Zum Fall der Berliner Mauer vor bald 30 Jahren: das 15. ZZ des KKK

von Klaus Holzer

Als am 15. Juni 1961 Walter Ulbricht, Vorsitzender des Staatsrats der DDR und Erster Sekretär der SED und damit mächtigster Mann im Staate, auf einer Presskonferenz von einer Frankfurter Journalistin gefragt wurde, ob er die Staatsgrenze der DDR befestigen wolle, antwortete der: „ …. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Selten hatte die Aussage eines Staatsoberhaupts kürzere Lügenbeine. Zwei Monate später begann die DDR, um Ostberlin eine Mauer zu errichten, den Ostteil der Stadt vom Westteil abzuschneiden.

Abb. 1: Checkpoint Charlie, 27. Okt. 1961

Am 21. Oktober 1961 stand die Welt dicht vor einem Krieg zwischen Ost und West, der leicht hätte atomar werden können: 30 amerikanische und 30 sowjetische Panzer standen sich in Berlin am Checkpoint Charlie gegenüber, und die Entscheidung über Krieg oder Frieden lag plötzlich bei den zwei Panzerkommandanten. 24 Stunden Warten, bis beide Seiten ihre Panzer zurückzogen. Immerhin hatte der Zwischenfall aus westlicher Sicht einen Vorteil gebracht: es war damit klar, daß Ostberlin nicht „die Hauptstadt der DDR“ war, wie die Regierung der DDR es immer wieder behauptete, sondern der Sowjetunion unterstand, d.h., immer noch Teil des Viermächtestatus’ ganz Berlins war.

Abb. 2: Die drei Alliierten Führer in Potsdam

(17. Juli – 2. Aug. 1945)

Wie konnte es zu dieser Situation kommen? Nach dem verlorenen Krieg wurde Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt, Berlin entsprechend in vier Sektoren. Von Anfang an war die Berliner Situation besonders schwierig, weil es von sowjetisch kontrolliertem Territorium umgeben war. Weil sich die Lebensverhältnisse zwischen Ost und West weit auseinander entwickelten, und das bezog sich nicht nur auf die wirtschaftlichen Verhältnisse, zog es zunehmend mehr Ostdeutsche in den freien und reicheren Westen. Zwischen 1949 und 1961 verließen rund 2,9 Mill. Menschen den Osten, vor allem gut ausgebildete Arbeiter und Akademiker, die auf beiden Seiten gute Chancen besaßen. Allein im Juli 1961 flüchteten ca. 30.000 Menschen, d.h., etwa 1.000 am Tag im Durchschnitt. Zu einer weiteren Schwächung des Ostens trug das wirtschaftlich voll gerechtfertigte Wechselkursverhältnis der Mark der DDR und der D-Mark (der Deutschen Mark West) bei, das damals 4:1 betrug. So kam es zum Abfluß von Waren und zum illegalen Geldumtausch. Die DDR stand damit vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Da sah das ZK der SED keinen anderen Ausweg als die totale Abschottung seines Landes gegenüber dem Westen, mit Zustimmung der Sowjetunion.

Abb. 3: Bau der Mauer (13. Aug. 1961)

Das Ergebnis war die Berliner Mauer, monströses Symbol barbarischen Denkens. Am 13. August 1968 baute die DDR unter dem Schutz von Volkspolizei und Nationaler Volksarmee eine rund 160 km lange Mauer um Ostberlin, mit 296 Beobachtungstürmen und vielen weiteren technischen Einrichtungen, die „Republikflucht“ verhindern sollten, zusätzlich zu der 1.360 km langen Zonengrenze. Ein Land mauerte also seine Bürger ein, machte sie zu Gefangenen im eigenen Land, nahm ihnen viele Rechte, Dinge, die im Westen längst selbstverständlich waren und offenbar ein menschliches Grundbedürfnis darstellen. Das Ergebnis: ca. 180.000 DDR-Bürger flohen trotzdem in den Westen, an der Berliner Mauer wurde eine nicht genau bekannte Zahl an Flüchtlingen getötet, man schätzt zwischen 130 und 269. Der Drang nach Freiheit und besserem Leben läßt Menschen alles riskieren.

Abb. 4: Tote an der Mauer (17. Aug. 1961: Peter Fechter)

In dieser politisch auf Dauer unerträglichen Situation kam es in den Folgejahren auf Grund verschiedener politischer Initiativen und Verträge zu einer gewissen Entspannung zwischen Ost und West. Hier ist vor allem Willy Brandts Ostpolitik zu nennen. Einen wichtigen Augenblick gab es am 12. Juni 1987, als der damalige US-Präsident Ronald Reagan bei einer Rede an der Mauer die Worte sprach: „Mr Gorbachov, tear down this wall.“ Was aber damals niemand ernst nahm. Reagans Worte wurden als bloße Pflichtübung verstanden.

