der Schlacht geschrieben. allein nach der gewonnenen Schlacht am 18ten haben wir Tag und Nacht in Frankreich avancieren müssen [nach damaligem Sprachgebrauch für vorwärtsgehen, vorrücken]. Wir sind noch 30 Stund von Paris. Wir haben bis jetzt nach der Schlacht und mit den Gefangenen aus der Vestung Avienne insgesamt 20.000 Gefangene. Die Franzosen hatten 15.000 Tote und Blessierte deren hatten wir auch eine gute Portion und auf dem Schlachtfelde eroberten wir 234 Kanonen und 400 Bagage Wagen und aus der Vestung 60 Kanonen. Jetzt kommt die Nachricht daß auch die Vestung Laon 5 Stund von hier sich ergeben hat.

Sobald der Bote Schmidt kömmt, will ich Ihnen ein näheres über der Schlacht schreiben. Denn wir marschieren jetzt so stark, kommen dann immer im Bivoik und noch dazu bin ich diesen Abend mit noch einem anderen Jäger in Arest gekommen weil wir in einem Dorfe etwas Brod und 2 Hühner requirierten. Dieses thun mehrere Soldaten. Wir wurden nun gerade von fremden Soldaten erhascht und es war streng verboten. [Dazu gleich Zitate von Friedrich Harkort.]

nächstens mehr

geschrieben im Bivoik beym Dorfe Fleuryon auf meinem Schacot[6]

abends 10 Uhr

ich verbleibe

Ihr gehorsamer Sohn

Carl Reinhard“

Nun dazu die Zitate aus dem Buch von Friedrich Harkort, das er 1841 über seine Erfahrungen und Erlebnisse aus den Befreiungskriegen zum Thema der verbotenen Requirierungen veröffentlichte:

S. 195:

„Lebensmittel fehlten, jedoch hatte das erste Regiment theilweise Brodte aufgerafft, welche ermüdetere Truppen beim Vorrücken weggeworfen; Wasser ward aus Fahrgleisen und blutigen Pfützen geschöpft, weil die Brunnen leer, oder die Hebezeuge zertrümmert. …

S. 197:

Eingeäscherte Wohnungen und Ställe mit verbrannten Leichen angefüllt; Zerstümmelte im freien Feld, die Vorübergehenden theilweise um Wasser oder den Tod bittend. Pferde ohne Reiter, im eigenen Blute stampfend, in zertretenen Saaten. … Wahrlich eine große Lehre für jene, so wohlfeilen Ruhm suchen, oder die, so Treiber der Menschheit sind!“ 

Reinhard und die anderen Freiwilligen marschierten Ende Oktober zurück in die Heimat. Von Dortmund aus wurden sie am 30. Dez. 1815 aus dem Dienst entlassen.

Carl Friedrich Reinhard übernimmt als Gastwirt eine Kamener Gaststätte. Es könnte evtl. der Kamener Schützenhof gewesen sein und arbeitet ab 1843 als Gerichtstaxator und Auktionskommissar. Im Jahr 1863 wurde ihm zum „Fünfzigsten Jahrestag des Aufrufs König Friedr. Wilh. III. an sein Volk zu den Waffen“ die „Erinnerungs-Kriegs-Denkmünze für Combattanten für die Krieger der glorreichen Feldzüge 1813, 1814 1815“ nebst Urkunde verliehen; die Verleihungsurkunde hatte der Kommandierende General des 7. Armee-Corps Herwarth von Bitterfeld unterzeichnet. Reinhard heiratete zwei Mal. Aus der ersten Ehe entstammten vier Kinder, aus der zweiten sechs. Carl Reinhard wohnte im Haus Bahnhofstr. 2. Er starb am 10. Juni 1869 im Alter von 75 Jahren

Welches Fazit ist nun aus diesem Teil der deutschen Geschichte zu ziehen? Was ist für uns Heutige noch von Bedeutung?

–          Wir befinden uns (1813-15) im Zeitalter der Romantik. Alles Geschehen wird durch die romantische Sichtweise gesehen und gedeutet. Der „süße Tod für König und Vaterland“ hat plötzlich einen Stellenwert in der Gesellschaft bekommen. Dies wird Teil einer Leitkultur. Wenn man sich nicht damit identifizieren kann, tritt man ab. So Heinrich v. Kleist schon 1811 durch Suizid. Das war auch salonfähig und edel.

–          Der Tod (privat wie patriotisch aufopfernd) wird als verklärender Lebensentwurf zu einem Leitbild für die Jugend.

–          Der Kampf im Krieg für König/oder Führer und Vaterland wird zur Ehrenschuld eines jeden Mannes im entsprechenden Alter. Der „süße Tod fürs Vaterland“ wird zum akzeptablen Schicksal und Ehrenstatus der männlichen Kinder der Familien (bis etwa 1945).

–          Der „Heldentod“ wird bis ins 20. Jh. zum Propagandamittel benutzt und verherrlicht.

–          Die allgemeine Wehrpflicht von 1813 bis 2011 hat das Leben der männlichen Jugend bis vor kurzem noch stark beeinflusst. Heute kann man nur noch freiwillig zur Bundeswehr, auch Frauen. Also gibt es wie in einigen demokratischen Ländern eine Freiwilligen-Armee. Auch hier gilt, wenn auch nicht so propagiert, Sinn für Patriotismus und Aufopferung.

