Westicker Straße

von Klaus Holzer


Frühere Namen: Zur Berger Mühle, Westicker Weg (noch 1929),  Schlachthofstraße (bis in die 1970er Jahre)

Otto Buschmann, der 2015verstorbene Methleraner (er pflegte zu sagen: „Methleraner“ gibt es nicht, aber, ehrlich, wie klingt: „Methlerer“? Und es gibt schließlich auch Münsteraner usw.)  Ortsheimatpfleger, erzählte nicht ungern, wie beschwerlich sein Schulweg in den 1940/50er Jahren war, als er bei jedem Wetter mit dem Fahrrad von Methler nach Kamen in die Schule mußte. Im Herbst und Frühjahr stand das Körnewasser oft so hoch, daß an ein Durchkommen nicht zu denken war. Dann mußten alle den viel längeren Weg über die Lüner Straße nehmen. Nach jedem Hochwasser konnte man in den stehengebliebenen Pfützen Fische fangen, das ging immer leichter, je kleiner die Pfützen wurden.

Und damals war die Westicker Straße nicht befestigt, sondern ein Feldweg, im wesentlichen zwei Fahrspuren, von Pferdewagen ausgefahren, matschig bei Regen, bei Trockenheit staubig.

Schon der Namen „Westick“ erzählt eine Geschichte. Er besteht aus zwei Bestandteilen, „west“ und „wick“, die eine klar umrissene Bedeutung haben. „west“ ist klar, westlich, im Westen von Kamen; „wick“ kommt aus dem lateinischen „vicus“, ursprünglich Hof, Gehöft, im MA eine dorfartige Siedlung, oft als Zubehör einer „villa“, eines Herrenhofes. Westick heißt also „dorfartige Siedlung westlich von Kamen“.

Abb. 1.: Der Kamener Schlachthof vor 1970

Der zu Kamen gehörende Abschnitt von der Koppelstraße bis zum Grenzweg, jetzt Paul-Vahle -Straße, war schon gepflastert und hieß Schlachthofstraße, weil hier der am 14.10.1895 gebaute Schlachthof lag. Der schien damals nötig, weil Kamens Bevölkerung seit dem Beginn der Abteufung der Zeche Monopol 1873 explosionsartig anwuchs und die Hausschlachterei hygienische, d.h., gesundheitliche Risiken bedeutete. Außerdem hatten Hamm, Dortmund und Unna inzwischen eigene Schlachthäuser gebaut, daher bestand die Gefahr, daß in Kamen nur noch minderwertiges Fleisch angeboten wurde. Im Schlachthof gab es tierärztliche Fleischbeschau und Trichinenuntersuchung. Kurz nach seinem 75jährigen Bestehen wurde er abgerissen.

Gleich am Beginn der Schlachthofstraße, in der Nr. 47, lag das 1865 gegründete Kamener Städtische Gaswerk, dessen Werbespruch 1914 lautete: „Wenden Sie dem Petroleum den Rücken … Gasglühlicht ist billiger, bequemer und heller.“ Elektrisches Licht für Privatleute gab es auf Drängen der Zechenleitung erst ab 1921, da man in den Privathaushalten Energiekonkurrenz sah.

Ein Stückchen weiter, gegenüber der Polizeiwache, befand sich die Schuhfabrik von der Heide. Das war eine der vielen alten Kamener Schuhmacherfamilien, aber eine von nur dreien, die es schafften, die Herstellung von Schuhen per Hand über schwierige Zeiten zu retten, eine Schuhfabrik zu gründen und zwei Generationen lang erfolgreich zu führen, bis auch sie vor der modernen Massenproduktion kapitulieren mußte.

Abb. 2: Die Gelb– und Eisengießerei der Gebrüder Jellinghaus

Die Gelb- & Eisengießerei Jelllinghaus, die auf dem Gelände des jetzigen Raiffeisen-Marktes lag, war im Gefolge des neuen Bahnhofs entstanden. Ihr späterer alleiniger Inhaber, Theodor Jellinghaus, war ein Original und so einflußreich, daß er, wenn er einmal mit dem Zug verreisen wollte, gar nicht erst zum nahegelegenen Bahnhof gehen mußte. Er trat einfach vor die Tür seiner Villa, hielt den Zug an, stieg ein und ab ging’s.