Abb. 5: Ronald Reagan: „Mr Gorbachov, tear down this wall.“

Dann aber kam es kurz vor dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR im Sommer 1989 in vielen Großstädten Ostdeutschlands zu Massendemonstrationen, auf denen die Menschen Reisefreiheit für alle forderten, auch das Recht, in den Westen zu reisen. 

Der Drang der Ostdeutschen, endlich frei zu sein, wurde immer stärker. Vor allem in Leipzig versammelten sich mehr und mehr Menschen auf den Straßen und protestierten gegen das SED-Regime. Als Katalysator fungierte hier besonders die Leipziger Nikolaikirche, die zu jener Zeit bereits eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Unzufriedenen hatte. Schon lange vorher hatte ihr Pastor Christian Führer damit begonnen, zu Fürbitten für die vielen von der Stasi Verhafteten einzuladen. Trotz der Repressalien der Behörden nahm die Zahl der Teilnehmer beständig zu. Am 9. Oktober 1989 wurde die Nikolaikirche zum Ausgangspunkt für die Demonstration der 70.000 in Leipzig, der „Friedlichen Revolution“. Ohne die Kirchen der DDR und ihr Angebot, Sicherheitsraum zu sein, wäre es wohl nicht zu einem gewaltfreien Ende der DDR gekommen. Die Deutschen mögen nie eine richtige Revolution hinbekommen haben, aber sie sind die einzigen auf der Welt, die dafür eine friedliche Revolution geschafft haben.

Abb. 6: Leipziger Montagsdemonstration (9. Okt. 1989)

Es gab für DDR-Bürger zwar Sonderreiseregelungen für Rentner und Verwandtenbesuche im Westen, doch allgemein waren Reisen selbst für privilegierte DDR-Bürger nach außerhalb der DDR nur in die „sozialistischen Bruderländer“ erlaubt. Dorthin waren im Sommer 1961 viele tausend DDR-Bürger gereist, vor allem in die Tschechoslowakei und nach Ungarn. Da sich große Menschenmassen weigerten, in die DDR zurückzufahren, ergab sich für die beiden Länder ein Problem, das sie schließlich lösten, indem sie ihre Grenzen nach Österreich öffneten. Das Ergebnis war eine Massenflucht in den Westen. Und der Druck auf die DDR erhöhte sich weiter. Das ZK der SED erließ daraufhin eine Regelung für die ständige Ausreise.

Abb. 7: Ungarn öffnet die Grenze zu Österreich (19. Aug. 1989)

Und jetzt erhielt die Situation eine gewisse Eigendynamik, nicht ohne Elemente einer Burleske. Diese Regelung sollte am 10. November 1961 frühmorgens veröffentlich werden. Davon wußte aber der zuständige Sekretär für das Informationswesen des Zentralkomitees der SED, der ehemalige Journalist Günter Schabowski, nichts. Er hatte die Informationen über die ZK-Sitzung für eine Pressekonferenz am Vorabend von Egon Krenz, dem Nachfolger Erich Honeckers als Staatsratsvorsitzender seit dem 6. Oktober 1989 erhalten. Es gibt wohl keine zweite an sich so unbedeutende Situation in der Geschichte, die derartig große politisch-historische Bedeutung erlangt hätte. Dabei ereignete sich eine, fast möchte man sagen, Slapstick-Einlage.

Als Schabowski gefragt wurde, wann die neue Reiseregelung in Kraft trete, schaute er eher hilflos auf seine Notizen und antwortete dann: „Nach meiner Kenntnis ist das … sofort … unverzüglich.“ Weil diese Pressekonferenz sowohl über West- wie auch Ostrundfunk direkt übertragen wurde, sprach sich seine Ankündigung sofort herum. Tausende Ostberliner strömten zu den Grenzübergängen und wurden durchgelassen, weil die Grenzpolizisten keine Befehle hatten, wie zu reagieren war, und weil der Druck durch die Massen auf sie zu hoch wurde. Der Sog der Freiheit war zu groß, als daß er hätte gestoppt werden können. Aus zwei Ländern wurde eins.

Abb. 8: Menschenmassen am Grenzposten

Wie reagierte das Ausland, vor allem der Westen, darauf? Man sollte annehmen, daß allerorten Begeisterung herrschte. Erinnern wir uns aber an 1961: Der US-amerikanische Präsident John F. Kennedy, der wenige Tage nach dem Mauerbau bei einer Rede in Berlin die Worte sprach: „Ich bin ein Berliner“ und damit so große Begeisterung auslöste, daß dieser Satz immer noch als geflügeltes Wort gilt und in vielerlei Abwandlungen seither verwendet wurde, sagte gleich nach dem Mauerbau im Kreis seiner Berater: „Eine Mauer ist verdammt noch mal besser als Krieg“. Und Harold MacMillan, der britische Premierminister sagte öffentlich:„Die Ostdeutschen halten den Flüchtlingsstrom auf und verschanzen sich hinter dem eisernen Vorhang. Daran ist an sich nichts Gesetzwidriges“. Nach westlicher Solidarität klang das wahrhaftig nicht. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß das alles sich erst 16 Jahre nach Kriegsende ereignete – es muß schon befremden.