–          Die Befreiungskriege trugen extrem zur Emanzipation des Bürgertums gegenüber dem Adel bei. Nun konnten auch Bürgersöhne Offiziere werden und in alle offiziellen Positionen aufsteigen.

–          Die Hoffnungen auf mehr bürgerliche Freiheiten und Ansätze von Demokratie wurden kurz nach 1815 im Rahmen der Restauration wieder zunichte gemacht.

–          Die Befreiungskriege hatten auch einen einigenden Aspekt. Man wollte ein geeintes Deutschland statt der Kleinstaaterei. Dies sollte aber noch bis 1871 dauern.

–          Auch die Farben des geeinten Deutschlands, Schwarz-Rot-Gold, sollten in den Befreiungskriegen ihren Ursprung finden. Lützower Uniform. Urburschenschaft der deutschen Studenten ab 1815.

–          Viele Intellektuelle, Dichter und Denker glühten in ihren Werken vor Empathie für den Freiheitskampf gegen Napoleon: z.B. Eichendorff, Ernst Moritz Arndt

–          Vielleicht wurde hier der Begriff „Erbfeind Frankreich“ geschaffen, der in drei, z.T. verheerenden Kriegen (1870/1871, 1914-1918 u. 1940-1945) aufreizendes Propagandamittel war.

–          Herfried Münkler, einer der bekanntesten Politologen der Gegenwart, Buch „Der große Krieg 1914-1918“, spricht von einer postheroischen Gesellschaft/en der heutigen Zeit. Der Heldenkult habe nach der Verehrung der Veteranen und Kriegsheimkehrer ihren Sinn verloren. Gerade dies hat ja in den Befreiungskriegen 1813-15 begonnen. Also ist jetzt erst einmal ein Ende gesetzt worden.

Einen ausführlichen Beitrag zu diesem Thema und alle transkribierten Briefe von Carl Reinhard finden sie im Ausstellungskatalog:

„Wider Napoleon!“ Die Geburtsstunde von Demokratie, Emanzipationsbewegungen und nationaler Bewegung im Territorium der Grafschaft Mark (1806-1815). Hrgg. im Auftr. des Vereins für die Geschichte Preußens u. d. Grafschaft Mark – die Museumsfreunde e. V. von E. Trox u. S. Conzen. Lüdenscheid 2013, S. 179 – 206.

Die Ausstellung war eine Zusammenarbeit zwischen den Museen der Stadt Lüdenscheid und dem Fachbereich Kultur des Kreises Unna.

[1] Verzeichnis aller Markaner (damit wurden die Bewohner der Grafschaft Mark bezeichnet) unter den napoleonischen Truppen mit den jeweiligen Schicksalen in: Barich, Fritz: Zur Erinnerung an die Freiheitskriege 1813/15. In: Beiträge z. Gesch. Dtmds. u. d. Gft. Mark, Bd. 23, 1914, S. 367 – 427. Im Folgenden Barich 1914 zitiert. Hier S. 371-391; entnommen dem Amtsblatt Arnsberg, Jahrgang 1820, S. 341-407. Die Liste umfasst die Namen von 420 Markanern. In den Großherzogtümern Berg und Hessen galt das franz. Wehrgesetz in der Fassung v. 1800. Danach waren alle jungen Männer zwischen 20 und 25 Jahren militärgestellungspflichtig. Die Aushebung erfolgte durch eine Konskription der betroffenen Jahrgänge.

[2] StAK Sign. I/0534 Eine dieser Quittungen belegt, dass das 6. russische Jägerregiment im Februar 1814 von der Stadt Kamen 60 Rationen für Offiziere und Pferde empfangen habe. Die arabischen Schriften deuten darauf  hin, dass sogar Krimtataren durch Kamen zogen. So Goehrke 2010, S. 122.

[3] Sie befinden sich, 1992 von einem Nachkommen gestiftet, im Haus der Kamener Stadtgeschichte.

[4] Bereits im Dezember 1813 hatte man Carl Reinhard die Stelle eines Offiziers in der Landwehr angeboten. Das gleiche Angebot machte man ihm am 15. Mai 1815. StAK Sign. I/0602.

[5] Karl Friedrich Franciscus v. Steinmetz (1768-1837), 1814 Kommandant der Zitadelle Wesel, im Juni 1815 kämpfte er als Kommandeur der 1. Brigade im 1. Korps des Generals v. Zieten in den Schlachten von Ligny und Belle Alliance. ADB, Bd. 36, 1893, S. 6-10.

[6] Vermutlich hat er damit seinen Tschako (Begriff aus dem Ungarischen; militärische Kopfbedeckung in zumeist konischer Form) gemeint, auf dessen verbreitertem Oberteil er wohl diesen Brief mangels anderer Unterlagen schreiben musste. Mit dem Dorf Fleuryon ist vermutlich wohl Fleurus (wallonisch „Fleuru“), eine Gemeinde in der heutigen belgischen Provinz Hennegau, Arrondissement Charleroi, gemeint. Von Fleurus aus führten die Franzosen am 16. Juni einen Angriff auf Ligny. Bericht dazu im „Hermann“ v. 14.7.1815, S. 447.

HJK