Und es gab weitere Ansiedlungen mit „über 400 Arbeitern“ (Pröbsting 1901), die sich alle in der Nähe des Bahnhofs niederließen, obgleich sich die Hoffnungen auf eine grundlegende Industrialisierung Kamens durch den Anschluß an einen „Hafen an einem der bedeutsamsten Ströme Europas“ (Stadtchronist Buschmann) nur zu einem bescheidenen Teil erfüllten.

Abb. 3.: Der alte Milchhof, 1936

Abb. 4.: Der in den 1950er Jahren modernisierte Milchhof

Hinter der Schlachthofstraße, gegenüber dem Bahnhof, ein wenig westlich des Parkhauses, lag Kamens Molkerei, schon im Oktober 1890 gegründet. Sie wurde im Zuge der Umgestaltung Kamens in den 1970er Jahren abgerissen. Hier wurden zu besten Zeiten täglich über 17.000 Liter Milch zu Butter und Käse verarbeitet und als Trinkmilch durch Milchwagen, von Pferden gezogen, bis in die 1950er Jahre zur Kundschaft in Kamen, Bergkamen, Lerche, Königsborn, Südkamen, Methler, Westick, Oberaden, Weddinghofen und Overberge gebracht, täglich 9.000 Liter! Aber auch dieses gehört in die Geschichte des Milchhofes und der Stadt Kamen: von 1929 bis 1933 war Alfred Franzke Geschäftsführer des Milchhofes und der Milchgenossenschaft. 1931 wurde er Ortsgruppenleiter der NSDAP und 1933 Kamener Bürgermeister.

Abb. 5.: Die Berger Mühle an der Körne, im Hintergrund rechts die Zeche Monopol

Auf dem Westicker Weg kam man an der Berger Mühle vorbei, die zum uralten Hof Schulze Berge gehörte (wichtig: ohne Bindestrich, da der Name auf die alte Funktion zurückgeht), und die das Wasser der Körne fürs Mahlen nutzte. Das ging jahrhundertelang gut, wie die alten Mahlbücher beweisen, in die jeder Müller exakt alle gemahlenen Getreidearten und die Mahlmengen eintrug. Neben benachbarten Bauern und Köttern1 ließen später auch Kamener Bergleute gekauftes Getreide dort mahlen.

Abb. 6.: Die alte Körnebrücke

Das fand ein Ende, als die Körne, wie die Seseke, in den 1920er Jahren reguliert wurde. Um das verschmutzte Wasser schneller abfließen lassen zu können, zwängte man Fluß wie Bach in ein Betonsohlschalenbett. Dazu mußte man aber ein neues Bachbett schaffen, was dazu führte, daß die Müller an Seseke und Körne ihre Existenzgrundlage verloren, u.a. Böings Mühle, Hilsingsmühle, Adener Mühle. Pläne, die Berger Mühle als Windmühle weiterzuführen, wurden nicht mehr ausgeführt, das wäre unwirtschaftlich gewesen. Kurze Zeit später (1927?) wurde die Berger Mühle abgerissen.

So spiegelt sich ein ganzes Stück Kamener Industriegeschichte in der Westicker Straße, doch geblieben ist nichts mehr davon, stattdessen ist neue Industrie entstanden, die Westicker Straße entlang, bis zum Hemsack hinüberreichend: Gülde, Vahle, Weller, u.a.

Klaus Holzer

Quellen:

Stadtarchiv Kamen,

H. Craemer, Alt-Kamen im Lichte seiner Orts– und Flurnamen, 7-teilige Artikelserie, veröffentlicht in Zechen-Zeitung der Schachtanlagen Grillo und Grimberg, 1929

Dr. Malten, Festschrift aus Anlaß des 75 jährigen Bestehens des Städtischen Schlachthofes Kamen vom 14.10.1970; hieraus Abb. 1

60 Jahre Molkerei Kamen e.G.m.b.H., Kamen i. Westf. (o.Autor, o.O., 1950); hieraus Abb. 3 & 4

Abb. 0: Klaus Holzer

Abb. 1: Stadtarchiv Kamen

Abb. 2 aus: Dr. Malten, Festschrift aus Anlaß des 75 jährigen Bestehens des Städtischen Schlachthofes Kamen

Abb. 3 & 4 aus: 60 Jahre Molkerei Kamen

Abb. 5 & 6: Ursula Schulze Berge

 

1 Ein Tagelöhner, d.h., jemand, der kein Land besitzt, der eine Kate/Kote, einen Kotten bewohnt

KH