Abb. 9: „Öffnung des Eisernen Vorhangs”, Plastik von Wolfgang Dreysse, Quedlinburg, aufgestellt in Hameln

Und nach dem Fall der Mauer gab es ebenfalls nicht ungeteilte Begeisterung, außer, dieses Mal, beim amerikanischen Präsidenten George H. Bush, der die deutsche (Wieder)vereinigung vorbehaltlos unterstützte. Der französische Premierminister François Mitterrand hielt den deutschen Wunsch nach Vereinigung für legitim, hatte aber große Angst vor der deutschen wirtschaftlichen Macht. Sein Landsmann François Mauriac ist für seinen Ausspruch bekannt: „Ich liebe Deutschland. Ich liebe es so sehr, daß ich zufrieden bin, weil es gleich zwei gibt“. Die britische Premierministerin Margret Thatcher mußte von ihrem persönlichen Berater ermahnt werden, zum Jahrestag der Vereinigung die Worte „Freund, Verbündeter und Partner“ zu verwenden. Und am 3. Oktober 1990 erhielt sie die schriftliche Empfehlung eines weiteren Beraters: „Wir sollten nett zu den Deutschen sein“. Sie selber hielt uns für „toads“, die zwielichtige, angeberische Kröte aus dem in England überaus bekannten Roman „The Wind in the Willows“ von Kenneth Grahame. Beide, Mitterrand und Thatcher, beknieten Gorbatschow, er möge es nicht zu einem vereinten Deutschland kommen lassen.

Abb. 10: Die erste frei Wahl in der DDR (18. März 1990)

Demokratie heißt, die Wahl zu haben; die Wahl zu haben heißt, Freiheit zu haben. Mit dieser Freiheit übernehme ich aber auch die Verantwortung für mich und mein Tun. Frei zu sein, ist nicht einfach. 

Abb. 11: Gorbatschow stimmt der NATO-Mitgliedschaft Deutschlands zu (15. Juli 1990)

Deutschland mußte sich jedenfalls erst in seine neue Rolle finden. Bis dahin war es ein „wirtschaftlicher Riese“, jedoch ein „politischer Zwerg“ gewesen. Die alte Bundesrepublik hatte sich bequem im Viermächtestatus eingerichtet, sich unter dem amerikanischen Atomschirm zwar eine relativ große Wehrpflichtarmee gehalten, die aber ausschließlich Verteidigungsaufgaben im eigenen Land erfüllen sollte, auf der großen politischen Bühne überließ sie gern den alten Siegermächten das Wort, verwies in allen Konflikten auf seine belastete Vergangenheit und hielt sich heraus, rief manchmal leise von unter dem Tisch her: „Hallo. Ich möchte dabei sein.“ Aber jetzt mußte es an die Verantwortung ran: „Wir können uns unserer Verantwortung nicht entziehen. Das ist der Grund, warum deutsche Soldaten zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in einem Kampfeinsatz (auf dem Balkan) stehen”, erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) im Bundestag im Oktober 1998.

Und heute erleben wir die Fortsetzung: Soll, muß Deutschland seinen Verteidigungsetat auf 2% seines Haushalts erhöhen, so wie es sich 2014 in Wales und 2016 in Polen verpflichtet hat? Und wie es Trump immer wieder fordert, wodurch es vielen bei uns leicht fällt, dieses Ziel abzulehnen, weil man Trump ablehnt. Freiheit heißt eben auch, Verantwortung zu übernehmen.

1989 fiel die Mauer, 1990 vereinigten sich die beiden Teile Deutschlands zu einem Land. Nur wenige ahnten, welche Schwierigkeiten diese Vereinigung mit sich bringen würde. Was nicht verwundert, gab es doch keinen Präzedenzfall. Niemand hatte vorher aus zwei Ländern eins gemacht, noch dazu mit so extrem unterschiedlichen politischen Systemen. Ein neues Deutschland, das seinen Bürgern Freiheit bot, etwas, das den einen selbstverständlich geworden war, an das die anderen sich erst noch gewöhnen mußten. Daß nicht gleich alles so lief, wie man sich das vorgestellt hatte, belegt ein Ausspruch einer führenden DDR-Dissidentin, die später auch am Runden Tisch eine gewichtige Rolle spielte: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“

KH

Bildquellen: Abb. 1 – 8 und 10 & 11: Bundesarchiv; Abb. 9: Photo Klaus Holzer